Gegessen

An der gekachelten Wand neben der Rolltreppe zur S-Bahnstation der in großen Lettern aufgesprühte Schriftzug …
JESUS ISST TAMILE.
Tamilen, Türken, Albaner, Bosnjaken, Appenzeller fallen mir hier in den Korridoren oder als Mitfahrende im Zug nicht mehr als die Fremden auf. Fremdes erkenne ich eher, und empfinde es oft als trennend, bei nahen Freunden, bei Verwandten, auch bei mir selbst; was könnte befremdlicher sein als das, was mir als Ich im Spiegel begegnet.

*

Das Fernsehen zeigt Bilder aus dem St. Gallischen Rheintal; dort hat ein alter, hagerer, fast zahnloser, kaum des Redens fähiger Bauer eine kleine Hundeschlachterei eingerichtet … er führt die TV-Leute in die Kellerzelle, wo er die von ihm eingefangenen, angeblich herrenlosen Hunde mit Stirnschuß tötet … am Boden ein Zuber voll von Pelzstücken und Innereien … an den Fleischerhaken die ausgeweideten Kadaver von Sennenhunden, Schäfern, einem Bernhardiner … die Keulen, sagt der Alte, werden jetzt während vierzig Tagen geräuchert, es gebe, sagt er, so viele Abnehmer für das Hundefleisch, daß er von dem Geschäft gut leben kann; die Leute kommen, fügt er hinzu, von weither, »sie wissen, was gut ist«.
Vielleicht stimmt’s also doch. Daß einer ist, was er ißt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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