Hermann Kunisch: Zu Gottfried Benns Gedicht „Von Bremens Schwesterstadt bis Sils Maria“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Von Bremens Schwesterstadt bis Sils Maria“ aus dem Gedichtband  Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Von Bremens Schwesterstadt bis Sils Maria

von Bremens Schwesterstadt
bis Sils Maria −
ich hab das Alles satt,
die Vita mia,

weiß Gott, ich weiß nicht mehr,
was ich geschrieben,
ein Zug von d’outremer
hat mich getrieben,

doch jetzt kein Hafenglück,
man kehrt nicht wieder,
man sieht aufs Meer zurück
und senkt die Lider.

 

Schmerzliches Bekenntnis

Keins der „abgeschlossenen, hinterlassungsfähigen Gebilde“, denen Benn zumutete, „Immortalität“ über „versunkenen Metropolen und zerfallenden Imperien“ zu verwirklichen, keines jener „artistischen“ Gedichte, dir „innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt erleben“. Ein Briefgedicht: also Mitteilung, Bekenntnis als Inhalt, am 22. Februar 1951 an den Bremer Gönner und Vertrauten Wilhelm Oelze ohne jeden weiteren Zusatz geschickt.
In dem Ausdruck der Resignation, des Überdrusses an Leben und Arbeit ist dieses Gedicht verwandt mit den Versen der voraufgehenden Jahre: „Zerrissenheit, Unsicherheit, ja Haltlosigkeit… nur problematisch u. fragmentarisch“. Sie erschienen als Fragmente 1951 in einem schmalen Heft. Warum es in keine seiner Gedichtsammlungen, auch nicht in die endgültige Ausgabe der Gedichte von 1956 aufgenommen wurde, ist schwer zu entscheiden. Vielleicht weil Benn sich seiner nicht mehr erinnerte (es besteht keine zweite Abschrift), vielleicht auch, weil er es für zu augenblicklich, zu wenig durchgeformt hielt. Aber es ist dennoch anziehend und von reizvoller Eigenart: ein unvergeßlicher Klang bleibt einem im Ohr schon nach dem ersten Lesen; bezaubernd der kaum merkliche Übergang von dem nonchalanten Parlando der ersten Zeilen in den dunklen Verzicht des Schlusses.
Was ist das? Augenblickliche Mitteilung seiner Not einem Eingeweihten gegenüber; ein der Öffentlichkeit verborgen bleibender Widerruf des sonst gegen eigene und fremde Infragestellung behaupteten Glaubens an das Überstehen aller Zweideutigkeit des persönlichen und geschichtlichen Daseins in der „letzten Transzendenz innerhalb des großen europäischen Nichts“, als welche die Kunst ist, die „Artistik“.
Unartistisch, ganz persönlich die Anfangszeilen mit der noblen Geste dem Bremer Freund gegenüber, wenn er Berlin „Bremens Schwesterstadt“ nennt. Dann die berlinisch saloppe Absage an sein bisheriges Dasein und Arbeiten: „Ich hab das Alles satt, die Vita mia“. Er will das alles nicht mehr wahrhaben: von Berlin bis Sils Maria, von Benn bis Nietzsche, das heißt, sein Schreiben und Dichten, das von dem „Artisten-Evangelium“ Nietzsches, dem „Olymp des Scheins“, dem Primat der Form vor dem Inhalt bestimmt war. Dieses Eingeständnis widerruft sein bisheriges Werk und die Sicherheit, die ihm einmal aus dem Vermächtnis des Einsamen von Sils Maria gekommen war, den Gewinn langer Jahre, den Glauben an die Kunst, die aus ihm erwachsenen bleibenden Gebilde, die „Statuen“, in denen die Saat unendlicher Mühsal („Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.“) endgültig geborgen ist.
Unser Gedicht ist die bittere Verleugnung dessen, von dem er im letzten weiß, daß es dennoch bestehenbleibt, und daß er es wird nicht aufgeben können. Der Grund für solche sich selbst widerlegende Absage an das ihm Eigenste, die Kunst, war die Furcht, die sein ganzes Leben bis in das schwere Ende bestimmte: er würde sich einmal begnügen, der Härte, dem Dunkel ausweichen, ein „Hafenglück“ suchen, „aus seiner Mördergrube ein Herz machen“, nachdem er ein Leben lang „aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht“ habe. So lautet eines seiner letzten Worte.
Was er im Augenblick dieses Gedichts noch für möglich hält, ist die trauernde Rückwendung zu dem d’outremer, dem Drüben, aus dem der Trieb zum Gestalten gekommen war, und das müde Senken der Lider. Nichts mehr; kein Glück, kein „Glaube an Form und Tat“. Schmerzliches Bekenntnis eines großen Künstlers, dessen unabweislicher Drang zum Gestalten des Bleibenden immer wieder in Zweifel und Trauer mündet: „Ich sehe in ein fernes Land, wo die Schatten weinen.“

Hermann Kunisch aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00