Jewgeni Jewtuschenko: Poesiealbum 69

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jewgeni Jewtuschenko: Poesiealbum 69

Jewtuschenko/Eichhorn-Poesiealbum 69

UNINTERESSANTE MENSCHEN GIBT ES NICHT

Uninteressante Menschen gibt es nicht.
Jeder hat seine Geschichte, sein Gesicht,
das nur ihm gehört. Ein jeder ein Planet:
So reich, und keiner, der ihm gleicht. Versteht:

Auch wenn einer unauffällig lebt,
der nichts als Unauffälligkeit erstrebt,
ist er unter allen andern dann
durch seine Unauffälligkeit interessant.

Jeder hat seine geheime Welt,
von einem schönsten Augenblick erhellt,
von einem schrecklichsten Tag versehrt:
und allen andern ist sie ganz verwehrt.

Und wenn ein Mensch stirbt, stirbt mit ihm
sein erster Schnee aus jener grauen Früh,
sein erster Kuß nachts und sein erster Zorn:
und all das nimmt er mit sich fort.

Bücher bleiben uns und Brücken, Kram
und Maschinen, Leinwände, gut gerahmt
Geschmeide und Gelumpe – vieles bleibt:
und alles andre zerfällt mit seinem Leib.

Das ist das Gesetz dieses rohen Laufs,
nicht Menschen sterben: Welten hören auf.
Wir weinen ihnen eine Träne nach
und erkannten sie nicht am hellen Tag.

Was wissen wir vom Bruder und vom Freund,
von ihr, die nah uns ist und ferne träumt!
Vom eignen Vater, Gesicht gegen Gesicht,
wissen wir, alles wissend, nichts.

Die Menschen gehen fort… Dann sind sie fort.
Ihre Welten sind ein toter leerer Ort.
Und jedesmal, und denk ich dein,
möchte ich über dieses Ende schrein.

Übertragen von Volker Braun

 

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Jewtuschenko

steht in der Tradition einer sozialkritisch unmittelbar engagierten publizistischen Poesie. Lust an der Veränderung und Zorn über die beharrende Kräfte in der Gesellschaft – beides gleich ungeduldig und unduldsam formuliert – bestimmen die poetischen Gelegenheiten dieser Dichtung. wo sie der entschiedenen Anstrengung auf die poetische Idee hin unterworfen werden, entstehen seine guten Gedichte.

Fritz Mierau, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1973

 

Jewgeni Jewtuschenko 70

Glückwunsch

Kein Zweifel: Der russische Lyriker Jewgeni Jewtuschenko wird dermaleinst in den Himmel kommen, und zwar eines einzigen Gedichts wegen. Es beginnt mit dem Vers „Über Babi Jar steht kein Denkmal“ und löste damals, 1961, in der Sowjetunion einen Skandal aus. Über den Massenmord, den die Deutschen in der Schlucht von Babi Jar an tausenden Juden verübt hatten, wurde nämlich offiziell nicht gesprochen. Jewtuschenko brach das Schweigen. Und er wagte, in seinem Gedicht beim Namen zu nennen, dass es in der Sowjetunion längst wieder einen ausgewachsenen, knurrenden, geifernden Antisemitismus gab.
Nein, Jewtuschenko ist kein Jude. Er wurde 1933 in der Nähe von Irkutks geboren, ein echter Sibiriak. Als er 20 war, starb Josef Stalin, es war das prägende Erlebnis in Jewtuschenkos Leben. Zusammen mit seiner ersten Frau, der Dichterin Bella Achmadulina, wurde er zum Autor des „Tauwetters“, der Entstalinisierung. Freilich war er eine zwielichtige Gestalt: milde frech gegen die Obrigkeit, doch gleichzeitig privilegiert. Nie wagte er den Bruch mit der Staatspartei. Immerhin, gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei (1968) und die Ausweisung von Alexander Solschenizyn (1974) hat er öffentlich protestiert. Ist er ein großer Dichter? Kaum. Doch gelang es ihm, mit seinen wirkungsvollen Versen ganze Sportstadien zu begeistern. Und für sein Gedicht über Babi Jar wird Jewtuschenko, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, dermaleinst in den Himmel kommen.

Hannes Stein, Die Welt, 18.7.2003

Jewgeni Jewtuschenko

Dichter. Eine Schlüsselfigur der Tauwetter-Periode in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals sorgte er, zusammen mit Robert Roschdestwenski, Bulat Okudschawa und anderen Dichtern, für volles Haus in der Großen Aula des Polytechnischen Museums. Heute noch trägt er dort jährlich seine Gedichte vor. Seine erste Frau war die Dichterin Bella Achmadulina. Mit 20 Jahren, gleich nach der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbuchs, wird er zum jüngsten Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR, der damals eine Elite-Organisation war. Die Einen bewunderten die Kühnheit seiner Äußerungen, die Anderen verwarfen mit Entrüstung das staatsfreundliche Pathos seiner Strophen. Von ihm stammt der Spruch: „Ein Dichter in Rußland ist mehr als nur ein Dichter“, der bei Spottvögeln auf nachhaltiges Interesse trifft, indem sie das Wort „Dichter“ durch beliebiges anderes Wort ersetzen, wodurch jedesmal ein neuer Aphorismus entsteht.
Heutzutage ist Jewtuschenko Dichter, Prosaiker, Publizist, Drehbuchautor und Filmregisseur, dessen Verehrer vergleichbar zahlreich wie seine Gegner sind. Letztere bemängeln an ihm vor allem die Fähigkeit, sich unter jedem Regime mit den Behörden zu vertragen. Und daß, obwohl es in Rußland kein Ereignis gegeben hat, von der Entstalinisierung bis zum Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei, zu dem er nicht Stellung genommen hätte.
Der Vater von Jewgeni Jewtuschenko, der Geologe Alexander Gangnus, wurde im Laufe der Kampagne gegen die Sowjetdeutschen erschossen, wegen angeblicher Spionage für Lettland.
Jewtuschenko wurde 1932 an der Bahnstation Simá in Sibirien geboren. Von Kindesbeinen an hielt er sich für einen Dichter. Die Mutter glaubte an seine Begabung, bewahrte seine Hefte und die ersten Entwürfe eines Reimwörterbuchs auf. „Dank dem Vater lernte ich bereits mit sechs Jahren lesen und schreiben. In meinem Kopf herrschte ein wilder Wirrwarr. Ich lebte in einer illusorischen Welt, merkte um mich herum niemanden und nichts“, erinnert sich Jewtuschenko.
Jewtuschenkos Werke wurden in gut siebzig Sprachen übersetzt, in vielen Ländern der Welt veröffentlicht. Allein in der Sowjetunion und anschließend in Rußland sind fast anderthalb hundert Titel erschienen.
Wegen seiner Art, sich grell zu kleiden, wird er im Rücken einen „Papagei“ genannt. Er streitet nicht mit den Kritikern, schwärmt für Guatemala-Jacken, die von Bäuerinnen aus Stoffresten meisterhaft zusammengeflickt wurden, und bunte Krawatten. „Die schwarzen Steppjacken der Häftlinge und die khakifarbenen Uniformen der Soldaten in meiner Kindheit haben mir gereicht,“ sagt er. „Ich liebe die Farbenpracht. Ja, ich bin ein zusammengeflickter Mensch, und meine Bildung war ebenfalls zusammengeflickt. So bin ich beim Kochen wie beim Dichten. Was ist auch die Natur selbst? Sie ist vermeintliche Eklektik, aus der Harmonie wurde“.
In den letzten Jahren gibt es weniger Gedichte, aber mehr Arbeit. An amerikanischen Universitäten leitet Jewtuschenko den Kurs „Russische Dichtung“. Gegenwärtig verbringt er die meiste Zeit in Amerika. Er lebt mit seiner vierten Ehefrau zusammen. Aus allen Ehen hat er fünf Söhne.
Er spricht nicht gern von Auszeichnungen. Sie sind halt kaum zu zählen. Für eine Art Gipfelpunkt der Anerkennung hält er den Kleinplaneten im Sonnensystem, der nach ihm benannt wurde.

Rita Bolotskaja, german.ruvr.ru, 26.1.2010

Sowjetdichter Jewtuschenko – ein geduldeter Frondeur Moskaus

In der letzten Zeit erscheinen in der westlichen Presse immer häufiger Berichte über den jungen Sowjetdichter Evgenij Jetwuschenko, welcher wegen seiner non-konformistischen Haltung und unkonventioneller Behandlung heikler politischer Fragen in Versform, stürmische Erfolge bei der Sowjetjugend erntet.
Der gegenwärtige Aufenthalt Jewtuschenkos in England, wo er auf Einladung des British Council einen zweiwöchigen Besuch absolviert, steigerte noch das Interesse für dieses „Idol“ der Sowjetjugend. Da es sich bei Jewtuschenko nicht eigentlich um einen Rebell, jedoch eher um ein interessantes Phänomen der Auswirkung und der Reaktion der Entstalinisierung handelt, welchem einzelne typische Tendenzen der modernen russischen Jugend nicht abgehen, erscheint es lohnenswert, diesen neugebackenen „Majakowski“ unter die Lupe zu nehmen. Der 29-jährige Sowjetpoet Jewtuschenko, ein „enfant terrible“ der Sowjetliteratur, dessen Vater ein Geologe und Mutter Konzertsängerin war, ist, obwohl in Sibirien geboren in Moskau aufgewachsen. Die sibirische Wurzel, die Dickschädelnatur und die Neigung zur Auflehnung, der Trend zum Unorthodoxalen steckt tief im Studenten am Moskauer Gorki-Institut für Literatur und unbequemen Komsomolzen.
Evgenij Alexandrowitsch Jewtuschenko, der zornige Junge par excellence, gelangte blitzartig in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses mit seinem Gedicht „Stanzija Zima“ (Die Bahnhofsstation Winter) im Jahre 1956, in welchem er mit erstaunlicher Offenheit und Frische über Probleme sprach, die als tabu galten. Jewtuschenko geißelte die Diskrepanz zwischen den revolutionären Idealen und der prosaischen Wirklichkeit des Manager-Regimes. Stürme der Entrüstung bei den dogmatischen Literaturkritikern und Jubel bei der Jugend, rief das Gedicht „Balij Jar“ hervor, da hier das gefährliche Problem des Verhältnisses zwischen dem russischen und dem jüdischen Volk angeschnitten wurde. Ich fühle mich so alt wie das jüdische Volk, deklamierte Jewtuschenko, „ich bin ein Jude und wandere durch das alte Aegypten. Ich hänge sterbend am Kreuz und trage noch immer die Spuren der Nägel…“ Und weiter noch rezitiert er an einer anderen Stelle „Mir scheint, daß ich selber Dreyfus bin, Anne Frank, das bin ich…“ Am Babij Jar bei Kiew wurden bekanntlich etwa 100.000 Juden von den Nazis ermordet. Die linientreuen Kritiker griffen Jewtuschenko heftig an, da er unnötigerweise die Juden in Schutz nahm, wo doch die leninistische Nationalitätenpolitik keine Diskriminierung kenne. Jewtuschenkos Anspiegelungen auf allfällige, noch wache antisemitischen Gefühle des russischen Volkes, wurden mit Empörung abgelehnt.
Im Herbst 1961 veranstaltete die Sowjetjugend unorganisierte, spontane Meetings beim Majakowski-Denkmal in Moskau, in welchem junge Poeten lärmend ihre Gedichte vortrugen. In Sprechchören forderte das junge Publikum den dort anwesenden Jewtuschenko auf, sein famoses Gedicht „Babij Jar“ vorzutragen, was sich übrigens auch bei anderen analogen Veranstaltungen auch später wiederholte.
Jewtuschenkos neues Gedicht „Stalins Nachfolger“ geht schärfstens mit den Ueberbleibseln des Stalinismus ins Gericht, prangert „die Sorte der Enver Hodscha“ an und fordert die radikale Ausräumung mit den überlebten diktatorischen Allüren und deren Repräsentanten. Unlängst griff die Leningrader Kulturzeitschrift Newa erneut Jewtuschenko an, wegen seinem Gedicht „Der Nihilist“, in welchem der Dichter einen jungen russischen Intellektuellen schildert, der enge Hosen trägt und Hemingway liest. Der Kritiker Markow stempelte Jewtuschenko verächtlich als einen Zwerg und Kosmopoliten, mit einer Seele so eng wie seine Hosen, ab, geißelte seine nihilistische Ausschweifung und warf ihm die Begeisterung für Picasso vor.
Dank seiner privilegierten Stellung darf Jewtuschenko ins Ausland reisen. Er weilte bereits auf Kuba und in USA, besuchte mehrere europäische Länder und studiert jetzt das englische Wesen. Trotz seinem systematischen Eintreten für „Wahrheit“ und der Offenheit in seinen Gedichten, hält sich Jewtuschenko elastisch im Rahmen des neuen Moskauer Kurses. Er ist zwar ein unbequemer, jedoch willkommener Frondeur, da er für die reinen und unverfälschten Ideale des „Oktobers“, also des „echten Kommunismus“, eintritt. Er ist ein Kommunist, wie er sich bezeichnet, jedoch kein Parteimitglied.
Dem Kreml paßt die revolutionäre Dynamik dieses jugendlichen Poeten, solange er bloß die stalinistischen Schwächen des Regimes anprangert, solange er als ein Ferment zwischen dem Regime und dem Volke nützlich ist. Es muß noch berücksichtigt werden, daß Jewtuschenko hohe Beschützer auf dem Moskauer Olymp hat, so Adschubej, Chruschtschows Schwiegersohn und Chefredaktor der Iswestija und Ilja Ehrenburg, den alten, wendigen Senior der russischen Literatur, welcher durch seine offenen Memoiren über die Leiden der Schrift-Literatur, welcher durch seine offenen Mesteller in der Stalin-Aera, aktuell bleibt und sich liberal gebärdet.
Jewtuschenkos Zwitterstellung ist charakteristisch für das Dilemma der Sowjetjugend, welche nach Wahrheit und Unverfälschtheit strebt und einem offenen Konflikt mit dem Regime teilweise noch ausweicht. Allerdings wird Jewtuschenko auch von denjenigen Jugendlichen bejubelt, welche in ihm einen Vorkämpfer für die Sprengung des Sowjetsystems sehen. Indessen wird er auch von den Jugendlichen gefeiert, denen der monotone, sektantinische Geist in der Sowjetgesellschaft verhaßt ist und welche die Erfüllung ihrer Freiheit in der Nachahmung westlicher Jugendtendenzen sehen, der sogenannten „Stiljagd“, Nihilisten und Kosmopoliten. Dies freilich mehr als Widerspruch zu den amtlich verpönten westlichen Modellen als aus innerem Antrieb. Durch die Duldung von Dichtern vom Typ eines Jewtuschenko versucht das Sowjetregime diejenigen Jugendlichen an sich zu binden, welche sonst ihr zu entgleiten wagen. Das krampfhafte Festhalten an den reaktionären „Oktober-Idealen“ erstrebt in Wirklichkeit die Anerkennung des Sowjetregimes um jeden Preis. Jewtuschenko ist ein Ventil, um den stürmischen Drang der Jugend nach ewiggültigen Idealen der Liebe, der Freiheit, des Humanismus, des Mitleids und der Solidarität aufzufangen.

M. G., Freiburger Nachrichten, 7.5.1962

Wiedergelesen

Zum ersten Mal in Wiedergelesen: ein Lebender! Immerhin einer, den die New York Times schon vor Jahren zum „berühmtesten Dichter der Welt“ erklärte, eine Ehrung, die bis dahin und meines Wissens auch danach keinem mehr zugesprochen wurde. Der 1932 geborene Jewtuschenko stammt aus Sibirien, aus einem Ort bei Irkutsk. Er ist sehr früh mit Gedichten berühmt geworden. Eines der weltweit bekannten ist „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ (von der Politverwaltung der Roten Armee war es lange verboten). Später schrieb er auch Prosa. Ich lernte sie gewissermaßen auf einem Umweg kennen: Vor Jahren fand ich am Ostseestrand einen Stein, in den das Meer mittig ein Loch geschliffen hatte, angeblich ein Glücksbringer. Ich hängte ihn an einem Lederriemen um den Hals. Eine Bekannte sah den Stein: Ein Hühnergott! Kennst du auch die Geschichte dazu, sie ist von Jewtuschenko? Ich las die sehr traurige, rührende Liebesgeschichte, dazu eine ähnlich schwermütige, „Die Straße“, dann auch „Pearl Harbor“. Danach lernte ich den Autor als einen hochpolitischen Dichter kennen („Mutter und die Neutronenbombe“), der ewig in Zensurhändel mit Moskau verstrickt war. Er sah sich in der poetisch-politischen Erbfolge von Majakowski, von dem er die Treppenform der Gedichte übernahm, aber auch dessen revolutionäres Pathos, wiewohl er parteilos war. 1956 deklamierte Jewtuschenko zum „Tag der Lyrik“ frei seine Verse am Moskauer Puschkin-Denkmal vor fünfzigtausend Zuhörern! Am meisten berührte mich und meine Generation das Gedicht „Stalins Erben“, worin anschaulich gemacht wird, wie man Stalins Sarg aus dem Mausoleum trägt, aus dem Sarg hängen Drähte heraus – der Diktator ist nicht tot, er telefoniert mit seinen Erben in aller Welt…
Jewtuschenko hat seine Autobiografie geschrieben, Der Wolfspass, im Untertitel „Abenteuer eines Dichterlebens“. Darin bekundet er das wahrhaft Abenteuerliche seiner vier Ehen (die erste mit der Lyrikerin Bella Achmadulina, die dritte mit einer Engländerin). Am interessantesten für mich ist, wie das Sowjetland mit seinen Poeten umsprang: eine unablässige Gängelei. Auch heute, und gerade heute, zwei Lebensalter nach Stalins Regime, erhält der Leser ein mit überzeugenden Details belegtes Panorama der staatlichen Zensur – eine solche Konzentration von Parteidünkel, Dämlichkeit, Bildungsarmut, aber auch von Gemeinheit und Verlogenheit müsste angezweifelt werden, hätte Jewtuschenko nicht mit vielen Publikationen und Handlungen sich als furchtloser Wahrheitsfanatiker erwiesen. Beim Einmarsch der Roten Armee in der Tschechoslowakei, als der Prager Frühling erwürgt wurde, schickte der Dichter an Generalsekretär Breshnjew ein Protesttelegramm – die Postangestellte, die es weiterleitete, wurde entlassen. Jewtuschenko erzwang ihre Wiedereinstellung mit der Androhung einer internationalen Pressekonferenz.
Im Prolog zum Gedichtband „Verheißung“ verkündet er selbstbewusst:

Ihr braucht mich so – es geht nicht ohne mich…
Ich singe, trinke, denk nicht an den Tod.
Mit weiten Armen falle ich ins Gras
in dieser schönen Welt – und wenn ich sterben muss
dann sterbe ich vor Glück darüber, dass ich lebe.

Richard Christ, Buchkultur, Heft 127, Dezember 2009

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdecktInterview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

 

KEINE HALBHEIT
Nach Jewgeni Jewtuschenko

Nein, keine Halbheit. Ich begehre ganz
Den Himmel, restlos, mir zu Füßen
Die Erde und den Fluß, des Ozeans
Halbierung werd ich nicht begrüßen.

Das Leben imponiert mir nicht zerstückt.
Ich will es voll, und ganz, die Schauer
Großer Freuden, ungeteiltes Glück,
Die tiefste Trauer.

Bernd Jentzsch

 

MOSKAU IN DER WILDNIS, SEGOVIA IM SCHNEE

Mitternacht am Flughafen von Moskau
aaaaaader mich der in Sibirien war verschlingt
aaUnd wieder ausspuckt ganz allein
aaaaaaaaaaaaaain einem schwarzen Bus
aaaaaaaaauf nachtdunklen geradlinigen Straßen
aaaaaaaaaadurch kahle Ebenen von Schnee
aaaaaaaaaaaafortwährende Taiga
aaaaaaaaaaaaaains monströse Moskau
aaaaaweiße Birkenstämme
aaaaaaaaaaaageisterhaft im Zwielicht
Als sich Segovia
aaaaaaaplötzlich durch
aaaaaaaaaaaaaaaden Äther bahnt
Er wurde an Bord gelassen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaum den dunklen Bus zu fahren
Segovias Hände
aaaaaaaaaaaaaagreifen nach dem Lenkrad
In Wohnprojekten lassen Dörfler
aaaaaaihre Birkenholzbanjos & Balalaikas sinken
Segovia legt los
aaaaaaaaaals wäre er der Puls des Lebens
Segovia legt nach durch alle Schneewehen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaund Ebenen von La Mancha
aaaaaaFeld um Feld um Feld
aaaaaaaaaaaaaaaaaagefrorener Musik
aaaaaaaaadie in den Lautsprechern des Busses schmilzt
Segovia an seinem Instrument
aaaaaaaaaaaasteuert durch die nächtlichen Gefilde
von Antiquera
aaaaaaaaaaaaaund Granada
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund Sevilla
aaaaaaaaaaaaaaaMaßwerk der Alhambra
aaaaaaaaaaaaaaaaain einer Milliarde
aaaaaaaaaaaaaaschneegeborener weißer Birken
aaaaaaaaaaaaaaaaReservoir von Amselzwitschern
Segovia wärmt seine Hände
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund schmilzt Moskau
aaaaaaaaaabewegt eine Hand
aaaaaaaaaaaaaaaaaain Kreisen
aaaaaaaaaaaaaaüber seinen Steg aus Elfenbein
aaaaaaaaaaaaaaaazu ausgebrannten Stalingrads
Segovia weiß keine Antwort
Er ist kein Goya & ist kein Picasso
aber zugleich
aaaaaaaaaaaaist er keine Bohemienne endormie mit Gitarre
aaaaaaaaaaaaaaaaaabewacht von einem Löwen
und wer weiß er hatte vielleicht Sex
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamit Franco
Er weiß der Andenkondor fliegt
Er weiß ob etwas eine freie Welt ist wenn er eine hört
Seine Akkorde akklamieren sie
Er steckt nicht auf
Er zapft sein Inneres an
und hört sich zu während er spielt
und zu sich spricht
und sich sein eigenes Echo ist
Und er treibt & treibt
aaaaaaaaaaaaaaasein Instrument
aaaaaaüber die dunklen weiten Wege
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaains große Moskau
aaaaaaüber die schwarzen Boulevards
aaaaaaaaaaavorbei am Kreml strahlend hell & isoliert
aaaaaaaaaaaaaaaain seinem starren Traum
aaaaaaaaaaain der geräumigen russischen Nacht
aaaaaavorbei an Bolschoi-Balett und Gorki-Institut
aaaaaaaaaim Schauspielhaus John Reed
aaaaaaaaaaaaim Taganka-Theater Stiljagi & Heroin
Statuen-Majakowski starrt
aaaaaaaaadurch einen Blizzard weißer Noten
aaaaaaaaaaaaim Licht russischen Winters
Segovia hört ihn vernebelt schreien
aaund hört den Puls in seinem Blut
aaaaaawährend er das Leben hört während er spielt
aaaund weiter kommt & kommt
aaaaaaaaaaaadurch russländische Winternacht
Er ist in Moskau weiß es aber nicht
Er hatte anderswo gespielt
aaaaaaaaaaaaund hier bricht es sich Bahn
aaaaaaals Tau auf Schall
aaaaaaaaaaaavor Gogols Düsteren Menschen
aaaaaaaasteife Gestalten
aaaaaaaaaaain den Straßen weißer Nächte
aaaaaaverpappt von Schnee
Er lauscht ihnen im Gehen
Er lauscht nach einem freien Lied
aaaaaaaaaawie er es zu Hause
aaaaaaaaaaaaschwerlich je vernimmt
aaaaaaaaaaHört Lenin
aaaaaaaaaaaaaaaafünfzig Oktober später
Segovia läuft durch den Schnee
aaaaaaaaaaaaaahört zu beim Gehen
aaaaaadurch die Worowskistraße
aaaaaaaaaaaaaaaaaazum Schriftstellerverband
Er trifft die alten Säcke die da das Sagen haben
aaaaaaSie graben ihm
aaaaaaaaaakein Wasser ab & wissen was es heißt zu graben
aaaaaaaaaaaaaaaaaain Mahagonny-Städten
Segovia bringt ihnen Open Tuning bei
aaaaaawonach sie alles spielen können
aaaaaaaaafrei & einfach
aaaaaaEs ist nicht sein Meisterkurs
Er verlässt sie summend & geht weiter
Segovia spielt im lockeren Schnee
aaaaaaund gräbt allein ein bisschen
aaaaaaaaaaaunter der freien Oberfläche
aaaaaaaaaaaaaamit seiner freien Hand
Er zupft & lauscht
Er hört einen dumpfen Ton
aaaaaain dem etwas begraben liegt
aaaaaaaaaaaein trauter dumpfer Ton
aaaaaawie er ihn zu Hause hört
aaaaaaaaaaaaamanchmal
Er löst sich & geht weiter
aaaaaaaaaaaaaadurch die Worowskisrraße
Seine Musik strahlt Sehnsucht aus
Er begehrt & doch begehrt er nicht
Er existiert & ist gelassen
aaaaaaaaaaaaaaaaatrotz allem
Nicht dass er eine Botschaft hat
Er selber ist die Botschaft
aaaaaaaaaaaaaaaasein eigener idealer Klang
Er spürt sich selbst als Klang von Einsamkeit
aaaaaaaaaaawährend er weiterspielt
aaaaaaaaaaaain eisenweißen Straßen
Und er sagt: Ich sage alles was ich kenne
aaaaaa& es geht nicht um Bedeutung
Er sagt
aaaaaaDies ist das Lied des Abends
aaaaaawenn die Sphinx sich niederlegt
aaaaaaDies ist das Lied des Tags
aaaaaader graut & graut
aaaaaaDie Nacht hebt
aaaaaaaaaaaaihren weißen Nachtstab
aaaaaaDie Asche dieses Lebens
aaaaaaaaaaaatrocknet mir mein Lied
aaaaaaWenn du nur wüsstest
Er sagt
aaaaaaLiebling Liebling mein
aaaaaaaaaaaawo bist du nur
aaaaaaUnter den Granatäpfeln am Zweig
Er sagt
aaaaaaWo ist Freude wo Ekstase
aaaaaaausgestreckt im Schnee
aaaaaader ein Zuhause nur für Vögel ist
Er sagt
aaaaaaEs gibt hier eine wahnsinnige Leere
aaaaaadie aus allen Gesichtern starrt
aaaaaaAlles was verloren ist
aaaaaaaaaaaaaaaaaamuss man aufs Neue suchen
Er sagt
aaaaaaWeit weg von mir weit weg
aaaaaabist du die Stunde & bist die Generation
aaaaaadie ein Ergebnis bringen soll
Er sagt
aaaaaaIch bin euer Untergang
aaaaaaaaaaunsterblich & solitär
aaaaaaIch bin euer ungekanntes Glück
aaaaaaIch bin Licht
aaaaaaaaaawo ihr das Dunkle seid
aaaaaaaaaawo ihr das Schwere seid
Er sagt zudem
aaaaaaIch bin ein alter Mann
aaaaaadas Leben blüht
aaaaaaaaaada wo die Sonne die Fenster hat
aaaaaaNur wo ist Sonne wo die Sonne
aaaaaaaaaaaaaaaaaSoleares …
Auf den Stufen einer Haftanstalt
aaaaaadie einer Kirche ähnelt
aaaaaaaaaaaasieht er einen weißen Vogel
Was ist im Leben wichtig? fragt der Vogel
Segovia sagt nada und spielt weiter
aaaaaaaaaaaseine Antwort
Und schreit jetzt auf
aaaaaaweil er eine krasse Frau erblickt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaoder eine krasse Sache
aaaaaaUnd er hört viele krasse Frauen
aaaaaaaaaa& viele krasse Sachen
aaaaaaaaaanach fünfzig Oktobern
aaaaaaaaaa& fünfzig Frühlingen
Und Segovia geht ihnen hinterher
aaaaaaaaaadurch ihre Straßen
aaaaaaaaaaund in ihre Häuser
aaaaaaaaaaund in ihre Zimmer
aaaaaaaaaaund in die Nächte ihrer Betten
aaaaaaUnd wartet dass sie miteinander schlafen
aaaaaaUnd wartet dass sie sprechen
aaaaaaUnd wartet & wartet dass sie sprechen
Und er schreit auf jetzt
aaweil er sie sprechen hört
aaaaazu guter Letzt in ihrem letzten Refugium
Nein er schreit nicht auf
Er schreit nie auf
Er ist wortkarg & singt nie
Es ist sein Instrument das spricht & singt
Doch sobald es singt
sobald es aufschreit
weil etwas zu hören ist
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaerhebt ein Gürteltier aus alten Zeiten
aaaaaaim Tiefschlaf seit Jahrhunderten
aaaaaaaaaaim Kremlkeller
aaaasein wollüstiges Haupt
aaaaaaaaöffnet das Viereck seines dritten Auges
und schaut sich blinzelnd um
aaaaaaund wirft zu guter Letzt
aaasein großes Weidloch an
aaaaaaaaaaaaaaaaaaund sendet
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaastatische Ekstase

Moskau – San Francisco
März 1967
Gewidmet meinen Freunden
Andrej Wosnessenski
&
Jewgeni Jewtuschenko

Lawrence Ferlinghetti
Übersetzung: Ron Winkler

 

Rudolf Walter Leonhardt: Was bedeutet Jewtuschenko als Lyriker?, Die Zeit 18.1.1963

Die Revolution der Ernüchterung. Zwei sowjetische Dichter in München, Die Zeit, 26.1.1968

Helen von Ssachno: Lyrik im Schneesturm, Die Zeit 19.2.1971

Mario Pschera: Jewgeni Jewtuschenko: Meinst du?

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Lothar Müller: Poesie mit Schiebermütze
Süddeutsche Zeitung, 18.7.2013

Hans-Dieter Schütt: Sowjetischer Schlawiner
neues deutschland, 18.7.2013

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + InstagramIMDb +KLfG + Kalliope
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Nachrufe auf Jewgeni Jewtuschenko: BZ ✝ Jüdische Allgemeine ✝ MZ ✝ nd ✝ NZZ ✝ SZ ✝ WSWS

2 Kommentare

  1. Kein Kommentar sondern ein kleines dialogisches Poem mit einem Vertrauten entwickelt:

    GLAUBE HOFFNUNG LIEBE 2.0

    aus dem Glauben wurden Verträge
    aus der Hoffnung Versicherungen
    darauf die Liebe sich verbat

    aus den Verträgen wurde Hass
    aus den Versicherungen Angst
    darauf die Liebe übertrat

    Adalbert und Müsli, Leipzig ca. 2008

    Antworten
  2. warum verdammtnochmal kann eines der wichtigsten Gedichte Jewtuschenkos Babji Jar im Internet nirgends ganz gelesen werden!

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