Memoria

Während rund eines Vierteljahrhunderts … im Zeitraum zwischen 1940 und 1964 … war Anna Achmatowa mit der Niederschrift einer großen, zyklisch angelegten Versdichtung befaßt, deren definitiver und vollständiger Text freilich erst 1976, mithin elf Jahre nach dem Tod der Autorin, in der damaligen Sowjetunion erscheinen konnte. Mittlerweile ist das »Poem ohne Held« … so lautet der Titel des Werks … mehrfach nachgedruckt, ausgiebig kommentiert und auch verschiedentlich übersetzt worden. [Vgl. u.a. die zweisprachige Werkausgabe von Anna Achmatowa, »Poem ohne Held«; herausgegeben von Fritz Mierau, Steidl-Verlag, Göttingen 1992.]

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Eine in sich kohärente und allgemein anerkannte Lesart des Poems hat sich bisher, trotz ingeniöser Deutungsversuche, nicht herausgebildet; der sprachlich hochkomplexe, inhaltlich kaum faßbare Text die Achmatowa selbst hat ihn als »dreibödig« bezeichnet entzieht sich jeglicher voreiligen Verständigung, indem er eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten offenhält und gleichzeitig, eben dadurch, seine Opazität, seine Autonomie als Text behauptet. Es ist nämlich nicht, wie die Apologeten des sozialistischen Realismus es stets gefordert hatten, Sache des Autors, Verständlichkeit herzustellen oder auch bloß zu ermöglichen, um solcherart ein vorab bestimmtes Textverständnis durchzusetzen; und überhaupt kann das Textverständnis in keiner Weise von der Verständlichkeit des Texts abhängig gemacht werden. Wie denn sonst wäre die Tatsache zu erklären, daß selbst »unverständliche« Texte verstanden werden können und daß, umgekehrt, auch leicht »verständliche« Texte bisweilen zu krassen Mißverständnissen und Fehlbeurteilungen Anlaß geben?
»All dies«, so hat Anna Achmatowa einst ihren unbekannten Leser apostrophiert, »wirst nur du allein enträtseln können …«; sie stellt es also dem Leser anheim, ein eigenes Verständnis ihrer Texte zu entwickeln, auch wenn dieses Verständnis ihren auktorialen Intentionen zuwiderlaufen oder darüber hinausgehen sollte. Obwohl gerade diese Offenheit gelegentlich »irrige und törichte Deutungen« ihres Poems provozierte, hat sie sich dennoch konsequent geweigert, es »verständlicher zu machen«. Der Text enthalte, so hat Anna Achmatowa bereits 1944 notiert, »keinerlei dritten, siebten oder neunundzwanzigsten Sinn«; und sie fügt hinzu: »Ich werde es weder abändern noch interpretieren. Quod scripsi, scripsi

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Was ist das nun aber für ein Text, von dem die Autorin in lateinischer Phrasierung sagt, sie habe nichts anderes geschrieben, als was sie eben geschrieben habe, und der … allein schon durch diesen marginalen Hinweis … den Charakter eines Dekrets gewinnt, dessen strenge Buchstäblichkeit zwar jede Abweichung oder Ergänzung ausschließt, das aber, auf Leserseite, immer wieder neue, über den vorgegebenen Text hinausweisende Sinnbildungen zuläßt, ja sogar erfordert.

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Das »Poem ohne Held« hat die Grundstruktur eines Triptychons; es umfaßt drei ungleich große Hauptteile, welche ihrerseits in ungleich große Kapitel und Abschnitte gegliedert sind. Dem Text sind zahlreiche Paratexte zugeordnet … Vor- und Nachbemerkungen, Widmungen, Motti, Arbeitsnotizen, durch die das Poem zeitgeschichtlich situiert, aber auch weltliterarisch perspektiviert wird. Der erste und umfangreichste Textteil bezieht sich auf das Jahr 1913, das in Form einer lyrischen »Petersburger Erzählung« … unter Aufbietung von allerlei Masken, Dämonen, Schatten- und Spiegelgestalten, wie man sie vom dekadentistischen Jugendstil her kennt … das karnevaleske, von Privatkatastrophen und luxuriöser Weltuntergangsstimmung geprägte Lebensgefühl der Vorkriegszeit vergegenwärtigt.
Der zweite Teil des Poems bildet dazu, seinem Titel entsprechend, die »Kehrseite«, Ort der schwer nachvollziehbaren Szenen und Gespräche ist weiterhin Petersburg beziehungsweise Leningrad, diesmal jedoch … datiert auf das Kriegsjahr 1941 … als Schauplatz eines gespenstischen Totentanzes, an dem reale Personen aus der Umgebung der Autorin ebenso beteiligt sind wie historische und mythologische Figuren; das Fest ist aus, der schöne Weltschmerz abgeklungen, es bleiben Zerknirschung und Trauer: »Rauch der Fackeln, auf dem Boden verstreute Blumen, für immer verlorene heilige Andenken …« – Der dritte, als Epilog bezeichnete Teil beschwört in litaneiartigen Versen … Klage und Selbstanklage … die belagerte, verwüstete, ausgehungerte Stadt in einer weißen Nacht des Jahres 1942; Anna Achmatowa hielt sich damals, siebentausend Kilometer weiter östlich, in Taschkent auf, wohin man sie aus dem vom Untergang bedrohten Leningrad evakuiert hatte:

Du, die du mein Grab nicht geworden,
Rebellisch, geächtet, lieb meinem Herzen,
Erbleicht, erstarrt und verstummt.
Doch unsere Trennung ist nur eine Täuschung:
Wir beide sind unzertrennlich, mein Schatten
Liegt auf deinen Mauern, mein Bild,
Es spiegelt sich in deinen Kanälen …

Auf der Darstellungsebene weist das »Poem ohne Held« weder logische noch chronologische Stringenz auf; vielmehr setzt es sich aus zahlreichen punktuellen Impressionen, aus präzis gefaßten Erinnerungs- und Traumfragmenten zusammen, die einzig durch die übergreifende, primär von künstlerischen Kriterien bestimmte Komposition des Texts miteinander verbunden sind.

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Die eigentliche Aussage des Poems … dies sei hier entgegen geläufiger Auffassung festgehalten … liegt denn auch gar nicht in dem, was die Autorin zu berichten, zu bezeugen, zu beklagen hat, sondern in der Art und Weise, wie sie diese Aussage ins Werk setzt. Deus conservat omnia, »Gott bewahrt alles« … diesen Wahlspruch hat Anna Achmatowa ihrem Text als generelles Motto vorangestellt, und es ist klar, daß sie damit indirekt auf die Kultur- und Menschenvernichtung anspielt, die in der Sowjetunion zur Zeit des Stalinismus mit massenmörderischer Konsequenz vorangetrieben wurde, um das kollektive Gedächtnis des Volks, das heißt sein Traditionsbewußtsein und damit auch sein Selbstbewußtsein auszulöschen zugunsten der »qualitativ völlig neuen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus«.
Auf eben diesen erzwungenen Gedächtnisverlust reagierte die Achmatowa mit ihrer »konservativen«, also bewahrenden Dichtung, die man insgesamt als ein weitverzweigtes Erinnerungsdepot bezeichnen könnte, in dem sich literarische Versatzstücke aus vielen Epochen und Kulturen in Form von offenen oder versteckten Zitaten abgelagert haben. Das »Poem ohne Held« ist dafür ein besonders eindrückliches Beispiel, denn gerade in dieses Werk sind so viele literarische Reminiszenzen und Allusionen eingegangen, daß zwischen Autortext und Fremdtext kaum noch unterschieden werden kann.
Die Achmatowa war sich der Zitathaftigkeit des Poems voll bewußt; ohnehin war sie überzeugt davon, daß alle Literatur als ein »grandioses Zitat« zu lesen sei und daß jeder neue Text … wie auf einem Palimpsest … einem alten Text nachgeschrieben werden müsse. Der Akt des Schreibens, so verstanden, kann immer nur ein Schattenwurf, ein Spiegeleffekt, ein »zweiter Schritt« sein, so etwas wie »ein Echo, das sich für den Ursprung hält, das selber spricht und Fremdes nicht bloß wiederholt«. In einer unadressierten Widmung zum »Poem ohne Held« heißt es dazu:

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und weil ich kein Papier mehr habe, schreibe
ich dies auf deinem Manuskript, und sieh:
ein fremdes Wort erscheint, das längst verblich,
und taut, wie damals jene Flocke Schnee
auf deiner Hand ...

Hier wird noch einmal deutlich gemacht, daß der eigene Text stets einem fremden Text nachgeordnet ist; daß folglich jeder Text die Erinnerung an andere, frühere Texte wachzuhalten vermag. Literarische Traditionszusammenhänge werden dadurch nicht nur bewahrt, sondern auch permanent erneuert, denn … so liest man im ersten Teil des »Poems ohne Held« … »wie im Vergangnen das Künftige reift, / so glimmt im Künftigen noch das Vergangne …«

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Es gibt in Achmatowas Poem wohl keine Textschicht, die nicht zitathaft wäre. Dutzende von Referenzen jeglicher Art … von der Bibel über Sophokles und Shakespeare bis hin zu T.S. Eliot und Mandelstam … hat die Autorin in ihr Werk eingearbeitet, und es verwundert nicht, wenn sie in einem poetologischen Brief festhält, das Poem sei ihr gewissermaßen diktiert worden: »Besonders überzeugend ist in der Hinsicht die dämonische Leichtigkeit, mit der ich das Poem schrieb – seltenste Reime hingen einfach so an der Bleistiftspitze, schwierigste Wendungen traten von allein aus dem Papier hervor.«
Von daher wird einsichtig, daß und weshalb Anna Achmatowa ernsthaft daran gedacht hat, das Poem anonym erscheinen zu lassen; einsichtig auch, daß sie sich nicht als dessen »Autor«, sondern lediglich in der Funktion eines Redaktors gesehen hat; und man versteht ihre Befürchtung, daß eine kurzsichtige Kritik ihre Zitationspoetik als plagiatorisch denunzieren könnte. Doch wer zitiert, schreibt nicht einfach ab; wer zitiert, trifft eine Auswahl, stellt eine literarische Rückkoppelung her, macht einen vorgegebenen Text in neuem kontextuellem Umfeld auf neue Weise lesbar, verleiht ihm somit auch eine zusätzliche zeitliche Dimension, bezieht ihn … durch Vergegenwärtigung … auf die Zukunft. Texte bergen nicht bloß Erinnerungen, sie bergen auch Energien, die freigesetzt, umgesetzt, für weiterführende Erfindungen nutzbar gemacht werden können. In diesem Sinn ist Anna Achmatowas dezidierter Konservatismus nichts anderes als eine radikale … auch radikal subversive … Spielart kultureller Progressivität.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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