31. Dezember

Kein Anfang; kein Ende. Beides … Ursprungslosigkeit, Grenzenlosigkeit … verbindet sich gemeinhin mit der Erscheinungsweise von Weiße. Fast alles, auch Gegensätzlichstes kann mit Weiße assoziiert, auf Weiße bezogen werden, und umgekehrt ist Weiß fast überall und in fast allem … zumindest dem Anschein nach … vorhanden. Weiß ist … stellt man es sich räumlich vor … stets oben, stets offen und fern.
Weiß vermittelt die Empfindung von Kälte, von Trockenheit. Weiß ist das Ganze, das Selbe.

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Daß die Vorstellung von Weiß eine göttliche Vorstellung sein kann, eine Vorstellung, die in Gott Alles und Eins synthetisiert, ist durch die Visionen ekstatischer Mystiker bezeugt, denen die Weiße generell als Erleuchtung, als Blendung, letztlich als die Konkretion von Licht erscheint. »Denn« … so steht es im Epheser-Brief … »alles, was erscheint, ist Licht.« Und der Theologe Pawel Florenskij kommentiert: »Alles, was zur Erscheinung kommt, oder anders gesagt: der Inhalt jeglicher Erfahrung, folglich jeglichen Seins, ist Licht … In Gott aber ist das ganze Sein, die ganze Fülle der Realität, und was sich außerhalb Gottes erstreckt, das ist Höllenfinsternis, Nichts, Nichtsein.«

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Als wesentliche optische Beimischung kommt Weiß in sämtlichen vier Weltelementen vor.
Besonders markant artikuliert sich Weiß in den verschiedenen Aggregatzuständen des Wassers, in Gischt und Schaum, in Schnee und Eis, am wunderlichsten in den Wolken; im Feuer und in der Luft zeigt es sich als homogene Helle, im Flackern der Flamme bezeichnet Weiß den scheinbar unbewegten Hitzepol, und wer hin und wieder den desinteressierten Blick zum Himmel hebt, stellt fest, daß dessen vielbesungene azurne Bläue sich in der Regel als ein eher unansehnliches Schmutzweiß präsentiert; die Erde schließlich versammelt ihre reinste Weiße in Mineralien wie dem Marmor, wie dem Kalk, aber auch in herrlichen kurzlebigen Hervorbringungen wie der Jasmin-, der Apfelblüte.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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