5. Mai

Die aufrichtigste Art zu schreiben ist nach einem Diktum des russischen Philosophen Pawel Florenskij das Zitieren. Die aufrichtigste? Ich kann mir schon denken, dass aus reinen Textklitterungen, wenn sie denn geschickt genug arrangiert sind, qualitativ neue, also originelle Werke entstehen können – eine gut komponierte Anthologie von Zitaten (Versatztexten) als Roman? Meine frühste, also älteste Erinnerung ans Zitieren geht in mein fünfzehntes, sechzehntes Altersjahr zurück. Damals las und diskutierte ich mit meinem Jugendfreund Pascal Mercier die Schriften von Max Scheler. Wir trafen uns jeweils am schulfreien Mittwochnachmittag bei ihm zu Hause, um Tischtennis zu spielen und über Schelers Wertethik zu debattieren, über Scham und Schamgefühle, über Ichstolz und Besitzerstolz usf. Ich selbst bereitete mich auf diese philosophischen Nachmittage dadurch vor, dass ich Scheler (später auch Kant, Hamann, Nietzsche) seiten-, ja kapitelweise abschrieb: Das Zitat sollte sich zur Kopie erweitern. Der Lerneffekt dieses mühseligen Skribententums war durchaus beachtlich – beim Abschreiben memorierte das Schülerhirn die umfangreichen Zitate wie von selbst; noch heute, Jahrzehnte danach, kann ich das eine oder andere ziemlich problemlos abrufen. – In einem voluminösen Band liegen neuerdings die Tagebücher von Raymond Queneau vor. Ich habe das Buch lange erwartet, wollte wissen, was Queneau – Schriftsteller, Gelehrter, Cheflektor bei Gallimard und Herausgeber der ›Encyclopédie‹ der Pléiade – aus den Kulissen des Pariser Literaturbetriebs zu berichten haben würde. So gut wie nichts. Interessant an diesem Tagebuch ist nur, wie uninteressant es ist. Keine Spur von intellektueller Souveränität, kein Humor, kaum Tratsch. Statt dessen ein über Dutzende von Jahren und Hunderte von Seiten sich abmühender Autor, ein ständig zweifelnder, leicht erregbarer, noch leichter zu enttäuschender Zeitgenosse, der eigentlich in allem, was er tut, der Getriebene ist, ächzend unter Müdigkeit und Ärger. Queneaus Tagebücher beschränken sich … in seinen Tagebüchern der Jahre 1914 bis 1965 beschränkt sich Raymond Queneau auf endloses Namedropping, endlose Lektürelisten, zahllose Termine (meist zum Essen); dazu kommen erstaunlich kleinmütige und sentimentale Querelen in Liebesdingen. Der große Queneau! Der Alleskönner! Der Alleswisser! Der Bestsellerautor! An der Sorbonne soll er einen Auftritt des Mathematikers Roland Fraisse moderieren – da dann aber drei Minuten vor Beginn lediglich der Referent, der Veranstalter und ein Besucher vor Ort sind, schleicht Queneau à la française durch den Notausgang beschämt wieder ab und genehmigt sich in einem Imbisslokal nebenan einen Croque Monsieur. So kleinmütig kann ein Großer sein! Und so massiv kann sich der Außenstehende täuschen, der – mit Blick nach oben – am Fuß des Denkmals steht. – In Amstetten bei Mauthausen hat ein heute dreiundsiebzigjähriger, allseits geachteter Bürger während vierundzwanzig Jahren eine seiner Töchter (»die immer so wild war«) in einem Bunker unterm Haus gefangen gehalten, hat sieben Kinder mit ihr gemacht (ebenso viele hatte er bereits von seiner Frau). Eins der Kinder hat er im Heizungsofen verbrannt, drei andere irgendwann »hochgenommen« in die Wohnung, wo sie dann als »Enkel« in die Familie integriert wurden. Niemand im Haus oder außerhalb will von der Einbunkerung gewusst haben. Die nun aus der Horrorhaft Entlassenen, von denen außer der missbrauchten Tochter niemand je das Tageslicht gesehen hat, stehen unter Polizeischutz und werden an unbekanntem Ort interniert gehalten, um sie vor Übergriffen der Presse zu schützen. Bereits wird eine Million Euro geboten für das erste Bild von einem der Inzestkinder oder der Mutter – ihre Haft geht also unter veränderten Bedingungen weiter. – »Starke Gewitterschauer, schön zwischendurch, ziehende Wolken«, notiert an einem 6. Juli G. M. Hopkins: »Die Sonne kommt hervor nach einem dieser Schauer am Morgen und heiß macht sie Bodenrauch, Schotter wie Rasen, eine Zeit lang. Angenehme Genauigkeit der Heuschober und Zeilen mit Schatten auf einer Seite. Etwas Regen dann wieder, viele schnelle Wolken, zuweilen randlose weiche Meridiane, manchmal Flicken, Kämme, Sprühen an Stimuli usf. Kalter Wind. Zu Sonnenuntergang dann, in einer grauen Wand mit feuchten goldenen Hauben und Driften, hat das ganze Rund der Skyline waagrechte Wolken in natürlicher Bleifarbe aber die obern Flächen berggelb, einige mehr, einige weniger rosig. Nadeln oder Strahlen geflochten oder erfüllt mit inklinierenden Kugelflocken brechen sich, ja, Bahn.« – Wie rasch
aaaaasich Wolke und Hand ineinander
aaaaaverwandeln. So
aaaaaschafft Finsternis Klarheit
aaaaawährend hinter dem gekippten Horizont
aaaaanun unverfroren Bläue plaudert.
aaaaaVor soviel Säuen all die Perlen. Aber
aaaaaehrlich geprangt.
– Wie bin ich auf diese Party geraten? Eingeladen war ich nicht, bin aber bei meinem abendlichen Rundgang durchs Viertel auf das laute Fest im Atelier des Schrottkünstlers E. K. aufmerksam geworden, habe im Vorbeigehn einen Blick hineingeworfen, bin stehngeblieben und … und schon war ich mittendrin. Gefeiert wird K.’s Partnerin Anita, achtunddreißig, Arztgehilfin und Masseuse, die sich hier – sie hat heute Geburtstag – mit einem halben Dutzend gleichaltriger Freundinnen und Kollegen umgibt. Es wird getrunken, gemampft, getanzt, getratscht. Die Konversation ist dominiert vom Flüstern und Kichern der reifen Frauen, die sich gegenseitig an den Bauch, an die Hüfte greifen, die Köpfe zusammenstecken, sich mit gekrallten Fingern durch die Haare fahren. Anita berichtet von den amüsanten Massagesitzungen, die sie privat anbietet und bei denen sich ihre alternden, schwerhörigen, aber ganz schön geilen Klienten kneten, enthaaren, masturbieren lassen. Was in der Runde Gelächter auslöst. Einer der Partyteilnehmer, Schauspieler, beklagt im Gespräch seine Vergesslichkeit – er könne problemlos hundert Textseiten auswendig lernen, nicht aber sich den Namen seiner Freundin oder seiner Schwester merken; wieder Gelächter. Usf. Bis ich das Lokal im Rückwärtsgang unbemerkt verlasse. – Was ich geschrieben habe, habe ich – wie gesagt – nicht; zu haben ist eher das Gelesene, doch wie behalte ich es? Indem ich etwas anfange damit … indem ich’s aufgehen lasse in dem, was ich schreibe.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00