Joachim Sartorius: Zu Günter Eichs Gedicht „Briefstelle“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Briefstelle“ aus Günter Eich: Sämtliche Gedichte in einem Band. 

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Briefstelle

Keins von den Büchern werde ich lesen.

Ich erinnere mich
an die strohumflochtenen Stämme,
an die ungebrannten Ziegeln in den Regalen.
Der Schmerz bleibt und die Bilder gehen.

Mein Alter will ich in der grünen Dämmerung
des Weins verbringen,
ohne Gespräch. Die Zinnteller knistern.

Beug dich über den Tisch. Im Schatten
vergilbt die Karte von Portugal.

 

Leiser Ausbruch von Verweigerung

Was ist Hoffnung? Letztendlich Auflehnung gegen die Verzweiflung. Wer behauptet, daß man ohne Hoffnung nicht leben könne, der behauptet ganz einfach, daß man ohne fortwährende Auflehnung nicht leben kann. Der in diesem Gedicht zu uns spricht, hat die Auflehnung verlernt. Es ist ein Gedicht der Erinnerung, der Enttäuschung, des milden Alterstrotzes, der Verweigerung. Der Briefschreiber will kein Buch mehr lesen. Keine Gespräche will er mehr führen. Was er bisher gemacht hat in seinem Leben, was er erreicht und verfehlt haben mag, bleibt unklar.
Dieses Gedicht steht in Günter Eichs drittem, 1955 erschienenem Gedichtband Botschaften des Regens, der ihn über Nacht sehr bekannt machte. Er galt ab diesem Buch als Hermetiker, als Reduktionist. Auch dieser Text ist kein Brief, sondern nur eine „Briefstelle“. Der Adressat des Briefes wurde gekappt, wir kennen ihn nicht. Womöglich spricht der Dichter nur mit sich selbst, und wir haben es mit einem – existentialistisch gefärbten – Selbstgespräch zu tun. Der schreibt, erteilt der Orientierung, der Aufklärung eine Absage. Für Orientierung steht die Landkarte, ein häufiges Motiv bei Eich. „Portugal“ ist eine Sehnsuchtschiffre, wie „Palau“ bei Gottfried Benn. Der Assoziationskranz von „Portugal“ ist groß: Westen, Atlantik, Schiffe, Sonne. Aber die Karte liegt „im Schatten“. Sie „vergilbt“, bietet also keine Orientierung mehr.
Im Werk von Günter Eich gab es nie sehr viel Hoffnung. Er hat stets aus einer Grunddisposition der Schwermut und der Trauer geschrieben, die sich im Alter noch radikalisierte. Auch in diesem Gedicht sind alle Dinge einem Code der Trauer unterworfen – Dämmerung, Brüchigkeit des Zinns, vergilbtes Papier, das Knistern feinster Risse im Material. „Der Schmerz bleibt und die Bilder gehen“ ist wohl die zentrale Aussage dieses Selbstgesprächs. Sie steht fast etwas isoliert in diesem Gedichtband, der in den meisten Gedichten noch von jenem naturmagischen Denken ausgeht, das Eichs frühes und mittleres Schaffen charakterisiert. In einer ihm eigenen Vorstellung vom Wesen Gottes glaubte Günter Eich in der Nachfolge der Romantiker, daß die Wirklichkeit spreche, in Zeichen lesbar und über „Zauberworte“ erreichbar sei. Die Natur, ein magischer Erfahrungsraum, war ihm voller Zeichen für Signaturen, das Ding auch ohne menschliche Sprache da. Daß die Zinnteller knistern, ist ein Hinweis auf dieses Denken. Doch scheint dieser Glauben geschwächt, die Hoffnung abhanden zu kommen. Sinnbild dafür sind die Ziegel, die ungebrannt in den Regalen stehen. Sie wurden nicht genutzt, dienten nicht zur Errichtung eines Bauwerks. Sie gleichen nicht gelesenen Büchern. Der Briefschreiber erinnert sich auch an Stämme, die mit Stroh umwunden sind, was sie gegen die Winterkälte schützt, sie aber zugleich unter einer anderen Schicht verschwinden läßt und unlesbar macht. Die Bilder gehen. Der unbequeme homo religiosus, der Eich gewesen war, wird zum verzweifelten Verweigerer. So nimmt dieses Gedicht den späteren Eich vorweg, vor allem seine brisante Büchner-Preis-Rede von 1959, in der er warnte, daß auch die engagierteste Wirklichkeitssuche des Dichters gesellschaftlich instrumentalisiert werde und nur der Rückzug auf die Position der Verweigerung bleibe.
So können wir das Gedicht lesen. Aber wie so oft bei Günter Eich versteckt sich unter dem hermetischen Gewand ein autobiographisches Gedicht. Sein Vater hatte in Lebus an der Oder, Eichs Geburtsort, 1907 eine Ziegelei gepachtet. In dem späteren Gedicht „Ziegeleien zwischen 1900 und 1910“ – in dem Band Anlässe und Steingärten (1966) – evoziert Eich in strenger Verknappung Erinnerungen an seine Kindheit in der Mark Brandenburg, wo sein Vater nacheinander mehrere Ziegeleien nicht sehr erfolgreich betrieb. Er spricht in jenem Gedicht vom „Ziegel, der klingend wird“ und holt die Magie der Dinge noch einmal zurück. Auch in der „Briefstelle“ bettet er Erinnerungen – an die Bäume, an die ungebrannten Ziegeln in den Regalen – in einen Kontext von Reduktion und Negation, eine Vorgehensweise, die wir auch von Paul Celan kennen, der Autobiographisches so tief, so lange in seine Texte hineingewoben hat, bis es unkenntlich wurde. Bemerkenswert ist auch, daß Günter Eich wenige Monate nach Beendigung dieses Gedichts und seiner Veröffentlichung in Botschaften des Regens im Oktober 1955 mit seiner Familie nach Portugal reiste. Erst im Dezember kehren die Eichs nach Österreich zurück. „Die Karte von Portugal“ war also wohl Anlaß von Reiseplänen gewesen, diente ganz konkret als Sehnsuchtschiffre, wurde aber schon vor Reiseantritt in das Säurebad der Hoffnungslosigkeit getaucht. So läßt sich – auf dieser Ebene – das Gedicht auch als eine sehr persönlich gefärbte Bemühung lesen, den eigenen Standort zu bestimmen.
Der Naturdichter hat in diesem Brief-Gedicht bereits abgedankt. Die Hoffnung nimmt ab, die Verzweiflung zu. Ein Grübelnder, ein Einsamer spricht dem Wein zu und kündigt an, sich in dessen grüner Dämmerung zu verlieren.

Joachim Sartoriusaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007

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