Arthur Rimbaud: Seiten-Sprünge

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Arthur Rimbaud: Seiten-Sprünge

Rimbaud/Verlaine-Seiten-Sprünge

DAS TRUNKENE SCHIFF

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… hin=ab fuhr
aaaaaich abweisende Ströme da
fühlt ich mich LOS vom Gängeln
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Treidler:
gellender Rothäute Zielbrett
aaaaaaaaaaaaaaageworden hingen DIE
aaaaaan farbige Pfähle genagelt
aaaaaaaaaaaaaaasplitter=nackt

Was scherte mich an Bord die Bagage
aaaaatrug Korn aus Flammen oder
aaaaaaaaaaenglisches cotton − − −
mit dem Ab=Gang der Treidler war dies Tratschen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaageSTOPPT
aaaaaund die Ströme ließen mich treiben
aaaaaaaaaaaaaaawie ich WOLLTE….

Im Aufpeitschen der Gezeiten=Furien
aaaaaICH, der andere Winter, bockiger als Kinder Hirn
ich preschte los!                  Und aus=gerissne Penin=SUHLEN
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaüberfuhr nie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaatrium=fahleres ToHUwaBOhu

Der Wolken=Bruch weihte mein maritimes Erwachen −
Tanzte flotter als ein Pfropf auf den Fluten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa‚Ewige WALZ der Ersoffnen‘ gehießen
ZEHN Nächte: nicht lockt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaades Ufers Armleuchter=Stieren!

MEHR Genuß als Kindern
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabeim so gewissen Biß in den Apfel
aaaaaaaaaawenn das grüne Naß in meine Nußschale
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaschoß
aaaaaund das Gesudel von blauem Wein
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund Kotze mir wegWUSCH −
aaaaaaaaaaaaaaaaaaSteuer und Draggen zerspritzten…

Von NUN badete ich im Poem des Meers
aaaaaaaaaaaaaaaaaaAstral=Infusion molkenreich
aaaaaaaaaaaaaverzehrte die grünen Azuren wo
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabis=weilen
aaaaaaaaaaaaaaaaa− bleich=entrücktes Schwimmsel −
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaein Er=Trunkener
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadurchsinkt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavoll Gedanken…

Übersetzt von Hans Therre und Rainer G. Schmidt

 

 

 

Unsere Rimbaud-Edition und Übersetzung

im Spiegel der Kritik

I.
1977 begannen Rainer Schmidt und ich mit der Herausgabe, Übersetzung und Kommentierung des Gesamtwerks von Arthur Rimbaud im Matthes & Seitz Verlag. Seitdem sind fast zehn Jahre vergangen, und es ist vielleicht aufschlußreich, einen kurzen Überblick über die Echos zu geben, die unsere Arbeit gefunden hat.
Unser Vorhaben ließ sich im wesentlichen von drei Gedanken leiten: erstens, daß im deutschsprachigen Raum bisher keine Übersetzung des Gesamtwerks, sondern nur von Teilen des poetischen Werks von Rimbaud vorlag; zweitens, daß die 1972 bei Gallimard in der Bibliothèque de la Pléida erschienene Gesamtausgabe uns überzeugend und gesichert zu sein schien (abgesehen von der Reihenfolge der Texte der Illuminations, die von Rimbaud nicht festgelegt wurde, daher immer dem Gutdünken und Einfühlungsvermögen der jeweiligen Herausgeber überlassen bleibt) und somit die Voraussetzungen zu Herausgabe einer deutschen Gesamtausgabe geschaffen waren (allerdings, angesichts der in Deutschland noch immer unterbelichteten Einsicht in die einzigartige Bedeutung Rimbauds nicht nur für die moderne Poesie, sondern für die moderne Kunst schlechthin, konnte sich der Verlag nicht dazu entschließen, die gesamte Korrespondenz des als Dichter angeblich abgedankten, in Afrika Handel treibenden Rimbaud zu publizieren; so beschränkten wir uns darauf, in unseren Kommentaren möglichst viele zentrale Äußerungen dieser Briefe wiederzugeben, die, expressiv verbis, nirgends Poesie oder Kunst berühren, für uns aber Zeichen eines poetischen Fortlebens sind); drittens, nach Durchsicht der bisher vorliegenden deutschen Übersetzungen und beflügelt von dem in den beiden Briefen des Sehers skizzierten poetischen Programm, schien es uns an der Zeit, an unserer Zeit zu sein, Rimbauds zentrale Forderung, die Entregelung aller Sinne, in unsere Übersetzung hineinzutragen: das war, wie stets bei Übersetzungen von Poesie, ein in unserem subjektiven Bereich angesiedelter Versuch, den poetischen Gehalt und die poetische Gestalt der Schrift Rimbauds, mit radikaler Treue zum Text wie zu seinem Autor, über ein Jahrhundert hinweg in einen anderen Zeit- und Sprachraum zu tragen.
Eine grundsätzliche Bemerkung zur poetischen Übersetzung im allgemeinen: für mich ist Übersetzung nichts anderes als die Sprachbewegung, die zwischen dem Original und der Sprache, in die über-ge-setzt wird, stattfindet. Für mich ist eine Übersetzung nur dann gelungen, wenn sie mir fremd und gleichzeitig vertraut erscheint, die Fremdheit der ersten und die Vertrautheit der zweiten Sprache (des Übersetzers) ausstrahlt, ein Text zwischen den Sprache ist, der offen bleibt, weder die Sprache des Originals in der anderen Sprache nachbildet noch in der anderen Sprach ankommt und so die Fremdheit des Originals auslöscht. Übersetzen heißt für mich: Arbeit an einer Sprache zwischen den Sprachen, oder wie Blanchot sagt, Weiterspinnen einer universellen Sprache.
In Folgenden will ich versuchen, einen itinéraire durch die kritischen Stimmen von Zeitgenossen zu unserem Unternehmen zu bahnen.

II.
Ich beginne mit der Rezension von Jürgen Eelsässer (Stuttgarter Nachrichten, 22.5.1980). Er bringt einen kurzen Vergleich zwischen den Übersetzungen von Walter Küchler, K.L. Ammer, Paul Zech und von uns, stellt fest, daß Küchlers Übersetzung „siriusweit entfernt“ von unserer kreist und die von Paul Zech ihr „um Lichtjahre näher“ kommt. Elsässer, der ansonsten nicht weiter auf unsere Arbeit eingeht und sich mehr oder weniger auf Zitate beschränkt, scheint (wie fast alle jungen Leute, mit denen ich gesprochen habe oder deren Briefe mich erreicht haben) unseren Versuch, die Poesie Rimbauds den „Sprachreinigern und Leisetretern“ zu entreißen, zu begrüßen, beginnt und endet seinen Artikel mit einem Zitat des Rock-Poeten Jim Morrison, der sich in seinen Liedern, Gedichten und in seinem Leben von Rimbaud auf solch gefährliche Weise inspirieren ließ, daß er in Paris eines elenden frühen Todes starb.
Gerade dies, daß wir an den Anfang des 2. Bands ein Rimbaud gewidmetes Gedicht der Rock-Sängerin Patti Smith stellten und so den revoltierenden Dichter in einen lockeren Zusammenhang mit revoltierenden Rock-Poeten unserer Zeit brachten, wird von Rudolf Hartung (FAZ) scharf mißbilligt: „Ob man aber einen in jeder Hinsicht singulären Dichter und Menschen, der von sich gesagt hat ‚Meine Überlegenheit gründet darin, daß ich kein Herz habe‘ (ein Ausspruch, den ich bei Rimbaud nirgends entdecken kann, aber zahlreiche Sätze, die auf das Gegenteil verweisen, A.d.A.), überhaupt einem Kollektiv – ‚Protestbewegung‘ bzw. ‚Rock-Generation‘ – zuschlagen darf? Diese Frage bleibt von dieser Edition unbeantwortet. Und es hat den Anschein, als sei sie ihren Herausgebern gar nicht in den Sinn gekommen.“ Hartung selbst scheint die Frage nach den Kollektiven, die in Vergangenheit und Gegenwart versuchen, Rimbaud zu vereinnahmen, nicht in den Sinn gekommen zu sein: Kollektiv innerhalb der Kunst: Symbolisten, Dadaisten, Expressionisten, Surrealisten: Kollektive außerhalb der Kunst: Pastoren, Theologen, Parteien, Religionen, Homosexuelle etc.: „Jeder fiese kleine Rentner, jeder Bengel aus einem Offiziershaus, jeder Sohn eines Obersteuersekretärs, jeder selbstgefällig grinsende Idiot, der zu Weihnachten ein Motorrad kriegt, jede in Seidenpapier hochgepäppelte Mißgeburt erblickt in Rimbaud ihr zweites Ich“ (Louis Aragon). Rimbaud hat junge Menschen dazu angestiftet, im Bereich der Kunst wie im Bereich ihres Lebens bis zum Äußersten zu gehen, Krankheit, Wahnsinn, gesellschaftliche Sanktionen und sogar den Tod zu riskieren, niemals aber etwas mit den  ideologieverseuchten, satten und leeren Gralshütern des kulturellen Mumienschatzes und den staubtrocknen Hohepriestern des verkauerten, seßhaften Lebens zu schaffen gehabt. „Wer schürt das glimmende Feuer zu rasender Flamme? Zu uns, Schwärmer, Freunde: Mordspaß wartet auf uns! Arbeit? Pah! Feuerflammen…“. Ein Plakat, auf dem diese Verse Rimbauds zu lesen waren, habe ich in einer Berliner Punk-Bar gesehen. Mit schien es nicht am falschen Platz zu sein.
Hartung ist verwirrt angesichts des äußeren Bilds der beiden Bände, der Hervorhebungen, des „unruhigen Schriftbilds“, der „Fülle von Abbildungen – Schriftproben, Zeichnungen, Fotografien −, die zum Verständnis der Texte nichts beitragen; nicht wenige der Abbildungen möchten den Leser in dem Glauben wiegen, er habe ein Herrenmagazin vor sich.“ Abgesehen davon, daß die von uns gewählten Abbildungen gar nicht zum „Verständnis“ der Texte beitragen, sondern dieses Verständnis eher ver-wirren wollen, abgesehen davon, daß Bilder nackter Körper mit Abbildungen in Herrenmagazinen (was immer das sei) assoziiert werden, stellt sich die Frage, ob der Kritiker die Möglichkeit, eine Entregelung zumindest seiner Lese-Gewohnheiten vorzunehmen, nicht grundsätzlich ausschlägt. Hätte seine „Verwirrung“ nicht der Anfang einer „Entregelung“, eines anderen Lesens, Sehens, Denkens und Sinnens sein können? Zitieren wir Rimbaud an seinen Lehrer: „Im Grunde glauben Sie, Ihre Prinzipientreue sei subjektive Poesie… Daß Ihre subjektive Poesie immer furchtbar abgeschmackt sein wird – das wollen wir nicht berechnen.“
Nicht so bedient im Geschmack und aufgeschlossener beginnt die Kritik von K.H. Kramberg (Süddeutsche Zeitung, 8.10.1980). Er zitiert aus unserer Editionsnotiz („Wir stöbern nicht nach irgendeinem Sinn, wir wollen Sinnlichkeit freisetzen, wir destillieren den Pulsschlag eines Sprechens heraus, wie er dieser Poesie eigen ist, wir versuchen ihn in unserer Sprache neu zu erobern, einen Strom zu finden, der Funken schlägt“) und fährt dann fort: „Enthusiasmus steckt an. Wer nicht immun ist gegen die schönen Fieberräusche von Sprachbesessenheit, wird sich einem dergestalt besitzergreifenden Anspruch ungern verweigern…“. Kramberg findet es bequem, die „Unarten“ (es sind das, ich zitiere, „diese will-kürlichen, Arno SCHMIDT nachgefühlten Trennstricheleine und Groß-SCHREI-bungen … die infantile An-Züglichkeiten von allerhand hergeholtem Illustrationsmaterial“) aufzuzählen, in denen wir uns seiner Meinung nach gefallen; er findet das nicht seriös. Für ihn ist der „philologisch seriöse Prüfstein“ der freien Dolmetscherkunst der Übersetzungsvergleich, den er auch vornimmt. Da dieser in der Tat seriös ist und nicht wie bei Hartung von Voreingenommenheit zeugt, darüber hinaus für unsere Übersetzung bezeichnend ist, will ich ihn wiedergeben:

Rimbaud:
Si je désire une eau d’Europe, c’est la flache
Noire et froide ou vers le crépuscule embaumé
Un enfant accroupi plein de tristesses, lâche
Un bateau fréle comme un papillon de mai.

Küchler
Wenn in Europa ich ein Wasser noch begehre,
Ist es das kalte, schwarze Loch, in das hinein
Ein Kind, in der Dämmerung, gebückt, voll Leid und Schwere,
Ein Schifflein setzt, zart, wie ein Schmetterling im Mai’n.

Hausenstein
Such’ ich Europens Wasser, ist es eine Lache,
Geschwärzt und kalt; im Duft der Dämmerung biegt
Der Trauer voll ein Kind sich nieder, seine schwache
Fregatte schwankt, wie wenn der Mai den Falter wiegt.

Schmidt/Therre
WÜNSCHTE
ich ein Gewässer Europas so wärs die
LACHE, schwarz und kalt, wo in der Dämmerung
Balsam ein Kind kauert, trauervoll
und ein Schiff los-läßt,
schwach wie ein Falter im Mai.

Krambergs Fazit: „Ich finde Hausensteins Übertragung poetisch bestechend. Aber ich habe den Eindruck, daß unsere Neutöner sich in ihrem Rimbaud leidenschaftlicher eingelauscht haben als Hausenstein, der elegante Stilist, und auch als der sinntreue Dolmetscher Walther Küchler.“
Ein krasses Beispiel für einen gehässigen Verriß liefert, die Kritik von Peter von Becker (DIE ZEIT, 14.11.1980). Zunächst, nahezu aus heiterem Himmel, hagelt es Abqualifizierungen („Rimbaud-Ersetzer“, „pseudosinnlich schwülstiges Geschwafel“ etc.), bevor noch das Geringste über die Übersetzung selbst gesagt ist; auch schenkt man sich jeden Beleg für diese wüste Verunglimpfung. Stattdessen wird unser Editionsprinzip bemäkelt, das zwischen poetischer Prosa im ersten Band und Lyrik im zweiten Band trennt, einzig, um dem Leser den Zugang zum Werk zu erleichtern. Obwohl wir im Vorwort zum ersten Band betonen, daß sich unsere Edition auf die hervorragende, von A. Adam herausgegebene französische Gesamtausgabe (unter Berücksichtigung von Manuskript-Varianten) stützt, und obwohl wir klar machen, daß wir alles andere im Sinn hatten als einen text- und literaturkritischen Beitrag zur Rimbaud-Forschung zu leisten, wird bemängelt, daß „Informationen über den Stand der Rimbaud-Forschung, über die Zuschreibung und Neudatierung von Texten sowie Hinweise auf gesicherte Textvarianten fehlen“. Die – mir nicht nachvollziehbare – Folge soll, so Becker, sein: „Rimbaud tönt von Anfang an in einem neu-deutschen Einheits-Sound…“. Und da es mit dieser Kritik so weiter geht, die unsere Absichten und Zielsetzungen vollständig mißachtet und uns am laufenden Band vorwirft, etwas nicht zu sein und zu tun, was wir nie sein und tun wollten, nämlich nach Art der Sinnschnüffler und Texttüftler zu verfahren, und da Becker, selbst wenn er einige Übersetzungsbeispiele bringt (nur einzelne Wörter, Ausdrücke, keine einzige Zeile oder gar mehrere), sich nicht die geringste Mühe macht, sich ernsthaft und anhand unserer Intentionen mit der Übersetzung auseinanderzusetzen, sondern seine ganze Vernichtungsguada, mit einigen wenigen Formulierungen begründet, die problematisch oder vielleicht sogar mißglückt sind, darf man vermuten, daß ihm unser Unternehmen grundsätzlich gegen den Strich geht. Anscheinend haben wir uns mit „Geschwafel“, „Unfug“, „Macken“, „Schlamperei“, „Schmand“ und dergleichen Schmierfinkereien mehr an der Rimbaud-Ikone des Kritikers aufs niedrigste vergangen. In leichter Abwandlung eines Worts von Fernando Pessoa, des großen portugiesischen Dichters des 20. Jahrhunderts und Fortsetzers der poetischen Zielsetzung Rimbauds, könnte man sagen: Man liest nicht, was man liest, sondern was man ist.
Die differenzierteste Besprechung unserer Arbeit stammt von Hans-Thies Lehmann (Merkur, August 1981). Ihn möchte ich ausführlich zitieren: „Auf dem Umschlag der beiden Textbände findet man ein bekanntes Photo Rimbauds, oval zugeschnitten zum biedermeierlichen Familienporträt. Es ist der Länge nach zerschnitten, die Hälften leicht gegeneinander versetzt: Rimbaud-„Schizo“, eine Tages- und eine Nachthälfte. Schlägt man die Bände auf, so erwartet den Leser keineswegs das gewohnte Druckbild: ordentlicher Versdruck hier, die ebenso geordneten Blöcke der „Prosatexte“ dort. Stattdessen eine lockere Verteilung von Zeilen, Textklumpen, Wörtern, Sätzen, die abwechselnd mit Bildern, Photos, Zeichnungen heterogener Art: Aufnahmen der Wüstenlandschaften, in die Rimbaud sich zurückzog/vorstieß; surrealistische und andere moderne Kunstwerke, ein Gedicht in arabischer Sprache, das einem hingetuschten Strauch ähnelt, Photogramme von Radiostrahlen. Da begegnen Man Ray, Victor Hugo, Piranesi, Patti Smith ebenso wie Klossowski, James Ensor, eine Kommunardin oder die historische Photographie der Vendôme-Säule in Paris während der Commune. Meist besteht ein mehr oder weniger enger Zusammenhang mit Rimbaud oder seiner „Wirkungsgeschichte“ – die Absicht aber scheint vor allem die zu sein, den Leser aus der nur auf einen Sinn fixierten Sehweise herauszulocken, durch die Lust am Spiel im Inkohärentem den Wunsch nach Systematisierung zu unterlaufen. (Paul Valéry prägte übrigens für Rimbauds Text die Formel „incohérence harmonieuse“.) Die Texte erhalten ein Ambiente, das das gedruckte Wort vorab zum sinnlichen Spaß machen soll – wie ich meine, nicht ohne Erfolg. Das Motiv dahinter: es gilt, die ganze Welt mit ihren verschiedenen Realitätsebenen und –graden als Spielfeld einer frei vagabundierenden Phantasietätigkeit zu erkennen – vom mittelalterlichen Holzschnitt bis zum mikroskopischen Blick aufs Rieseninsekt, den die moderne Technik ermöglicht. Darin ist ein Zug Rimbauds getroffen, seine Imagination, die den Surrealismus nicht mehr so sehr vorwegnahm als vielmehr oft schon im voraus übertraf.“
Der Autor hat, wie ich meine, unsere Absichten mit unvoreingenommenen Augen betrachtet und sich auf eine andere Lese- und Seherfahrung eingelassen. Wie dies im einzelnen geschieht, will ich anhand eines von ihm vorgenommenen Textvergleichs zeigen. Es handelt sich um zwei Strophen des Gedichts „L’Eternité“ („Das Unendliche“):

Elle est retrouvée.
Quoi? – L’éternité.
C’est la mer allée
Avec le soleil.

„In Stichworten: ein romantischer Topos, Verschmelzung von Wasser und Licht, den die Impressionisten und Parnasse-Dichter der Zeit liebten, vergleichbar mit „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküßt“. Doch sogleich durch die sonderbare Frage (einer anderen Stimme?) zu einem Dialog verwandelt, dessen Gestus (Unwille? Neugier? Intimes Geflüster?) nicht auszumachen ist. Der Dialog spiegelt die Verbindung der Elemente wie das Wasser die Sonne. Aber wie steht es mit der Verschmelzung? „Allée“ heißt – gegangen, fort. Wäre die Ewigkeit das Dunkel – mit der Sonne ist auch das Meer gegangen? Weiter: mer // mère – das Meer ist die Mutter, allée und soleil (weiblich/männlich) konnotieren auch die Allee und ein Gehölz aus Weiden (saulet), abgesehen von den nur im Ganzen des Gedichts zu explizierenden Elementen Trou, éthèr, terre, die in das Klangmuster der Zeilen eingeschrieben sind.
Die vorangegangene Strophe sprach von einem Ort oder Zustand der Seele – Áme sentinelle, von Therre/Schmidt geschickt mit „wachsinnige Seele“ übersetzt – und lautet:

Là pas d’espérance.
Nul orietur.
Scinece avec patience,
Le supplice est sûr.

Alchemie des Worts: die dritte Zeile heißt Wissen mit Geduld, wissen mit dem (Karten)spiel, wissen mit Nicht-Wissen (pas science) und selbst le pas = der Schritt, die Fußspur ist mitzulesen. Kein Übersetzer, der das „vermitteln“ will, ist um diese Aufgabe zu beneiden. Therre und Schmidt entscheiden sich für den Klang, das Spiel der Lettern und die mehr oder minder verborgenen Wortbedeutungen:

Aussichts=Los
Orientierung NULL
Wissen & Spur = Weg
Das Ur=Teil gewiß.
Es ist wiedergehOlt.
WAS? – Das UnEndlichE.
Das Meer, das mit
Der Sonne rOllt.

Was Wunder, daß sie Drucktechnik und Wortspaltung zu Hilfe rufen, um wenigstens in die Nähe des französischen Sprachspiels zu kommen: Spur auf ur reimen als Ersatz für die Klangkorrespondenz patience – supplice, E und O hervorheben, um Rimbauds Klangzauber wenigstens anzudeuten, und die nötige Umstellung „Orientierung NULL“ durch den Großdruck des zweiten Worts auszugleichen suchen. Akzeptiert man einmal, daß eine buchstäbliche Übersetzung hier nicht möglich ist, so ändert sich die kritische Frage an die Eindeutschung und lautet: Inwieweit gelingt es ihr, wenigstens einen Gestus von den vielen, die das Original potentiell in sich trägt, überzusetzen? Und bietet sie für das, was unterwegs verlorengeht, im Deutschen eine Art Äquivalent, ein eigenes Spiel? Fragt man aber so, dann zeigt sich, daß Therre/Schmidts Unternehmen über weite Strecken sehr wohl gelungen ist. Die Würdigung dieser bedeutenden Leistung hindert natürlich nicht Kritik im einzelnen und kann auch spezifische Geschmacksfragen nicht klären, die streitig bleiben werden … Mißlungene Stellen anzuzeigen, ist daher kein Kunststück. Plausibel scheint mir vielmehr an einer Reihe von Stellen der Versuch der Verfasser, den historischen Abstand zum Original selbst ins Spiel zu bringen und durch das nebeneinander von sehr Aktuellem mit schon leicht bestaubtem Sprachmaterial beiden neuen Reiz zu entlocken.“
Soweit einige kritische Stimmen. Es ist gut, daß sie keinen Kon-Sens finden. Auch wir bleiben im Dis-Sens. Keine ausgewogenen Schriftbilder, keine poetischen Ver=Heerungen. Nur Guerille=Einfälle in die Phalanx der Schrift- und Sinnmächtigen. Rasche Vorstöße und ebenso rasche Rückzüge. Die Tage bleiben aufreibend, die Nächte blutig. Die Hunde schlagen an, es sind die berühmten Schäferhunde, von der Sorte „Zerfleischen und Kehle-Durchbeißen“, ihre Haare liegen auf den Treppenstufen in den Hausfluren in kleinen Knäueln und bieten einen allzeit alarmierenden Anblick. Magma unserer Seelen und Körper, gleichgültig gegenüber Zombies, die im Morgengrauen mit zackigen Bewegungen ihre Balkonpflanzen gießen.

Hans Therre, Ein Beitrag aus dem Buch

Arthur Rimbaud (1854–1891)

ist einer der überzeugendsten Lyriker der Welt. Er dichtete nur von 9-19. Dann unsteter Wanderer und Waffenhändler.
Die Beschäftigung mit Rimbaud ist existentiell. Seiten-Sprünge enthält eine Auswahl der brisanten Gedichte Rimbauds.
Bevor wir uns Rimbaud nähern, sagt René Char in seinem einfühlenden Aufsatz, wollen wir deutlich machen, daß wir von allen Namen, die ihm bisher beigelegt wurden, keinen festhalten, aber auch keinen verwerfen (R. der Seher, R. der Strolch, usw.). Sie interessieren uns einfach nicht, mögen sie treffend und angemessen sein oder nicht, da ein Wesen wie Rimbaud – und einige andere seiner Art – sie notwendig alle enthält. Rimbaud, der Dichter, das genügt, das ist unendlich. Das entscheidende und stets unbekannte Gut der Poesie, so meinen wir, ist ihre Unversehrbarkeit.
Die hier ausgewählten Gedichte des Wunderkinds und Einzelgängers Rimbaud folgen der Nachdichtung von Hans Therre und Rainer G. Schmidt.

Die Romantik ist das große Wiedererwachen des Opfers. Neue Opfergebiete, wo man von neuem dem Rausch der zweifachen Dinge begegnet, jedesmal belebend und zerstörend, wie es früher nur um den Opferpfahl herum geschah. Aber niemand wird heute die Rolle des Priesters übernehmen können, auch nicht die des Opfernden: da ein Ritus fehlt, eine Ordnung, blieb nur die Rolle des Opfers bestehen; es irrt durch den Wald, Wild der Rudra, in Erwartung ihrer tödlichen Pfeile. Das war die Zerstörung von Novalis, von Keats. Für Hölderlin war Rudra Apollo, der ihn in Bordeaux verwundet. Als der Schriftsteller offiziell maudit wird, mit Rimbaud – ist es schon Zeit umzudenken: es ist die Stunde, Waffen zu verkaufen in Harar. Das Opfer entdeckt mit Trauer, daß die Welt ihm schon eine archaische Nische bereitet hat. Es ist notwendig, in den Wald zurückzukehren. In der Stadt wird man anonym sein, kaum sichtbar, werden Geschäftsbriefe in englisch geschrieben, wird man nach den Bürostunden im Café sitzen:  der Wald ist das Gepäck von Pessoa, vollgestopft mit Namen.

Roberto Calasso, Klappentext, 1986

 

Karl August Horst: Der Mythus um Rimbaud, Merkur, Heft 94, Dezember 1955

Hans-Thies Lehmann: Die Sprache neu (er)finden. Anmerkungen zum Thema Arthur Rimbaud, Merkur, Heft 399, August 1981

 

 

EIN PSEUDOROMAN ÜBER DAS LEBEN VON ARTHUR RIMBAUD1 

Buch III
Kapitel VI
Der Bürokrat für unzustellbare Briefe

In Rimbaud steckte ein Bürokrat für unzustellbare Briefe aus Serienproduktion. Wer hat diese Briefe wirklich abgeschickt? Wer hat die Zeichen gestohlen?

Die Zeichen seiner Jugend und seiner Dichtung. Die Art und Weise, auf die er die Dinge betrachtete, als wären sie die letzten, die noch am Leben sind.

Die Amtskleidung seines Büros ist bloß angedeutet und vornehm. Er trägt einen Hut als Attribut. Seine Arme sind an seinen Schultern angebracht.

Unsere Verachtung für ihn ist allgemein und findet ihr Echo selbst im Totenhaus. Seinen Geist, der auch dann noch in uns wohnt, wenn wir längst im Totenhaus sind, kann Blut nicht besänftigen. Er steckt in jeder Leiche, in jedem Leben eines jeden Menschen.

Er schreibt Gedichte, pitcht Baseball-Bälle und enttäuscht uns, wann immer wir den Mut fassen, ihn nötig zu haben. Ein Knopfgießer2 ist er überdies, er steigt in uns an wie der Fluss der Jahre.

 

Buch III
Kapitel VII
Die Jagd nach dem Schnark
3

Wer sich an der Jagd beteiligt, verdient den Preis. Alle Wagen fahren auf die Lichtung zu, auf der die Anwohner bereits ein Feuer entzündet haben.

Diese Tiere unterscheiden uns am Geruch. Der eine hat einen roten Geruch, der andere einen grünen, dieses da einen purpurnen. Sie sind alle am Leben. Sie hegen nicht die Absicht, uns zu vernichten.

Wir sitzen ums Lagerfeuer und stimmen Schnark-Jagdlieder an. Einer von uns war in Afrika und weiß Bescheid über die Gefahren, die von dem ausgehen, was wir suchen. Unsere Farben und Gerüche flimmern im Rauch, der zur wartenden Herde hinüberzieht.

Alles, was wir gesagt und gesungen haben oder an was wir uns tränenreich erinnerten, kann im wartenden Feuer verglimmen. Wir sind Schnark-Jäger. Es ist tapfer, wie wir in der Lichtung vergehen.

 

Buch III
Kapitel VIII
Rücken an seinen Genitalien

Was sich in Lust erhebt, sinkt nieder m Qualen. Einzig der Gegner zählt.

Zurück zu was? Zurück zum Rücken. Sie und er. Süße Träume erschlafen.

Diese Anweisungen rufen ihn von seinem Weh ab. Verpflastern seinen Mund mit Wörtern. Rimbaud, sechzehn oder siebenunddreißig und im Sterben liegend. Auf sie kommt’s nicht an.

Es ist, als ob man jemandes Schwanz und Herz malte. Oder ihre Möse. Auf sie alle kommt’s nicht an. Ein Mobile. Eine Konstruktion.

Zurück zu was? Zurück zum Rücken. Sie schlafen Hintern an Hintern mit ihm. Seine Genitalien befinden sich in Alarmstellung.

Ihre Geschichte.

Jack Spicer
Übersetzung: Stefan Ripplinger

 

 

Fakten und Vermutungen zu Hans Therre

 

Zum 50. Todestag des Autors:

a.: Arthur Rimbaud
Die Tat, 11.11.1941

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Hansres Jacobi: Arthur Rimbaud – ein Leben der Revolte
Die Tat, 23.10.1954

Zum 150. Geburtstag des Autors:

Rüdiger Görner: Die Schwarzkunst der Worte
Die Furche, 14.10.2004

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Archiv +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Arthur Rimbaud – Diashow mit Bildern aus seinem Leben, Zeitdokumenten von Charleville, Paris, London und viele von Rimbaud selbst gemachte Fotografien von Adens und Harrar. Dazu handschriftliche Manuskripte von Rimbaud, Zeichnungen von Delahaye und Freunden.
Von Joan Baez gelesene Gedichte wurden mit Musik unterlegt, im Bestreben, ein Bild von Rimbauds Leben, seinen Freunden und Plätzen zusammenzusetzen, das er wiedererkannt hätte.

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