Goslar

Hier gibt’s noch das historische Kopfsteinpflaster … grobe, unregelmäßig gesetzte Steine, bei jedem Schritt stoße ich an, komme öfter ins Stolpern, muß mich, anders als auf dem Großstadtasphalt, beim Gehen konzentrieren, Unebenheiten ausgleichen oder ihnen ausweichen, und merke plötzlich, wie das Gehen zum Ereignis wird, wie die gewöhnlichste, längst automatisierte Bewegung Schritt für Schritt überlegt und den ständig wechselnden Gegebenheiten angepaßt werden muß. Ich gewinne daraus eine neue Erlebnisqualität … es wird mir bewußt, daß jeder meiner Schritte ein anderer ist, jeder Schritt wird, dem Trott sich verweigernd, zur Premiere, bei jedem Tritt spüre ich unterm Fuß die Rundung der Erde. Jeder Schritt ist nun plötzlich, wie jedes Wort, das gesetzt wird mit Bedacht, eine Sensation.

*

Auf der Gasse fällt mir, im Vorübergehn, ein Mann auf, der einen andern Mann umständlich und beharrlich schneuzt … er hält ihn am linken Oberarm fest, damit er nicht umkippt, und drückt ihm ein Stück zerknittertes Zeitungspapier vors Gesicht, das öffentliche Schneuzen nimmt kein Ende, es klingt wie das Röcheln oder Kotzen eines Sterbenden, und lang noch klingt’s nach.

*

Bin untergebracht im Kongreßhotel; auf dem neuen, noch duftenden Spannteppich in der Eingangshalle sind die ersten Tritt- und Schleifspuren zu sehen … das noch nicht sehr dichte Zufallsmuster der Schuhabdrücke vor dem Rezeptionstresen erinnert an ein übergroßes, menschliches Skelett.

*

Lesung mit Oskar Pastior, danach die üblichen Fragen aus dem Publikum; die von einem Zuhörer geforderte Wiederherstellung der »Würde des Worts« möchte O. P. verstanden wissen als ein Plädoyer für das Würde des Worts, das heißt, wie er erklärt, für die wandelbaren Möglichkeits- und Zukunftsformen der Sprache, die viel weiter reichten als deren konventionelles Bedeuten.

*

Ob man die Würde, nichts bedeuten zu müssen, verdienen kann; die Würde, unbedeutend zu sein.

*

»Vieles wird schön«, so steht’s irgendwo bei Botho Strauß, »wenn es einfriert in Bedeutungslosigkeit.«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00