3. Mai

»Kalt. Der Morgen roh und nass, der Nachmittag schön. Der Himmel schläfriges Blau ohne Liquidität. Von Cumnor Hill sah ich Saint Philip’s und die andern Türme durch blauen Dunst blass aufsteigen im weichroten Licht. Auf fernerer Seite der Straße – Hügel im Vlies von Getreide oder anderm grünen Gedeihen, in ihren Senken und Wellen da und dort näher scheinend und das Grün auf ihnen so unterschieden in Helligkeit und Undurchlässigkeit, mit zarter Wirkung. Links, die Braue eines nahen Hügels glitzerte aus sehr hellen neu gewendeten Soden und eine Schärpe lebhaften Grüns bog fort über den Horizont, dagegen die Wolken den geringsten Anflug von Rosa oder Purpur zeigten. Unterholz graurot oder graugelb – jene Minima, die der Öffnung des vollen Blatts unmittelbar vorangehn. Lustbares Grün der Wiesen, die die Straße säumen. Ein paar Eichen haben schon kleine Blätter. Noch nicht die Eschen, die nur mit ihren Blütenfransen geschopft sind. Die Hecken sprießen reichlich. Ulmen voller kleiner Blätter mit mehr oder weniger Durchlässigkeit. Weißpappeln in der ganzen Pracht ihrer kleinen grauen gekräuselten sprühenden Blätter. Schlüsselblumen impulsiv färben die Wiesen in sahnigen Passagen. Hyazinthen, purpurnes Knabenkraut. Über dem grünen Wasser des Flusses und unter seinen Brücken blitzten die Schwalben, blau und purpurn zuoberst und der Bernsteinton auf den Brüstchen zeigte sich gespiegelt im Wasser, ihr Flug unstet mit oszillierenden Flügeln, und sie drifteten erst zur einen, dann zur andern Seite hin. Gegen Sonnenuntergang der Himmel teilweise aufgerissen, wo so häufig, mit feuchtweißer Bewölkung, vorübersträhnend an Fragmenten grauschwarzer wolliger Wolken …« Eine vom 3. Mai datierte Aufzeichnung von Gerard Manley Hopkins aus dem Jahr 1866 – sie könnte von heute und von mir sein; es gibt Gegenstände und es gibt Beschreibungen von Gegenständen, die niemals verjähren. Dazu gehört die Natur, und dazu gehört auch eine Naturbeschreibung wie die hier aus Hopkins’ Tagebuch (deutsch von Waterhouse) zitierte, allerdings nur dann … nur wie in diesem Fall, da die Beschreibung nicht einfach die vor Augen stehende Landschaft in Worten nachbildet, sondern die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der immer gleichen und doch immer wieder anders sich vollziehenden Naturvorgänge in ihrer Einmaligkeit vergegenwärtigt … vergegenwärtigt, man könnte auch sagen – verewigt. Solche Vergegenwärtigung und Verewigung kann mit Erzählstoffen, mit der Schilderung von Handlungsverläufen und Handlungsräumen nicht gelingen. Deshalb wirken sie jeweils schon bald historisch, während die von Hopkins praktizierte Naturbeschreibung Ewiges und Einmaliges im Zeitlosen aufgehen lässt. In solchem Verständnis sind seine Tagebücher heute aktueller als die Romane und Novellen seiner Zeitgenossen. – Spät abends eine lebhafte TV-Talkshow zur Welternährungskrise. Eine junge Diskussionsteilnehmerin beklagt die ungeheuerliche Tatsache, dass von der Geflügelproduktion in Kamerun lediglich die Innereien und andere wenig gefragte Stücke vor Ort angeboten werden, wohingegen die feineren Teile nach Europa exportiert würden. »Wir bekommen die feinen Brüstchen«, ruft die Dame erbost in die Runde und senkt ihren Daumen: »Nur der Abfall bleibt dort.« – Noch eine Geliebte Paul Celans, die Eisenreich, deren Erinnerungen an den großen Poeten zur Zeit im Feuilleton gefeiert werden, nicht anders als zuvor die Korrespondenzen mit Ingeborg Bachmann, Gisèle Lestrange oder der sogenannten Jerusalemer Geliebten. Nie zieht Celan nicht den Kürzern im brieflichen wie im wirklichen Umgang mit der Frauenwelt, bisweilen erweist er sich als intellektuell und moralisch unterlegen, bisweilen auch als Feigling und Stümper. Man mag es enttäuschend finden … man kann es durchaus irritierend finden, dass ein schon zu Lebzeiten kanonisierter Dichter, der seine Poesie mit letztem Weltschmerz, existentieller Verzweiflung und jüdischer Apokalyptik befrachtet, im privaten Leben über triviales Gezänk, über Wehleidigkeiten und Rechthaberei kaum je hinauskommt und gerade in seinen Beziehungen zu starken Frauen ein peinliches Beispiel männlicher Schwerenöterei abgibt, die ständig schwankt zwischen Selbstüberhebung und Selbstzerknirschung. Man wird den Dichter Celan nicht gegen den Menschen Ancel ausspielen oder den einen vom andern trennen wollen. Ancel musste psychisch genau so angelegt sein, wie er’s in seinen Briefen zu erkennen gibt, um zu dem ganz andersartigen Dichter zu werden, für den er das sprechende Pseudonym Celan (sinngemäß »der Verborgene«) gewählt hat. – Marina Zwetajewa (Sätze aus den Tagebüchern): Die Liebesaura des Mannes entsteht aus der Liebe der Frau, die Aura der Frau – aus der Liebe zu sich selbst.
aaaaaIst es nicht gleichgültig, mit wem man auf Erden schläft, da man doch unter der Erde ohnehin mit jedem schlafen wird, der zufällig da ist.
aaaaaIn der Liebe hat der recht, der mehr Schuld trägt.
aaaaaDie physische Liebe ist vor allem ein Seelenzustand.
aaaaaDer Leib ist in der Liebe nicht das Ziel, sondern das Mittel.
aaaaaKörperliches Zutrauen – das steht bei mir für »Leidenschaft«.
aaaaaAuf den Bereich des Geschlechts übertrage ich ganz unterschiedliche Dinge: Höflichkeit – Beleidigung – délicatesse de coeur.
aaaaaZwei Leidenschaften: das Bett (Träume haben) und der Schreibtisch (sie aufschreiben) – oder: der Schreibtisch (Träume haben) und das Bett (sie verwirklichen, im Schlaf).
aaaaaEin Mann, der mich nicht liebt, ist mir ein Rätsel.
aaaaaManche meiner Geliebten kenne ich wohl gar nicht.
aaaaaIch könnte herrliche – ewige! – Verse schreiben, liebte ich das Ewige ebenso wie das Vergängliche.
aaaaaWenn ich an meinen Tod denke, bin ich zutiefst verwirrt: wohin dann mit all meiner Liebe?
– Vielleicht könnte – oder sollte! – man sich einmal wieder auf das dadaistische Entrümpelungspostulat besinnen? Statt angesichts von Umweltzerstörung und Überbevölkerung unentwegt Zuwachs, Fortschritt, Erfolg, Gewinn zu fordern, müsste der »schamlose Bastard der Zivilisation« endlich den Verzicht als kulturelle Leistung honorieren, müsste sich darum bemühen, aus möglichst wenig möglichst viel zu machen. Der Dadaismus, begriffen als eine dekonstruktive Ökologie des Geistes, könnte dafür Vorbild sein. »Da will ich dann hinknien auf Meer Ebene Wüste«, verkündete schon 1919 der Prosadichter Melchior Vischer: »Hände in reine weite Luft stecken, rufen wild stark groß – WIR SIND WIEDER JUNG!« – Verlängertes Weekend in Zürich, damit verbunden ist ein Wetterwechsel von hochsommerlich zu spätherbstlich. Brunch mit Krys bei mir auf dem Balkon, danach Galeriebesuche bei Marlene Frei, Susanna Kulli und Hufschmid-Staffelbach.

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