Hans Thill (Hrsg.): Schlittenspur durch den Sommer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Thill (Hrsg.): Schlittenspur durch den Sommer

Thill (Hrsg.)-Schlittenspur durch den Sommer

HÅLVAL

Valar vill vatten
hålrum i vatten
lättnad i fettnad
rymmen i späck

Aase Berg

 

HOHLWAL

Wal will Wasser
Hohlraum im Wasser
Leichtigkeit im Fett
Entkommen im Speck

Übersetzung: Hans Thill

 

LOCHWAL

Wale wollen Wasser
Hohlraum im Wasser
Erleichterung im Fetten
Raumverdränger im Tran

Übersetzung: Ursula Krechel

 

BUKWAL

Wale wählen Wasser
Hohlraumblubber-Wasser
Erlösung in Fett’gt
Trantalgt’wichen

Übersetzung: Oswald Egger

 

 

 

Vorbemerkung

… daß nämlich die Sprache durch ihre Existenz u.a. dem Dichter eine Reihe von Spuren anbietet, die dadurch, daß man ihnen folgt, zur Wirklichkeit werden.
Inger Christensen

So schlicht diese Überlegung auf den ersten Blick erscheinen mag, bei näherer Betrachtung entpuppt sie sich als vielversprechende Formel für die Wirkung von Poesie: Das Gedicht kommt aus der Sprache und die Sprache findet ihre Verwirklichung in ihm. Das Zitat entstammt einem Essay mit dem Titel „Geheimniszustand“, in dem die große Dichterin aus Dänemark der Frage nachgeht, wie ein Gedicht entsteht, weshalb es uns zu verblüffen vermag, was in ihm steckt an überindividuellen Energien und menschlichen, sogar übermenschlichen Potenzen. Sie spricht vom doppelten Wesen des Worts.

Es muß innen wie auch außen sein. Es muß innen im Bewußtsein sein, das etwas göttlich nennt, zugleich aber außen in dem Göttlichen, das das Bewußtsein hervorruft. Und zwischen beiden Ebenen muß im Gedicht ein unaufhörliches Gespräch vor sich gehen.

Inger Christensen vergleicht dieses Gespräch mit dem biologischen Prozeß der Osmose, dem Austausch zwischen den Bereichen dies- und jenseits einer Membran. Am Ende des Osmose-Gesprächs, schreibt sie, sei das Wort bei sich.
Der Prozeß gemeinsamen Übersetzens, wie er im Juni 2008 in Edenkoben zum 21. Mal an den Gedichten der schwedischen Gäste erprobt wurde, ist einer ähnlichen Dialektik von Sprachinnerem, Sprachäußerem, auch der Sprachäußerung unterworfen. Die Werkstatt spaltet sich auf in die einsame Konzentration am Schreibtisch und das vermittelnde Gespräch unter Vielen, in dem die Möglichkeiten gegeneinandergestellt und die Meinungen ausgetauscht werden. Auch hier könnte man das Bild der Osmose bemühen, die Membran wäre die Sprachgrenze, die eine Barriere bildet, deren Überwindung, so kompliziert wie bereichernd, in keinem Fall undurchdringlich ist, ob die fremde Sprache nun der eigenen nah ist oder nicht. Der Prozeß des Übersetzens ist nämlich, unabhängig von den Eigenheiten der jeweiligen Sprache, immer derselbe. Beim Übersetzen von Poesie geht es darum, das Gedicht in der eigenen Sprache nachzubilden, den Akt des Schreibens noch einmal nachzuvollziehen. Wort für Wort wird das Gedicht nachgebaut, es wird noch einmal neu geschrieben, einer anderen Spur, der Interlienarversion, folgend. Die in der einen oder anderen Sprache beheimateten Kollegen, vertraut mit dem oben beschriebenen Selbstgespräch in der Intimität mit der Sprache, tragen dieses nach außen und legen die Sprachen nebeneinander auf den Tisch. Im Deutschen angekommen, ist das Gedicht dann ein anderes, das jedoch möglichst viele Gemeinsamkeiten mit dem Original haben sollte, das poetische Denken abbilden sollte, das sich im Original verwirklicht hat. Es ist ein seltsames Zwischending von Vertrautem und Fremdem, faszinierend wie eine „Schlittenspur durch den Sommer“. Von dieser ist in einem Gedicht Bengt Emil Johnsons die Rede, das vielleicht nicht zufällig das meist übersetzte dieses Bandes ist.

Inger Christensen hat seit „Poesie der Nachbarn Dänemark“ im Jahr 1988, der ersten Werkstatt dieser Reihe überhaupt (außer ihr waren dabei: Ivan Malinowski, Klaus Rifbjerg, Jørgen Sonne, Pia Tafdrup, sowie Michael Buselmeier, Gregor Laschen, Johann P. Tammen, Ralf Thenior und Peter Urban-Halle) dem Künstlerhaus Edenkoben eine Zuneigung entgegengebracht, die in einigen Gedichten ihren Niederschlag fand. Nach einem Schreibaufenthalt in Edenkoben entstand ihr Essay über die „ordnende Wirkung des Zufalls“, in dem ein kleines Stück dem Ort an der pfälzischen Weinstraße gewidmet ist, der Etymologie des Namens und den Weindrosseln, die von ihr, dieser Etymologie folgend, Paradiesvögel genannt werden. Hier ist auch von der „Altdeutschen Weinstube“ die Rede, in der sie zu Mittag aß. Der Wirt verweigerte die Speisekarte, servierte aber ein hervorragendes Essen. Auf die Frage nach der Bedeutung des Namens Edenkoben, meinte er zuerst:

Es bedeutet nichts, überhaupt nichts.

Irgendwann in den Neunziger Jahren ist der Wirt gestorben. Am Fenster des Lokals in der Luitpoldstraße hing noch lange ein Schild, auf dem in einer geschwungenen Handschrift, einer Art neudeutschem Sürterlin, „Für immer geschlossen!“ geschrieben stand. Jetzt starb Inger Christensen im Januar dieses Jahres.
Daß Wörter zuerst einmal nichts bedeuten, daß sie sich unter der „ordnenden Wirkung des Zufalls“ gruppieren und dann mit der Zeit und unter kreativer Mithilfe des Lesers zu einer Bedeutung finden, ist die Zusammenfassung dessen, was den „Geheimniszustand“ ausmacht, in dem ein Gedicht entsteht und den es auch noch in der Lektüre wieder zu entfalten vermag. Aus dieser Erkenntnis hat Inger Christensen vielleicht jene lyrischen Verfahren entwickelt, die ihr das Etikett „experimentell“ eingebracht haben. Hier liegt aber auch der Streß der Schüler, die mit einem modernen Gedicht konfrontiert werden, oder die Plage des karg entlohnten Übersetzers. Die Werkstatt „Poesie der Nachbarn“ stellt auch insofern ein Experiment dar, als hier unter Bedingungen übersetzt wird, wie sie in der alltäglichen Praxis nicht möglich wären.
Bleibt nachzutragen, daß die sprachliche Konsequenz und poetische Kühnheit der in diesem Band vertretenen Dichterin Aase Berg unlängst mit dem international renommierten Norbert C. Kaser Preis belohnt wurde.

Literatur:
Inger Christensen: Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod. Essays. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. München, Hanser, 1999
Gregor Laschen: Harly Sonne (Hrsg.): Mein Gedicht ist mein Körper. Neue Poesie aus Dänemark. Bremerhaven, edition die horen, 1989

Hans Thill, Vorwort

Eine Art Sinnesorgan

Ich wart auf einen Leser, keiner spürt
tritt in meine gerade Zickzackspur.
Er soll den Mund seiner Viereckigkeit tragen und sechzehn Ohren.

Das wünschte sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Dichter Gunnar Björling, an Jahren der Älteste in einem Grüppchen junger Lyriker, die eine, buchstäblich, unerhörte Sprache sprachen. Unwiderruflich hatte mit ihr die Moderne für die gesamte Dichtung Skandinaviens begonnen. Und unergründlich geblieben ist bis heute die Frische dieser nun bald hundertjährigen Gedichte. Sie wurden am Rand geschrieben, von schwedisch sprechenden Finnländern in den Wäldern Kareliens, sowie in mondänen Tanzcafés, Kneipen und Kinematographentheatern der damals noch jungen Hauptstadt Helsinki. Von Nachbarn – „nachbaur“, „nahewohner“, schwed. grannar, von grända: Gasse, sehr enge Straße –: von Sträßlern im selben Kirchspiel.
Kleine Sprachgemeinschaften entwickeln eine ausgesprochene Form der Hellhörigkeit, ein Spezialorgan für Erscheinungen von außen. Schon gar in einem weiten Land, dort kommen die Dinge von weit her. Auf einer schwedischen Waldlichtung ist Rimbaud ein anderer als in den Ardennen. Vermutlich bilden sich die Fähigkeiten dieses Organs im Innenohr, in Schweden jedenfalls gelten sie einem empfindlichen Gleichgewicht, dem zwischen Offenheit und Integrität. Das dabei Vernommene wird auf dem „Festland“ nicht wahrgenommen, das ist so bedauerlich wie normal. Auch unterscheiden sich ja die Wege, die die Lyrik im Lauf der Moderne beschritten hat, in Schweden nicht grundsätzlich von denen im übrigen Europa. Von einer bestimmten Tonspur soll hier aber die Rede sein. Der Lyriker und Literaturwissenschaftler Kjell Espmark konnte einen der schwedischen Poesie zugrunde liegenden Oberton ausmachen. Das von Europa her vernommene Ahnen, Erkennen, Wahrnehmen der Seele wird konkret, es wird ein Hören-Sagen. Espmark nennt es „Seele Überserten“, Att översätta själen.
Wäre ein Stein nur ein Stein, würden wir dann Stein zu ihm sagen? Es ereignet sich „im Zwischen“, nur darum gibt es Worte, auf der „geraden Zickzackspur“ von einer Sprache in die andere wird eine dritte vernehmbar.
Und unterwegs zwischen Schwedisch und Deutsch, raunen die déjàécoutés. Nennt z.B. der von Baudelaire und dem deutschen Expressionismus beeindruckte Pär Lagerkvist die Angst en risig skog, so hat einen die Musik des Wortes stracks in einen „riesigen“ Wald versetzt (wie treffend!), gnadenlos holt einen das Wörterbuch aber wieder heraus, man findet sich in einer Märchenbuchidylle wieder, dem „Reisigwald“. Im Unterschied zu den teutonischen Gebieten hat der, immer noch seltsam entlegene, Norden die archaische Vorstellungskraft der gemeinsamen Sprache weitgehend bewahrt (auf der Insel Island sogar beinahe unverändert). Dem über/setzenden Gespür steht hierzulande immerhin die lexikalische Poesie Jacob Grimms zur Seite, und die zitiert z.B. zu REISHOLZ u.a.:

armer, wer jetzt auf reisen hindurch musz, ferne der einkehrt auch wer, weib zu erwärmen und kind, auswandert nach reiszholz, hungrig oft und zerlumpt!

Pär Lagerkvists Zeile sagt (dazu):

Ein Reisigwald ist meine Angst
wo blut’ge Vögel schreien.

Das Wort „Seele“ existiert mit kaum verändertem Klang in allen nordischen Sprachen, zurückreichend bis in die Steinschrift der Runen. Herkunft und ursprünglicher Lebenszusammenhang liegen aber im Dunkeln – im übrigen ist schwed. själ lautlich nicht zu unterscheiden von skäl, d.i. Grund, Grundlage. Dunkel, beklemmend, bedrohlich, eng waren in den ersten Jahren der schwedischen Moderne auch aus der Seele aufsteigende Bilder. In Höhen des helllichten Tages wagte sich einzig und allein die Finnlandschwedin Edith Södergran.

Oben in den Wolken sitze ich und singe –
nieder auf die Erde tropft das Quecksilberhohngelächter –
hervor wachsen Kitzelgras und Flieg-in-die-Luft-Blumen.

Und lesend bemerkt ihr junger Kollege Henry Parland:

Dieser verzauberte Garten liegt gleichwohl immer auf Erden, im hellen Licht animalisch intensiven Lebens wird er nie zur spekulativen Vorstellung.

Das dem empfindlichen Gleichgewicht dienende Bindewörtchen „gleichwohl“, schwed. likväl möchte dem Gesagten offenbar Nachdruck verleihen und bringe unversehens zum Vorschein, was die Seele nicht sagen will. Fast von vornherein schwebte die schöne Selbstvergessenheit in Gefahr, zum Bewusstsein zu kommen. Der sanfte Birger Sjöberg, ein Meister anmutiger Ironie, zugehörig der hierzulande kaum bekannten Spezies des schwedischen Troubadours, wusste, dass Unschuld nicht zu retten ist. Trotzig sich dem Reim verpflichtend, probte er den Syntaxaufruhr, Syntaxupproret. (veröffentlicht postum, 1955). Und ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier noch Ragnar Thoursie genannt. Im Jahr seines lyrischen Debüts, 1945 mit dem Band Emaljögat (Das Emailleauge), trat er in den Staatsdienst und leitete bis 1985 das schwedische Arbeitsamt. Sein Beispiel des dichtenden Politikers ist leider allzu rar geblieben. Umso nachhaltiger blieb sein „Denken mit den Augen“, ein Wahrnehmen von Starre und Versteinerung.
Beeindruckt von der Vehemenz weltweiter Proteste und ihrer einigenden Vitalität suchte die nächste Generation nach Möglichkeiten des „aktuellen“ poetischen Ausdrucks. Dabei entstand das Gedicht „Om kriget i Vietnam“, 1965, „Über den Krieg in Vietnam“ von Göran Sonnevi, in deutscher Übersetzung im Band 1984/3 der Zeitschrift die horen – hölderlin träumte / schwedische Lyrik. Es spricht nicht vom Krieg, sondern von den Film- und Fernsehbildern dazu, ohne zu betonen, wie nichts sagend sie sind. „In den letzten 150 Jahren [hatte] in Schweden kein anderes Gedicht eine vergleichbare Sprengkraft“, heißt es im kenntnisreichen Vorwort von Gunnar Harding und Klaus-Jürgen Liedtke. In den siebziger Jahren konnte Sonnevi dann einen Gedichtband von sage und schreibe 400 Seiten veröffentlichen, der 35.000 Mal gekauft wurde, Titel: Det omöjliga (Das Unmögliche). 1937 hörte man im Radio zum ersten Mal „Dagens dikt“, das Gedicht des Tages, damals live aus dem Rathaus, und punkt zwölf Uhr auch bis heute, inzwischen vorher von Schauspielern oder Autoren im Studio aufgenommen. 1973 lasen vierzig Autoren im alten Reichstagsgebäude einen ganzen Tag lang Gedichte, die über Lautsprecher in die Stockholmer City übertragen wurden, eine Aktion, die seither an jedem ersten Sonntag im Mai angeboten wird, wenn auch inzwischen mit weit weniger öffentlicher Resonanz. Gedichte sind auf Plakaten in Bussen und U-Bahnhöfen zu lesen (bis man mitten in der Zeile aus- oder einsteigen muss), sie werden gedruckt, und vor allem! rezensiert. Es gibt staatliche Autorengehälter, statens författarelön, die Vergabekriterien sind immer wieder Gegenstand heftigen Streits, aber es gibt sie, immerhin.
Peter Handke lässt in seinem Drehbuch Falsche Bewegung 1978 einen reichen Mann den Satz sagen:

Ich möchte von der Einsamkeit sprechen. (…) Ich möchte nur noch kurz von der Einsamkeit hier in Deutschland sprechen. Sie scheint mir verborgener und zugleich schmerzhafter zu sein als anderswo. Verantwortlich dafür könnte die Geschichte der Ideen sein, die alle nach Lebenshaltungen suchten, in denen die Überwindung der Angst möglich wäre.

Hat jedes Land eine eigene Einsamkeit? Schweden ist groß, die Winter sind dunkel und kalt, die Menschen leben zum Teil weit verstreut, und über Jahrhunderte waren sie bitterarm. Das poetische Sprechen über Einsamkeit und andere Angelegenheiten der Seele wird Mitte des vorigen Jahrhunderts allenthalben, hier wie dort, zunehmend als „gekünstelt“ empfunden. Reim, gebundener Vers, Wortschöpfung, Metapher, narrativer, überhaupt vermittelnder Ansatz und andere „Wasserzeichen“ nehmen die Poesie nicht mehr in Schutz. Seit dem Stoßseufzer Gunnar Björlings sind knapp hundert Jahre vergangen, und kein Buchstabe steht mehr auf dem anderen, jedenfalls nicht ohne weiteres.
Jedes Wort steht jetzt in seiner Blöße da. Und es weiß es.

*

Seit über vierzig Jahren schreibt Björn Håkanson Gedichte, unablässig. Im Land der ältesten Sozialdemokratie der Welt sind sie auf dem Hintergrund einer Tradition zu lesen, die sich dort bewährt hat: Politik ist eine höchst praktische Angelegenheit, insofern eine höchstpersönliche. Dass sich zwischen Beidem eine unüberbrückbare Kluft auftun kann, hat die Geschichte unmissverständlich gelehrt. Björn Håkansons Gedichte wollen diese Kluft nicht überbrücken, sie sind vielmehr eine Chronik der Veränderlichkeiten im Denken und Fühlen. Seine Titel wirken wie Bildlegenden des Weges auf einer „geraden Zickzackspur“: Mot centrum, 1963 (Ins Zentrum); Fronter i Tredje Världskriget, 1975 (Fronten im Dritten Weltkrieg); Nyheter från Evigheten, 1985 (Nachrichten aus der Ewigkeit); Utom tävlan, 2002 (Außer Wettbewerb) – um nur einige zu nennen. – Gesellschaftliches Engagement entzündet sich an Ereignissen und Zuständen im Land, der dabei entstandene Hitzegrad ist von außen kaum nachvollziehbar, auch wenn täglich und stündlich „informiert“ wird (oder gerade deshalb?). Die Gedichte von Lina Ekdahl reagieren, indem sie sich klein machen. Es gibt das Spiel „was wäre wenn“, schon sind sie da. Schweden ist auch das Land, in dem mit Umsicht und Enthusiasmus ein Wohlfahrtsstaat errichtet wurde, folkshemmet. Im Schwedischen existiert etymologisch ein Zusammenhang zwischen schwed. hem, Zuhause und hemsk, schrecklich. Das vorzeiten schallende Überlebensgelächter des picaro wird bei Lena Ekdahl zum Lächeln, ernst, wie das Pfeifen im Wald. – Bengt Emil Johnson ist der einzige unter den sechs „Edenkobener“ Poeten, von dem schon Übersetzungen ins Deutsche existieren. Vier der insgesamt zwanzig Gedichte, die Johnson mitbrachte, finden sich im erwähnten Band der horen. Sie entstammen einem Zyklus dieses ontologisch bewanderten Musikers und schreiben eine in Schweden alte Tradition fort: die des Naturgedichts. Allerdings auf auch dort ungewöhnliche Weise. Johnson widmet sich einem Vorgang, der natürlicher nicht sein kann, dem Verwesen – und das ist Vergessen. 2007 erschien dann bei Droschl in Graz Elchhzeit, ausgewählt und übersetzt von Lukas Dettwiler, „32 Arten Elstern zu betrachten oder von ihnen betrachtet zu werden“ vermitteln hier einen Eindruck von der Heftigkeit der Liebesbeziehung eines Schweden zur Natur. – Die Oeconimische Encyclopädie von Johann Georg Kruenitz aus dem Jahre 1888 verzeichnet einen rettenden Ausweg, den Natur mehrmals gefunden hat und vor dem man erschrickt:

Lithopaedion, gr. (Steinkind) ist der Kunstname für ein Kind, das mehrere Jahre im Mutterleib geblieben, und in eine verhärtete Masse übergangen ist.

Bei Mara Lee tritt es im Gedicht in Erscheinung, als dessen hermetische Form. Oder das Versmaß der sapphischen Strophe verhüllt die stolz herausfordernd vorgeschobene Hüfte eines Mannequins. Beim Vortrag in Edenkoben und Mainz saß Mara Lee nicht, sondern sie stand, mit erhobenem Kopf, entblößter Kehle. In ihren Gedichten ist die Würde des Menschen, weil sie antastbar ist. – Ann Jäderlund horcht Gehörtem nach, auch Gesehenem und Gelesenem, und ihre Gedichte sind bewegt von lat. intimus, Innerstem. „Interpretationen verringern die Dichtung, versperren die Öffnungen, die das Gedicht herstellen möchte. Zugleich ist es für mich ja interessant, dass man sich in dieser Welt Küsse ohne Erotik anscheinend nicht vorstellen kann“, sagt sie in einem ihrer seltenen Interviews, anlässlich der Zuerkennung des bedeutendsten schwedischen Literaturpreises, Dem Nios stora pris (Der große Preis der Neun), 2003. Ihre Gedichte sind ein „Spiel mit dem Unausgesprochenen“ (Lars Gustafsson über Gunnar Björling). Ann Jäderlund:

Es wäre so schön gewesen, wenn man ihm begegnet wäre!

Ein interessantes Gebiet, von dem nicht gesprochen werde, sagt sie, sei der große Unterschied zwischen Schreiben und Lesen. Und ihr Gesprächspartner Anders Olsson meint: „Bei dir, kommt mir vor, wird die Sprache fast eine Art Sinnesorgan.“ – Der beschwörend wirkende Rhythmus des Schwedischen neigt zum Trochäus, dá-dit- dá-die- dá-dit. Ihn nutzt Aase Berg für ein Wesenselement ihrer Poesie, den Klang. Am Anfang standen Prosagedichte, und es scheint, als habe sie zur Recherche dafür ein umgedrehtes Fernrohr vors Auge gehalten. Man gelangt in seltsam entrückte Welten, wie im Traum, und hört doch die überaus poetische Sprache der Wissenschaft, etwa zu Phänomenen der Kristallographie oder der Himmelsoptik. Über/setzen wird zum browsen (engl. schmökern), bald findet man sich auf einer Bohrinsel wieder, dann im Spektrum des Regenbogens oder am Ufer eines Erdstroms. Es sind mythische Gedichte (falls es das gibt), sie erinnern daran, dass die Erde lebt. 2002 erfolgte, scheinbar, ein Bruch. Die seitdem veröffentlichten kleinen Klangfiguren (Wahrig: Figuren, die entstehen, wenn man eine mit Sand bestreute, in einem Punkt gestützte Platte durch Schlagen od. Anstreichen mit dem Geigenbogen in Schwingungen versetzt) stellten Rezensenten in die Nähe des Sprachmaterialismus. Dabei geht Aase Berg den einmal eingeschlagenen Weg mit radikaler Konsequenz weiter. Sie hat nur das Fernrohr umgedreht, und was sich zeigt, sind, wie Daniel Sjölin in einem Aufsatz sagt, „kleinste Partikel der Welt – das Zittern der strings – die deutlich machen, dass Materie Musik ist und Musik Sprache und Sprache Materie… “

Literatur:
Kjell Espmark: Själen i bild. En huvudlinje i modern Svensk poesi. Stockholm, 1977
Lars Gustafsson: Strandhugg i Svensk poesi. Femton diktanalyser. Stockholm, 1977
Madelaine Grive u. Claes Wahlin: Att skriva sin tid. Nedslag i 80- ach 90-talet. Stockholm, 1993
Dem Nio. Litterär kalender 2003. Stockholm, 2003
Peter von Polenz: Geschichte der deutschen Sprache. Berlin, 1970

Renate Bleibtreu, Nachwort

 

Über dieses Buch

Gedichte von Aase Berg, Lina Ekdahl, Björn Håkanson, Ann Jäderlund, Bengt Emil Johnson, Mara Lee. Übersetzt von Thomas Böhme, Nora Bossong, Oswald Egger, Ursula Krechel, Johann P. Tammen, Hans Thill. Bei den Deutschen galten die Schweden schon immer als bodenständig und realistisch. Ein Volk mit viel Sinn fürs Soziale, das es sich im Sommer auf den Inseln gut gehen läßt und im Winter der Melancholie verfällt. Für den Fernsehzuschauer scheinen die Schweden neuerdings ein Volk der verdrossenen Kommissare zu sein, das Land eine dunkle Insel, auf der das Verbrechen lauert. Großartige Gedichte von moderner Eleganz entdeckt der Leser dagegen in dieser Anthologie der zeitgenössischen schwedischen Lyrik. Nach Interlinearversionen und mit einem Nachwort von Renate Bleibtreu.

Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung

 

Informationsseite für Poesie der Nachbarn

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Hans Thill

 

Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.

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