„Die Augen sanft und wilde“

Mashup von Juliane Duda zum Buch „Die Augen sanft und wilde“

„Die Augen sanft und wilde“

TERZINEN ÜBER VERGÄNGLICHKEIT

Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,

So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

Hugo von Hofmannsthal

 

DIESE ERSTEN AUS DER TERZINEN-GRUPPE „ÜBER VERGÄNGLICHKEIT“

des zwanzigjährigen Hofmannsthal von 1894 lassen sich wohl nur isoliert – also getrennt von den drei folgenden, seltener gedruckten – als balladenverwandtes Gebilde begreifen. Und das nicht allein deshalb, weil sie härter, geraffter, weniger lyrisch sind: Sie setzen mit dramatischer Plötzlichkeit ein, Auftakt zu einem schockierenden Doppelerlebnis.
Eine Ballade, die mit einem Schrecken beginnt, nein, unmittelbar nach ihm. Eine Ballade, falls man sie als das akzeptieren will, die ohne das Bauerntheater von Schwert, Mord an Tante oder Kind, ohne Schändung und Feuersbrünste auskommt. Das auslösende Ereignis ist der ersten Zeile vorausgegangen, was folgt, ist nur noch das Nachbeben.
Das aber greift als mächtiger, wenn auch (oder weil!) diskreter Inhalt auf uns über. Es handelt sich um die Ballade eines Erkenntnismoments, der das ganze Leben und unsere sogenannte Identität blitzartig erhellt, etwas Alltägliches, hier aber plötzlich als Sensation begriffenes Faktum, ein Sujet von größter Zartheit, Einfachheit, Flüchtigkeit, das im Gedicht jedoch einen Daseinshall in die Zukunft, vor allem weit in die Vergangenheit erzeugt. Distanzieren von diesem jeden betreffenden Allgemeinschicksal kann man sich kaum. Es ergreift wesentlich mehr als entlegene oder in den Medien täglich angelieferte, gereimte Untaten. Das Ereignis ist verlegt in die private Innerlichkeit, ein Drama ausschließlich von Einsicht und Gefühl.
Eine Einsicht, die an die Nieren geht, etwas „Grauenvolles“, das ganz demokratisch Könige wie Arbeiter erwischt, die „da oben“ wie „die da unten“, ein unmittelbarer Schrecken über die Nicht-Souveränität des Ichs, das sich physisch und seelisch, ohne Nachhilfe von Genforschung und Psychoanalyse, eingesponnen sieht in das Gefüge seiner Vorgänger und sich selbst fremd gegenübertritt. Daraus ist keine Lehre zu ziehen. Man muß es ertragen, jeder von uns. Weit entrückt zu sein scheint die Behauptung des sechzehnjährigen Hofmannsthal im Gedicht „Was ist die Welt?“, jeder Mensch sei „eine Welt für sich allein, / Voll süß-geheimer, nie vernomm’ner Töne, / begabt mit eig’ner, unentweihter Schöne, / Und keines andern Nachhall, Widerschein.“ Und noch steht dem Dichter das ganz und gar gegenteilige, irritierende Entzücken über das „Hinüberfließen“ in andere Lebewesen und Dinge aus dem Brief an Lord Chandos (1902) bevor.
Körperlich, wie wir es in der Ballade gern hätten, ist der Schmerz nicht, aber destruktiv. Das macht mir dieses Gedicht im Zusammenhang interessanter als Hofmannsthals „Ballade vom kranken Kind“ und die „Ballade vom äußeren Leben“. Die Gattung wird hier nicht so aggressiv wie bei Wedekind, jedoch bedeutend subversiver in Frage gestellt.
Mit ihr, vermute ich, ist das osmotische Aufnehmen zumindest von Balladenbruchstücken, von Refrains, die man nie in der Schule, aber „irgendwie“ auswendig lernte, vorerst vorbei. Auch wenn das Schutz gewährend Schicksalhafte der älteren Ballade noch im Hintergrund steht: Dessen selbst in Blut und Schande sinngesättigter gemütlicher Zauber muß, auch was die Intaktheit der Person angeht, endgültig weichen.
Was aber macht Hofmannsthal bei so viel allenthalben wirkender Vergänglichkeit? Er bändigt die Auflösung, bringt klug erwägend das zerfaserte Individuum trotz allem demonstrativ durch Terzinen, jene strenge, von Dante entwickelte Strophenform, zur Raison!

Brigitte Kronauer

 

 

 

Vorbemerkung

Bei einer Sammlung von neunundfünfzig Balladen aus dem deutschen Sprachraum kann es nur um eine äußerst beschränkte und sehr subjektive, von Vorlieben geprägte Auswahl gehen. Das versteht sich. Während der Zusammenstellung überraschte mich, obschon ich zunächst eher auf der Suche nach Unbekannterem war, daß mir viele der populärsten klassischen Balladen einen Strich durch die Rechnung machten: Sie sind eben doch auch die künstlerischen Höhepunkte ihrer Gattung! Das hatte ich nicht erwartet und mußte ihnen gegen meine ursprüngliche Absicht, aber mit frischer Überzeugung, mehr Raum als zunächst geplant zugestehen.
Wem Balladen gefallen, der interessiert sich für Handlung und Strategie in kompakter, rhythmisierter Form. Laut oder leise, mit Pathos oder Ironie wird Schicksalhaftes suggeriert. Es kam mir weniger darauf an, eine bis heute andauernde und beschworene Vitalität der Ballade zu beweisen, als die im Laufe der Jahrhunderte und Jahrzehnte unumgänglichen Veränderungen anzudeuten. Daher die chronologische Reihenfolge.
Andererseits reizte mich besonders, Verwandtschaften nachzuspüren, auch über beträchtliche zeitliche Distanzen hinweg. Daß ich hierbei gelegentlich auf Gedichte verweise, die nicht in der vorliegenden Sammlung zu finden sind, ließ sich nicht vermeiden. Ich hoffe, der Leser nimmt gegebenenfalls diese kleinen Winke als Anregung auf.
Alles Weitere und Konkrete zu den jeweiligen Texten bei unterschiedlich gewichtetem Kommentar im Inneren des Buches.

Brigitte Kronauer, Vorwort

 

Deutsche Balladen, kurz kommentiert

Die Ballade als Erzählung in Versform nimmt in der Lyrik eine Sonderstellung ein. Sie verbindet lyrische, epische und dramatische Gestaltungsmittel. Mitunter greift sie auch zeitkritische, politische und soziale Themen auf. Besonders im deutschsprachigen Raum erlebte die Ballade seit dem 18. Jahrhundert ein Blütezeit.
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer hat nun neunundfünfzig Balladen ausgesucht und diese kurz kommentiert. Zunächst war sie auf der Suche nach bisher nicht so bekannten Balladen, doch dann musste sie feststellen, dass viele der populären klassischen Balladen auch die künstlerischen Höhepunkte dieser Gattung sind. Der Reigen der ausgewählten Balladen reicht von anonymen Balladen des 18. Jahrhunderts bis zu zeitgenössischen Autoren wie Ror Wolf, Robert Gernhardt, F.W. Bernstein, Eckhard Henscheid und Jan Wagner. Mit sieben vorgestellten Balladen nimmt das Balladenjahr von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller dabei einen Schwerpunkt ein.
Die kurzen essayistischen Kommentare von Brigitte Kronauer (meist nur zwei Seiten lang) sind keine ausführlichen Interpretationen und Analysen sondern persönliche Anmerkungen zu den einzelnen Balladen. Manchmal geht sie auf deren Entstehung oder Wirkung ein, auch Erinnerungen an ihre Schulzeit spielen eine Rolle. Die Texte erschließen die Balladen auf individuelle Art und Weise und geben Anregungen zur weiteren Beschäftigung mit Balladen. Komplettiert wird die Auswahl durch ein Verzeichnis der Autoren, Texte und Druckvorlagen. Nicht nur für Literaturkenner, auch für Schule und Studium geeignet.

Manfred Orlick, amazon.de, 15.10.2014

 

 

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