Gedicht (I)

Was das starke Gedicht sagt, ist vielleicht eben nur das, was immer gerade dabei ist, sich auszusprechen; das Ungesagte im Zustand, im Augenblick der Artikulation, wenn das Lallen noch nachklingt, die Zunge zwischen Gaumen und Zähnen noch nach dem Ort sucht, wo das Wort … als Fleisches Lust … Laut werden kann. So bleibt das Gedicht, bleibt sein Sagen in der Möglichkeitsform, es ist reine Eventualität; verlauten wird’s erst, wenn das Begehren des Lesers es weckt … wenn es herausgehört wird aus dem, was als toter Buchstabe dasteht.
Das Gedicht lesen heißt das Gedicht hörbar machen; das Gedicht erklingt, indem es kraft der Schrift vernommen wird, seine Stärke ist die Stummheit, sein Anspruch … nicht besprochen, nicht verstanden zu werden; vielmehr… als eine von beliebig vielen Möglichkeiten verwirklicht zu sein. »Das Gedicht«, schreibt Char, »ist die verwirklichte Liebe eines Begehrens, welches Begehren blieb.«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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