Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Auf welch verlässlichen Stern?“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Auf welch verlässlichen Stern?“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Auf welch verlässlichen Stern?

What will I do gin my Hoggie die,
my joy, my pride, my hoggie?
My only beast…
Robert Burns (1788)

Das kleine schwarze Schaf
das stößige
mit der weißen Locke
und den zärtlichen Augen,
wo führ ich es hin, wo schließ ich es weg,
in welch sicheren Stall,
mein kleines schwarzes Schaf,
mein einziges Schaf,
wenn die Gefahr kommt,
die furchtbare Pest
die alle Herden verseucht?

Schon öffnen sie die Gräben
für das große Sterben
und halten die Fackeln bereit
für das Verbrennen der Leichen.
Ich armer hilfloser
Hirte,
mein Schäfchen mit den zärtlichen Augen,
auf welche Alm,
auf welch verläßlichen Stern
mit guten Kräutern
rett ich es hin?

Denn Gott gab mir das Schaf
das stößige kleine Schaf
mit den zärtlichen Augen
und sagte: „Hier hast du dein Schaf
ein lebendiges Schaf
für die grünen Weiden des Herzens.
Du darfst mit ihm spielen.
Du bist nicht mehr allein.
Doch Eines erwart ich von dir
in diesem Leben – nichts sonst:
paß mir gut auf auf mein Schaf“

 

Vinalhaven –

so hoch im Norden der USA gelegen, dass das Meer schon wieder mediterran wirkt und in den Basaltbrüchen der Lorbeer wie in Italien wächst. Von jedem Punkt des Eilandes aus blickt man auf weitere unzählige, kleine, unbewohnte Inseln. Schaumkronen gleich schwimmen sie in der Penobscott Bay. Nur die Fähre von Rockland verbindet die Insel mit dem Festland. Die Einfachheit der Umgebung reduziert den Menschen auf das Wesentliche und zwingt ihn zum Einklang mit der Natur. Nicht umsonst suchten religiöse Bruderschaften und Künstler die inspirierende Einsamkeit der Insel. Obwohl Hilde Domin dort im September 1953 das wichtige Gedicht „Wen es trifft“ geschrieben hatte, ihr letztes Gedicht vor der Rückkehr nach Deutschland, sparte sie in ihren Gesammelten autobiographischen Schriften in dem Kapitel „Meine Wohnungen – ,mis moradas‘“ dieses winzige Haus aus: Ich erzähle hier nicht von dem winzigen Haus auf Vinalhaven in der Penobscot Bay im Staate Maine,… – die prekäre Situation jener Zeit sollte nicht thematisiert werden.
Sie wollte an der Erinnerung an die Insel-Zeit nicht länger schwer tragen. Vergangenheit tropfte wie Kielwasser von ihren Fersen ab, kein Netz der Erinnerung quälte. Hilde Domin schien so weit zu genesen, dass sie sich sogar gestählt genug fühlte, für Erwin Walter Palm verloren geglaubte Kräfte zu mobilisieren und Hirte für das verlorene Schäfchen mit den zärtlichen Augen sein zu können, um es auf einen verlässlichen Stern mit guten Kräutern zu retten, als er sie im Norden besuchte.
„Auf welch verläßlichen Stern?“ orientiert sich an der Terminologie Antoine de Saint-Exupérys. Der kleine Prinz, der seinem Schäfchen in einer Kiste Zuflucht bietet, um es mit auf seinen fernen Planeten zu retten, ersteht auf. Exupérys Bilder lieh sich Hilde Domin auch in anderen (unveröffentlichten) Gedichten.

Denn Gott gab mir das Schaf,
das stößige kleine Schaf
mit den zärtlichen Augen,
und sagte: „Hier hast du dein Schaf,
ein lebendiges Schaf
für die grünen Weiden des Herzens.
Du darfst mit ihm spielen.
Du bist nicht mehr allein.
Doch Eines erwart ich von dir
in diesem Leben – nichts sonst:
paß mir gut auf auf mein Schaf“

Auch die Worte des 23. Psalms klingen an:

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Hilde Domin griff oft in Briefen und Interviews auf den Begriff ,theologische Ehrfurcht‘ zurück, wenn sie auf eines der Hauptanliegen in ihrem Leben zu sprechen kam: anderen eine Hilfe zu sein, gebraucht zu werden und nützlich zu sein – ihrer Meinung nach Kernaufgaben des Lebens. Seit Kindheitstagen schon fühlte sie diese fast unbescheidene Anwandlung, auf der Bildfläche zu erscheinen, als sei sie von höchster Instanz eigens zu diesem Zweck auf die Erde befohlen worden. Wann immer sie diesen Ruf hörte, wollte sie ihm folgen.
Doch anders als im biblischen 23. Psalm ruft das sprechende Ich in „Auf welch verläßlichen Stern?“ Gott nur vorgeblich an. Anders als die biblische Vorlage verspricht es weder theologische Verheißung noch humane Verlässlichkeit, sondern appelliert an sich selbst in der Forderung nach einem menschlichen Miteinander. Wenn Gefahren lauern, sucht der Mensch Orientierung. Die Erinnerung hat das Grauen des Holocaust noch nicht überwunden und die Apokalypse weiter vor Augen:

schon öffnen sie die Gräben
für das große Sterben.

Dass der angerufene Gott dem lyrischen Ich das kleine schwarze Schaf als Spielgesellen zuweist, zeugt von Hilde Domins Ironie und Humor. Sie dreht die Schöpfungsgeschichte um: Nicht Adam wurde in seiner paradiesischen Einsamkeit das Weib zur Seite gestellt, sondern zum Weib gesellte sich der Mann – fast als eine Art Kuscheltier, zum Spielen und Ergötzen für die grünen Weiden des Herzens.
Zweimal im Leben, sagte Hilde Domin, habe sie mit Glücksgefühl geschrieben: im amerikanischen Vinalhaven und im spanischen La Verdad. Nichts im Leben wiederholt sich? Wie sich Orte und Lebenssituation doch gleichen können. War Vinalhaven 1953 Zufluchtsort geworden, so wurde La Verdad, die spanische Ferienkolonie 18 Kilometer südwestlich von Malaga, 1957 gleichfalls zum Refugium. Wieder hatte Hilde Domin an enttäuschter Liebe gelitten, wieder klammerte sie sich an die Hoffnung auf eine neue Annäherung an Erwin Walter Palm. Wie in Vinalhaven eröffnete auch in La Verdad der Blick von der Terrasse die Aussicht auf tiefblaues Meer und eine Natur in Blühlaune – der Unendlichkeit stellte sich nichts entgegen, Afrika und Gibraltar waren in der klaren Frühlingsluft zum Greifen nahe. Während Erwin Walter Palmin Madrid noch seiner Arbeit verpflichtet war, hatte sich Hilde Domin nach La Verdad zurückgezogen. Endlich konnte sie ungestört ihre alten Gedichte überarbeiten: Manuskripte aus der Zeit in Santo Domingo, Haiti und Vinalhaven. „Auf welch verläßlichen Stern?“ erhielt dort am 7. Juni 1957 seine endgültige Form.
Vierzehn Tage nur hatten die Palms in La Verdad bleiben wollen, doch dann dehnten sie ihren Aufenthalt bis Mai 1957 aus und begannen, sich nach den langen Jahren des Vagabundierens häuslich einzurichten. Die Gedichte aus jener Zeit in Spanien reflektieren wie jene aus Vinalhaven wieder einmal die vorsichtige Hoffnung und Sehnsucht nach Sesshaftigkeit. Die Hilflosigkeit und Ängstlichkeit des verunsicherten Hirten nehmen die zwei Gedichtzeilen des schottischen Nationaldichters Robert Bums auf, die Hilde Domin ihrem Gedicht vorangestellt hat:

What will I do gin my Hoggie die
my joy, my pride, my
lamb!
My only beast…

Der Hirte in Burns Gedicht quält sich mit Selbstzweifeln: Obwohl er die Nacht hindurch über seine Herde gewacht hatte, wäre das hilfloseste seiner Lämmer im Morgengrauen beinahe von einem fremden Hund angefallen und getötet worden. Hatte sich nicht auch Hilde Domin das Versagen angelastet, Erwin Walter Palm nicht mehr ausreichend Schutz zu bieten? Domin und Burns scheinen seelenverwandt. Beide bejahten das Leben und vertrauten auf die Inspiration der Natur. Hilde Domin könnte während ihrer New Yorker Zeit wieder auf Burns aufmerksam geworden sein: Der Schotte hatte in den Fünfzigerjahren in den USA eine Renaissance erlebt, nachdem J.D. Salingers Roman Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye), 1951 gerade publiziert, seinen Titel einer Zeile aus Burns Gedicht „Cornin’ thro the rye“ entlehnt hatte.
Trotz spielerischer Leichtigkeit beruft sich das Gedicht „Auf welch verläßlichen Stern?“ unüberhörbar auf die Conditio humana: den Anderen nicht im Stich zu lassen und auf seine Verlässlichkeit vertrauen zu dürfen. Hilde Domins Grundforderung für ein menschliches Miteinander. Hatte sie als 22-Jährige dem damaligen Freund Erwin Walter Palm nicht zugesichert, dass ihre Seele immer für ihn da sein werde und dass sie genau dann das verbindende Band fühle, wenn an dieser Fessel gezerrt würde?
Ein gemeinsam gelebtes Leben gibt man nicht ohne Weiteres auf, so wie kein Hirte ein verirrtes Schaf verlorengibt. Nicht nur in Vinalhaven und in La Verdad fühlte sich Hilde Domin diesem Credo verpflichtet. An dieser Mindestutopie für ein menschliches Miteinander wollte sie ihr Leben lang festhalten.

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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