Jörg Drews (Hrsg.): Das bleibt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jörg Drews (Hrsg.): Das bleibt

Drews (Hrsg.)-Das bleibt

GESICHT IM PFLAUMENSCHEIN

der stahlummantelung ent-täuscht
verbarrikadiert sich die sonne
hinterm asbestplatten barakkendach
hetzt sie zum „Volkssturm“ auf
verendet in letzten aufgeboten
; johlende heerscharen der LUne
die sich zZ als pflaume gebärdet
überantworten’s marine sich selbst
mir grünt saulieb ein todestrieb
woher die erde sich denn dreht
(bleibt mein ARKANUM)
ist mir ohnehin inzwischensicht
indessen mithinnahme zu sauer
ist bewußtsein nur angesichts
des todes & davon durchdrungen
leben uns sterben & sterben
geburtssprúng durch den todt
wenn’s drauf ankommt – „’s kommt!“

Bert Papenfuß

 

 

 

Nachwort

„Wir wissen nichts vom Gedicht“, schreibt Gerhard Falkner; „nach erstaunlich vielen geistreichen Einkreisungsversuchen, auch in neuerer Zeit, ist es noch immer nicht dingfest gemacht und im engeren Bereich nur ein Konsens, der sofort in andere literarische Gattungen stark ausfranst.“ Aber selbst wenn man geneigt ist, Falkners lustvoll melancholischem Eingeständnis der immer sich erneuernden Ungreifbarkeit und Uneingrenzbarkeit des Phänomens Gedicht beizustimmen, vollzieht sich doch unser Umgang mit Gedichten in der Praxis ganz anders. Wir kennen die Komplexität des Gedichts, kennen die Wandelbarkeit unserer Einstellung zu vielen Gedichten, kommen unseren geschmacklichen und stimmungsbedingten Schwächen für bestimmte Gedichte und ganze Richtungen der Lyrik auf die Spur und äußern dennoch dezidierte Meinungen zu Gedichten, haben Evidenzen bezüglich der Bedeutung und des Rangs von Gedichten, fällen Urteile und machen uns ein Bild von der Lyrik ganzer Epochen, auch unserer eigenen. Gewiß denken wir nicht mehr in so pampig ewigkeitshörigen Kategorien wie der des ,Meisterwerks‘, aber da wir doch nicht in der Beliebigkeit landen wollen, halten wir mit guten Gründen daran fest daß es große Gedichte gibt – und im Unterschied dazu auch kleine, schwache, kunstgewerbliche, modische, harmlose, die wir durchaus erkennen können. Schwieriger wird’s höchstens, wenn, wie Falkner schreibt, man auf ein Gedicht stößt, das „alles“ hat, „es ist zeitgemäß, meistert die Form, beherrscht seine Mittel. erreicht sogar eine gewisse Kühnheit und ist doch nur das, was dasteht“; aber es macht ja vielleicht sogar die Lust des Lyriklesers aus zu wissen, daß er sich nicht, wie bei erzählender Prosa, notfalls auf Inhalte zurückziehen kann, sondern gewissermaßen gefährdeter liest, in seinen Urteilen sich stärker exponiert und exponieren muß. Und wer den Wunsch sich bewahrt hat, Distanz von Tagesmoden zu halten oder zu gewinnen, wird zumindest sich selbst immer wieder Rechenschaft zu legen versuchen, was aus dem Lektüretreiben vieler Jahre übrigbleibt, übrigbleiben soll.
Heinrich Vormweg hat vor kurzem den Vorschlag gemacht, auf die offenbar keineswegs abnehmende Menge des lyrisch Produzierten und Publizierten nicht mit elitärem Ärger darüber zu reagieren, daß hinter den „Lyrifizierungsversuchen von ,Wirklichkeit‘“ in ihrer erkennbaren Uniformität am Ende gar keine wirklichen individuellen Autoren stehen, sondern, wie Matthias Politicki schreibt. „bloß ein einziger Autor – ein geschickter Bastler, der sich verschiedenartiger Methoden des Kunsthandwerks bedient“. Vormweg plädiert vielmehr angesichts dieser Lage fürs „Lesen vieler, immer anderer Gedichte nicht auf der Suche nach einem vermeintlich ,großen‘ Gedicht, sondern nach den ungezählten Brechungen erfahrener Realität in der lyrischen Sprache.“ So menschenfreundlich der Vorschlag klingt und so notwendig solche Praxis auch sein mag, wenn man sprachsoziologische Einsichten in die alltägliche Dispersion lyrischer Sprache gewinnen will – es ist ein Vorschlag, der impliziert, daß „große“ Lyrik ohnehin nicht mehr existiert oder gar keine sinnvolle Kategorie mehr ist und es vielmehr darauf ankomme oder interessanter sei, in gut demokratischer Manier zu beachten, wie der lyrische Mann-auf-der-Straße dem lyriksprachlich Vorhandenen seine kleine Nuance abgewinne, nicht in einem ,schöpferischen‘ Sinne – daß er nämlich dem Vorhandenen etwas Neues, gar etwas Großes hinzufüge −, sondern in dem Sinn, daß er das Recht hat, eine erfahrene Realität (über deren Charakter anscheinend von vornherein Konsens besteht) in der gerade allgemein angesagten Sprache auch ein wenig zu brechen.
Dann wären allerdings beim Lesen von Gedichten nur noch Lyrikmoden ersten Grades in ihrer Verdünnung zu Moden zweiten und dritten Grades, zweiten und dritten Ranges nachzuverfolgen und als politisch-alltagskulturelle Phänomene zu registrieren; es handelte sich dann bei Gedichten nur um Dokumente quasi-lyrisch ausgedrückter Bewußtseinslagen der Allgemeinheit, und daß dem nachzugehen Pflicht eines Chronisten des Bewußtseinwandels sein könnte, ist nicht zu bestreiten. Man kann dem nur einen emphatischen Begriff von Lyrik gegenüberstellen und darauf hinweisen, daß die Einebnung bzw. das Sich-gleichgültig-Machen gegenüber allen Unterschieden zwischen weitverbreitetem lyrischem Geschreibsel und Lyrik eine politische und keine literarischästhetische Entscheidung ist.
Die vorstehende Auswahl deutscher Gedichte – es sei wiederholt, daß sich das Adjektiv „deutsch“ hier allein auf die Sprache bezieht, in der die Gedichte geschrieben sind, im Sinne des Satzes von H.C. Artmann: „Ich bin Österreicher und ein deutscher Dichter“ – geht von der Voraussetzung aus, daß es bedeutsame Unterschiede in der Qualität von Gedichten als Erfahrung von Lesern gibt und als regulative Idee, trotz aller Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Rangs von Gedichten, geben muß. Wahrscheinlich ist (oder wäre) es außerdem sogar der Selbsterkenntnis von Gedichtschreibern zur Selbstaussprache, Selbstverwirklichung und Freizeitbeschäftigung dienlicher, den Unterschied zwischen Gedichten als Teil der Meinungsfreiheit und der Freizeitfreiheiten einerseits und Gedichten andererseits zu erfahren, die im Rahmen einer inzwischen komplexen und hochdifferenzierten, vor bestimmten historischen und ästhetischen Ereignissen sich verantwortenden und daran sich messenden Disziplin entstanden sind. So reizvoll und in vieler Hinsicht aussagekräftig es auch sein könnte, dem Vormwegschen Vorschlag folgend auch die deutsche Lyrik von 1945 bis heute unter dem Aspekt einer lyrischen Sprache als in große gesellschaftliche Breite sich ausdehnendes gesunkenes Kulturgut und als Sammlung von Zeugnissen der Geschmacks- und Bewußtseinsgeschichte zu verfolgen, so wenig kann einem aber als Leser und Literaturkritiker damit das Recht genommen sein, etwa herausgefordert von dem Datum 1995 und dem nahenden Ende des Jahrhunderts, sich die Frage zu stellen, was – bei gegebener Bedingung eines beschränkten Umfangs einer solchen Sammlung – an deutscher Lyrik der fünfzig Jahre seit der deutschen Kapitulation und Befreiung bzw. der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jenseits des Historisch-Dokumentarischen und anderer Bedingtheiten zu bleiben verdiene, da es zeige, wie diese Lyrik den Bereich des Sagbaren erweitert, die Formensprache deutscher Lyrik bereichert und Phänomenen des inneren wie des äußeren Lebens sich zu stellen vermochte, die neue, vorher nie gekannte Voraussetzungen waren für die Entwicklung der Lyrik. Die Frage ist, ob sich annäherungsweise ein Korpus von deutschen Gedichten zusammenstellen ließe, das nicht nur allerlei Strömungen der deutschen Nachkriegslyrik, die Breite ihrer Möglichkeiten erkennen ließe, sondern das die spezifische Leistung dieser Lyrik angesichts der Aufgabe und der Bedingungen seit 1945 zeigte. Diese „Leistung“ bestünde dann darin, unter verantwortlichem Rückgriff und in Fortsetzung der mehr oder weniger etablierten lyrischen Sprache oder in der Entwicklung neuer Sprechweisen nicht einfach neue „erfahrene Realität“ dichterisch ,gebrochen‘, sondern sie überhaupt erst adäquat – und das würde auch heißen: eben nicht epigonal – benannt und erfahrbar gemacht zu haben. Eine Lyrikanthologie aus der Produktion eines bestimmten Zeitraums so zusammenzustellen, daß nicht „nur wieder ein buntes Lesebuch mehr“ entstehe, ist immer wieder da versucht worden, wo der Zusammenstellende nicht nur einen Zeitraum – „die zwanziger Jahre“, die „sechziger Jahre“ o.ä. – in ,typischen‘ Gedichten repräsentieren wollte, sondern eine entschiedene Fragestellung hatte. Walter Höllerers Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte will 1955 das lyrische Signum eines ganz bestimmten Augenblicks vorführen, eines Augenblicks in der deutschen Lyrikenentwicklung; Hans Magnus Enzenberger setzt 1960 in seinem Museum der modernen Poesie gewissermaßen den Schlußstein in die deutsche Rezeption jener internationalen Entwicklung der modernen Poesie, von der Deutschland bis weit in die Nachkriegsjahre hinein abgeschlossen war, und mit Walter Höllerers, Franz Mons und Manfred de la Mottes Sammlung movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur tauchten 1960 zum ersten Mal in Deutschland in größerem Umfang experimentelle Texte in einer Anthologie auf, die überdies mehr eine gegenwärtige, mit Enthusiasmus begrüßte Bewegung als eine vergangene Kunstphase dokumentierte. Keiner der Bände hatte übrigens kanonisierende Absichten, obwohl Enzensbergers Museum ein Stück weit eine solche Wirkung hatte, indem das Buch – und sei’s auch unfreiwillig – festschrieb, was unter der (klassischen) internationalen lyrischen Moderne zu verstehen sei. Erinnern wir schließlich, um uns vor Augen zu halten, wie Sammlungen aussehen können, die über die Verzeichnung des Historisch-Zeittypischen hinaus wollen, an zwei Extreme, an Franz Mons und Helmut Heissenbüttels Antianthologie. Gedichte in deutscher Sprache nach der Zahl ihrer Wörter geordnet von 1973 und an Rudolf Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie von 1926. Mon und Heissenbüttel stellen einen quantitativen, quasi-technischen Aspekt in den Vordergrund und ordnen die deutsche Lyrik der Vergangenheit nach einem an der experimentellen Poesie des 20. Jahrhunderts gewonnenen Prinzip: Welche lyrische Prägung und Verwendung erfährt eine Wort-Menge zu unterschiedlichen Zeitpunkten? Stellen sich für Gedichte gleicher Wort-Menge ungeachtet des Zeitpunkts ihrer Entstehung ähnliche strukturelle Probleme? Rudolf Borchardt hatte eine so bestimmte Vorstellung von einem die gesamte deutsche Lyrik durchherrschenden geistlichen Unterstrom sowie eine an den blanken Schrecken grenzende Abneigung gegen das die deutsche Poesie des 19. Jahrhunderts prägende Epigonentum bei gleichzeitigem Verfall dessen, was er unter „Formen“ verstand, daß er von da her zu bestimmen versuchte, welcher vorbildliche Vorrat zu Beginn des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts zu bilden sei, und so fragwürdig die Vision ist, die er um einer von ihm entworfenen poetischen und kulturellen Zukunft willen der deutschen Lyrik der Vergangenheit aufprägt, so konsistent und willensstark ist sie doch.
Borchardt kann einen bei der Konzeption einer Sammlung deutscher Lyrik der letzten fünfzig Jahre jedenfalls darin bestärken, daß weder Bekanntheit des Gebotenen noch Vollständigkeit hierbei angezeigt sein dürfen. Verbindet man eine solche Auswahl mit dem Kriterium der sprachästhetischen Leistung, dessen, was auf Englisch „achievement“ heißen würde, und mit der unbedingten Forderung und Überzeugung, daß es eine Adäquanz von neuen Themen und Erfahrungen zu einer neuen lyrischen Sprache gibt und daß daher jenseits aller Fetischisierung des Wertes der ,Neuheit‘, der ,Innovation‘ eine neue oder doch – an Indizien ihres Gebrauchs erkennbar – eine durch Reflexion ihrer Verwendung neue Sprache die lyrische Epoche nach 1945 kennzeichnen muß, so ist auf alle Fälle ein Kriterium aufgestellt, welches – wie bestreitbar die ausgewählten Texte auch immer im Einzelfall sich hierzu verhalten – auszuschließen erlaubt, was bloß populär war in den letzten fünfzig Jahren – so sehr es auch zum literarischen Leben gehört haben mag, das ja immer großherziger ist als jene Instanz, die entscheiden müßte, was an Modischem und Gefälligem, an „Normallyrik“ (Herbert Achternbusch) mit der Epoche seiner Popularität auch zu enden verdiente. In diesem Sinne ist die Rolle eines Auswählenden als eines, der sich anmaßt, aus seiner Sammlung auch auszuschließen, eine unbarmherzige; aber schließlich hat jeder Leser die Möglichkeit, in seine Sammlung des Überlebens- und Überliefernswerten das wieder einzuschließen, was ein anderer Anthologist ausschloß. Ein in sich konsequenter Kanon ist für das Nachdenken über Qualitäten von Lyrik überhaupt und über die Gedichte der letzten fünfzig Jahre, die ob ihres Ranges und ihrer Einmaligkeit unbedingt zu dauern verdienten, ohnehin viel anregender als eine Ansammlung, die aus lauter Angst, jemanden vergessen oder irgendetwas auch Bemerkenswertes übersehen zu haben, ins Amorphe zerläuft.
Selbstverständlich würden zur Lyrik der letzten Jahrzehnte, wählten wir unter dem Aspekt des Ausdrucks des uns allen bekannten, öffentlich Wort gewordenen Lebensgefühls aus, unbedingt die Gedichte von Erich Fried und die Lieder von Wolf Biermann gehören; Lyrik als Geschichtsschreibung, als Sammlung zum Beleg von geschmacklichen und politischen Gestimmtheiten, würde selbstverständlich die Verse George Forestiers und Jürgen Theobaldys, Ulla Hahns und Peter Maiwalds einschließen. Elisabeth Langgässers Gedichte müßten dann vertreten sein und jener bisweilen kostbare, bisweilen saloppe Intellektualkitsch, der sich in der Lyrik des späten Benn findet; einiges an wortreich fetzigem, kaum endenkönnendem Gerede Jörg Fausers gehörte hierher wie auch vieles der intelligenten und smart lyrifizierten Gesellschaftskritik Enzensbergers, die seine Gedichte ganz rasch für den Deutschunterricht brauchbar erscheinen ließ. Wer lang genug die deutsche Lyrik nach 1945 nicht nur las, sondern mit ihr lebte, der hatte einmal eine Liebesaffäre mit Benns „Welle der Nacht“ und in den fünfziger Jahren mit Peter Härtlings „Yamin“-Gedichten, in einem bestimmten Moment der sechziger Jahre dann auch mit einigen Liedern Wolf Biermanns. Aber mag die Instanz auch noch so problematisch sein, die erklären dürfte, dies bleibe und jenes nicht – auf den gottverlassenen Anwurf, das alles sei doch eine reine Sache des persönlichen Geschmacks und die vorliegende Auswahl sehr subjektiv, kann man nur antworten, daß ,Geschmack‘ zwar in ästhetischen Dingen eine Realität aber kein Argument ist, da sonst nur noch übrigbliebe, einer Geschmacksbekundung eine andere entgegenzustellen. Es lassen sich mit Gedichten Erfahrungen machen, die mehr als nur Geschmackssache sind und auf die man sich argumentativ durchaus einigen kann, was dann zumindest eine große Anzahl von Entscheidungen über die Qualität von Gedichten aus dem pur Subjektiven heraushält.
Eine der deprimierendsten Erfahrungen beim Wiederlesen der Gedichte vieler Autoren der Zeit nach 1945 – das dürfte aber für die lyrischen Œuvres anderer Zeiträume genauso gelten – ist der Eindruck der Geschwätzigkeit nicht nur vieler Gedichte, sondern auch vieler Autoren. Zahlreiche Autoren haben ihren Ton, ihre Sprechweise, nachdem sie sie einmal gefunden haben, nur gering variiert oder weiterentwickelt, und bei der rückblickenden Lektüre ihrer Werke fällt auf, daß die ,Notwendigkeit‘ ihrer Lyrik oft eher auf eine Art Wiederholungszwang hinausläuft: bei gleichbleibender Sprache werden die Themen ausgetauscht und Innovation, poetische Arbeit und also auch Überraschung des Lesers halten sich in Grenzen. Schreiben gehört auch für die Autoren oft eng zum gelebten Leben, zur Psychohistorie des Individuums, und dann ist das Aufgeschriebene Teil dieses Lebens und damit auch so vergänglich wie dieses. Damit eine Anzahl von Gedichten entsteht, die anderer, haltbarerer Natur sind, muß offenbar viel geschrieben werden, was dann Übung, Selbstvergewisserung und – böse und mit dem unbarmherzigen Blick von außen gesagt – nur Duplikat oder Schlacke ist. Wahrscheinlich sind selbst die größten Autoren nur selten auf der Höhe ihrer selbst und von ihren bewundernswertesten, dichtesten Leistungen her gesehen, in denen Meisterschaft und Glück zusammentraten, haben fast alle Autorinnen und Autoren zu viel geschrieben. Das ist wahrscheinlich der Hintergrund von Gottfried Benns Feststellung, auch große Autoren hinterließen, genau betrachtet, nur sechs bis zwölf „hinterlassungsfähige Gebilde“, was wie das Echo des Alfred Kerr zugeschriebenen Diktums klingt, in den umfänglichsten lyrischen Œuvres stünden höchstens zehn Gedichte von Rang.
Das mag um der Pointe willen übertrieben sein, hat doch der bis zur Mißgunst nüchterne Kritiker Garlieb Merkel 1805 Goethe sogar „ein Viertelhundert gelungene Gedichte“ zuerkennen müssen – aber da ging’s eben um Goethe… „Das Gedicht verdichtet sagt man. Doch was machen, wenn es labert?“ fragt Robert Gernhardt. Oft ist es gar nicht das einzelne Gedicht, das „labert“, sondern der grausame Blick des ein Gedichtwerk in seiner ganzen Masse lesenden Lesers läßt die spannungslosen Gleichförmigkeiten daran deutlicher ans Licht treten. Robert Gernhardt ist übrigens selbst nicht frei davon, auch öfters mal nur witzig zu schwätzeln, aber hat doch an erstaunlich vielen Stellen seines ersten bis zu seinem vorerst letzten Gedichtband vorgeführt. daß gerade er ein Meister strenger Lakonik in der Lyrik der deutschen Gegenwart sein kann, einer ruhigen, mit Metaphern geizenden Wortkargheit, die ihn – unabhängig vom Ideologischen – zum im Moment vielleicht herausragendsten Schüler des Lyrikers Bertolt Brecht macht, zum Meister des fast bis zu Tonlosigkeit abgemagerten ,basic German‘.
Unbedingtheit der Auswahl, keine Relativierung der Auswahl durch Rücksichten und technische Bedingungen – dies wäre das Ideal gewesen für eine Anthologie, die allein auf Qualität der Gedichte, auf maßstabsetzende Radikalität der Texte setzen will. Das ist, zugegebenermaßen, aus verschiedenen Gründen nicht möglich gewesen oder mir selbst als Anspruch in einigen (wenigen) Fällen auch fragwürdig geworden. Bisweilen ist etwa die historische Bedeutung eines Gedichtes so groß, daß seine absolute Bedeutung gar nicht mehr klar feststellbar ist: Ist Günter Eichs „Inventur“ wirklich ein bedeutendes Gedicht oder ist es nur („nur“?) ein sehr treffendes, anrührendes Gedicht, das einen historischen Moment in Deutschlands Geschichte, den Anfangspunkt der Epoche, deren große Gedichte unsere Auswahl versammeln will, festhält? In noch höherem Maße gilt dieses Problem einer Rezeption, die die Erkenntnis der unbedingten Qualität des Gedichts behindert, für Paul Celans „Todesfuge“, die ich für höchst problematisch halte. Aber ehe ich das Gedicht ausschließe, muß ich ihm doch eine von rein sprachästhetischen Argumenten gar nicht mehr erreichbare Wirkung und sogar Größe zubilligen, die ich nur reduzieren möchte dadurch, daß ich „Engführung“ daneben stelle, ein Gedicht, das man als eine Art Selbstkommentar zur lyrischen Verfahrensweise Celans in der „Todesfuge“ lesen kann. Andererseits gibt es auch Gedichte, die ich geneigt war in die Sammlung aufzunehmen, obwohl sie nur eine oder zwei Zeilen haben, die herausragend und einmalig sind, die aber das ganze Gedicht auf eine neue Stufe heben. Robert Gernhardts Gedicht „Dichtermann in Dortmund“ ist zwar nur eine lyrische Plauderei über die Station einer Lesereise, eine eher deprimierende Station, doch dann schwingt sich das Gedicht zu zwei aberwitzigen, wahrhaft unerhörten Schlußzeilen auf: „Dortmund! Bist nicht gerichtet, bist gerettet! / Dortmund! Gebenedeit unter den Städten!“ Und Werner Bergengruen sogar wäre beinahe mit dem Gedicht „Die letzte Epiphanie“ in die Auswahl aufgenommen worden, einem Gedicht, das vielleicht nur groß gedacht und dann schematisch ausgeführt ist, jedoch am Ende Gott der nach dem biblischen „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir“ in vielen Gestalten die Barmherzigkeit der Deutschen auf die Probe stellt, bei der sie versagen, schließlich in einer letzten Gestalt erscheinen läßt: „Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?“ Das hat bedeutendes religiöses Pathos und ist beinahe ein großes geistliches Gedicht aus einem der moralisch trostlosesten Momente Deutschlands, einem Dies irae, wie Bergengruens Gedichtband von 1945 heißt, in dem das Gedicht erstmals stand. Die Schlußzeile reißt dann aber doch nicht das ganze Gedicht in jenen Rang, der es bleibend machen würde.
Beim Zusammenstellen einer Gedichtauswahl treten auch Fragen der Proportion auf, um so stärker wahrscheinlich, je geringer die Zahl der zur Verfügung stehenden Seiten ist. Ernst Jandls Sprechgedicht „bestiarium“ vom Februar 1957 zum Beispiel, veröffentlicht in Laut und Luise, wohl einem der gewichtigsten Bände deutscher Lyrik seit 1945, hätte sehr viel Platz beansprucht innerhalb der vorliegenden Anthologie, und seine Wirkung wäre obendrein noch unsicher gewesen, da dieses Gedicht in besonders hohem Maße darauf angewiesen ist, gesprochen und gehört zu werden. Ähnlich steht es mit Bert Papenfuß’ „krampf-kampf-tanz-saga“ aus dem 1989 in Ost und West erschienenen Gedichtband dreizehntanz; dies ist sicher eines der bemerkenswertesten langen Gedichte der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, hätte aber im vorliegenden Band zu klobig und demonstrativ gewirkt und zu viele andere Gedichte vertrieben. Das Gedicht bleibt aber bemerkenswert, für mich nicht zuletzt auch deshalb, weil es einen der seltenen Fälle darstellt, in denen ein langes Gedicht – als Konzept meist einleuchtender denn als Realität – glückt, entgegen der Diagnose A.C. Bradleys, der ich eigentlich zustimme: „Dichtung [in englischer Sprache: ,poetry‘, also eher Lyrik] ist die Sprache eines Krisenzustandes, und eine Krise ist kurz. Das lange Gedicht ist kunstwidrig.“ Auf eine ganz andere Weise, die mit der Nähe seiner Schreibweisen zur experimentellen Literatur zusammenhängt, erreichen die Gedichte Jan Faktors ihre Länge, und gerade in dieser Länge erst entwickeln sie ihre spezifischen Qualitäten; doch sind auch diese Gedichte Sprechgedichte und hätten wegen ihres Umfangs wiederum sehr ungefüg und sprengend gewirkt. Was dann auch heißt, daß etwa ein großformatiger Band von 600 Seiten für eine Auswahl deutscher Lyrik der letzten fünfzig Jahre ganz andere Texte einschließen könnte – und nicht nur zahlenmäßig mehr.
Gerhard Falkners eingangs zitierte Bemerkung, „Gedicht“ sei etwas, das – gerade in den letzten Jahrzehnten – „in andere literarische Gattungen stark ausfranst“ (vielleicht sollte man genauer sagen: in andere Textsorten und in die Nachbarkünste), stimmt natürlich in besonderem Maße für die Texte der Wiener Gruppe und allgemein der Autoren, für die sich die summarische Behelfsbezeichnung „Experimentelle“ eingebürgert hat. Eugen Gomringers Konkrete Poesie heißt mit gutem Grund nicht Lyrik, aber man kann sie als ganz spezifische Ausformung von Lyrik lesen, jedenfalls vor dem Hintergrund der Entwicklung lyrischen Sprechens in unserem Jahrhundert; ähnliches gilt für manche Texte Helmut Heissenbüttels, für Texte Schuldts und auch Pastiors. Es gehört zum guten Ton, sich über den in seiner Nüchternheit und Neutralität schon wieder preziösen Begriff „Text“ lustig zu machen; der Begriff ist aber auf weite Strecken nur präzise; Heissenbüttels Textbücher (1960 ff.) sind eben nicht Gedichtbände, Franz Mons artikulationen von 1959 nicht einfach ein Lyrikband, obwohl viele der Texte, wie gesagt, in gewissem Sinn eine Erbschaft der Lyrik antreten (nicht die Erbschaft, wohlgemerkt), unter der Voraussetzung einer bestimmten Leseweise dieser Texte. An Texten Schuldts, Oskar Pastiors und Gerhard Rühms, auch etwa an Franz Mons „crna gora“ oder „entwicklung einer frage“ ließen sich Nähe und Unterschiede traditionell lyrischer und stärker von der Sprachmaterialität ausgehender Schreibweisen fruchtbar diskutieren, wobei dann auch zu erörtern wäre, inwiefern Visuelle Poesie unter Umständen zur Lyrik zu rechnen wäre. Für die vorliegende Auswahl habe ich mich entschieden, Visuelle Poesie und Phonetische Poesie – mit Ausnahme zweier dem Lautgedicht nahestehender Gedichte Konrad Bayers, der sonst insgesamt zu schwach in der Auswahl vertreten gewesen wäre – nicht zu berücksichtigen, weil dies ein ganz neues Feld eröffnet hätte; in beiden Fällen wäre übrigens auch die Typographie bzw. die zu verwendende Schrifttype neu zu bedenken gewesen, von der Frage ganz abgesehen, ob nicht auf kleinformatigen Seiten entscheidende visuelle Texte gar nicht adäquat wiedergegeben werden können. Und eine weitere Bedingtheit sei schließlich genannt, eine auf seiten der Leser, auf die doch Rücksicht zu nehmen war: Die Mundartlyrik, die bei H.C. Artmann, Gerhard Rühm und anderen auf große und befreiende Weise aus Biederkeit und Provinzialität heraustrat, hätte so umfangreiche Erläuterungen und Übersetzungen für die des Wienerischen nicht kundigen Leser notwendig gemacht, daß ich sie mit Ausnahme einiger Gedichte Friedrich Achleitners, die zugleich auch wichtig waren für ihre einmalige Lakonik, sowie eines Gedichtes von Konrad Bayer nicht in die Auswahl aufnahm.
„Die Theorie muß man kennen, aber die Sinne müssen über die Theorie sich lustig machen“, den Satz Gerhard Falkners muß man als Lyrikleser und besonders als Organisator einer Anthologie wahrscheinlich selbstironisch dahin variieren, daß man zugibt, wie sich einmal im Lauf der Zeit, zum andern aber noch einmal speziell bei erneuter Lektüre vieler Autoren und bei der Entscheidung über die Auswahl für diesen Band Erfahrungen mit Autoren und ihren Gedichten einstellen, die einem gar nicht in das Bild passen, das man sich von der Entwicklung und den genuinen Möglichkeiten der deutschen Lyrik der letzten fünfzig Jahre machte. Als Kritiker, dessen Vorstellung von Lyrik implizierte, daß die gängige lyrische Übung nach und nach, aber grundsätzlich unwiderruflich abgelöst würde von Schreibweisen und Texten, die den herkömmlichen Lyriker der Ich-Aussprache obsolet machen bzw. ihn als obsolet erweisen würden, muß ich einräumen – und preise dies mit Vergnügen als eine der glücklichsten literarischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte −, daß die Vielfalt legitimer Schreibweisen auch in der Lyrik und in Textsorten, die der Lyrik sehr nahe sind, viel größer geblieben, ja vielleicht sogar wieder viel größer geworden ist als ich zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa um 1970, vermutete. Ohnehin war klar, daß ein mehr oder weniger beliebiger allgemeiner Lyrik-Markt unbehelligt von literaturtheoretischen Problematisierungen der Gattung Lyrik immer weiterbestehen würde und Ulla Hahn e tutti quanti bzw. quante weiter ihre zahlreichen Leser finden würden: natürlich würde der Betrieb sich irgendwie fortwälzen. Aber auch die Zahl der Autorinnen und Autoren, die das Schreiben von Gedichten nicht nur als etwas sehen, was ihnen erlaubt ist, sondern als etwas, das objektive spirituelle Anforderungen an sie stellt, ihnen Verantwortung auferlegt und das in den Bereich der verantwortlichen Arbeit einer intellektuell-ästhetischen Existenz gehört, ist bis heute groß geblieben und die Arten, sich in Sprache der Welt nähern, sie durch sprachliche Eroberungen erst erfahrbar zu machen, beglückend vielfältig.
Um den Satz von Werner Kraft, Franz Kafka sei so einmalig und rätselhaft, daß man sagen könne: Kafka war in der deutschen Literatur nicht vorgesehen, zu variieren: Die Lyrik Ludwig Greves steht in einer Art in der Tradition der deutschen Lyrik, wie ich sie für unmöglich fortsetzbar gehalten hätte; die Lyrik Bert Papenfuß’ scheint mir innerhalb der Lyrik der DDR ein einmalig und überraschend bedeutender Fall zu sein, und, polemisch zugespitzt: selbst die deutsche Literaturkritik, von der Literaturwissenschaft ganz zu schweigen, hat noch keine Ahnung von dem Reichtum, den die Lyrik Helmut Heissenbüttels, Paul Wührs und Reinhard Prießnitz’ dem Vorrat deutscher Poesie gewissermaßen unvorhergesehenerweise eingebracht hat, speziell den Gedichten über den Tod, den politischen Gedichten, der Lyrik zu Auschwitz und der erotischen Lyrik. Spannend wird es übrigens obendrein sein, wenn die Lyrik der DDR nach und nach noch einmal und unter veränderten Bedingungen zur Kenntnis genommen wird; ich vermute, daß gerade in der Lyrik der DDR jenseits ihrer Begrenzungen und Bedingtheiten Sprechweisen gefunden wurden – erkennbar schon von Adolf Endler über Elke Erb bis zu Karl Mickel, um nur einige Beispiele zu nennen −, deren Karat, deren spezifische Leistung und deren Entwicklungsfähigkeit noch gar nicht recht gesehen wurden. In diesem Sinn möchte ich auch Oskar Pastiors Satz „Ich weiß nicht was Lyrik ist“ verstehen, den man zunächst natürlich auf sein eigenes Schreiben beziehen kann: Wüßte er, was Lyrik ist, so könnte er Gedicht um Gedicht hervorbringen, problemlos – schreibend kriegt er es aber eigentlich erst ein Stück weit heraus, und indem er schreibt verändert er selbst den Begriff der Lyrik wieder. Der Satz ist jedoch auch überpersönlich zu lesen: Lyrik verändert sich, indem unerwartete neue Gedichte hinzukommen, die nicht vorgesehen( waren bzw. von uns jedenfalls nicht erwartet wurden, und daher werden wir – um pathetisch weit auszugreifen – erst am Ende aller Tage, nach allen Gedichten wissen, was Lyrik ist. Im Licht von Pastiors Satz könnte ich auch sagen: In die Auswahl des vorliegenden Bandes habe ich Gedichte aufgenommen, die nach 1945 den Begriff und die Möglichkeiten der deutschen Lyrik verändert haben.
Mir scheint, daß es zwei verborgene Fragestellungen, zwei Probleme und Herausforderungen für die Lyriker deutscher Sprache nach 1945 gab und bis heute gibt denen sie sich in irgendeiner Weise stellen mußten, sich auch meist gestellt haben. Wie fragwürdig auch immer einem Adornos berühmter Satz, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch – ein Statement das es übrigens in mehreren, zum Teil revidierten Versionen gibt und das selten differenziert diskutiert wurde −, erscheinen mag, er notiert doch, daß zwar nicht jeder Gedichtschreiber sich jede Minute und bis heute vor Auschwitz zu rechtfertigen hatte oder habe, wenn er ein Gedicht schreibt, daß aber auf eine schwer faßbare Weise das Gedichteschreiben ein Stück seiner Unschuld verloren hat und es bei den verantwortlichen Autorinnen und Autoren der Epoche zumindest einen Stachel in ihrer Selbstgefälligkeit und ihrem unbedenklichen lyrischen Gebrauch der Wörter geben müsse. Ich denke, daß die von Adorno geforderte unbedingte Ökonomie der künstlerischen (und also auch sprachlichen) Mittel etwas mit diesem Ende des unschuldigen kulturellen und insbesondere lyrischen Weiterproduzierens zu tun hat. Das Mißtrauen gegen die Metapher, das sich von der Wiener Gruppe in den fünfziger Jahren über die Konkrete Poesie, Helmut Heissenbüttel in seiner Literaturtheorie und in seinen Texten bis zu Oskar Pastiors Verfahren wie auch in die Ausführungen seiner Frankfurter Poetikvorlesung zieht, steht in einem Zusammenhang mit der von Adorno angemeldeten Empfindlichkeit (um es milde auszudrücken) gegen den ungebrochenen weiteren Umgang mit kulturellen und also auch sprachästhetischen Besitztümern, der es mit sich bringen könnte, daß sich sonst bloße lyrische Draperie, Umsichwerfen mit Ererbtem, Prunken mit Gütern, die einem nicht (oder nicht mehr) legitim gehören, einstellten. Die Eichsche, Krolowsche, Huchelsche „Chiffre“ scheint mir übrigens eine der Schwund- und Spar-Formen der Metapher; H.C. Artmanns geradezu ostentativer, ostentativ vielfältiger Gebrauch lyrischer Bildlichkeit aller möglichen Provenienz ist seinerseits eine Inszenierung der Sehnsucht, es möchte doch noch oder wieder alles in Ordnung sein mit der lyrischen Sprache und dem Dichtertum; die Entwicklung von Paul Celans Werk – von Gedichten wie „Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum“ bis zu den spätesten Gedichten – scheint mir eine konsequente Problematisierung alles dessen, was der große Könner Celan eben nicht mehr einfach glatt und prunkvoll können wollte, und ich halte es für eine zentrale Schwäche der Lyrik von Ingeborg Bachmann, daß sie mit großer dichterischer Pose und erheblicher Sentimentalität einen Reichtum lyrischer Bilder ausstellt, über den sie nicht rechtmäßig verfügt: er ist geborgt und nicht problematisiert, nicht bearbeitet. Hans Magnus Enzensberger aber ist wahrscheinlich gerade da, wo er auf die schick und geschickt gehandhabte lyrische Bildlichkeit seiner gebrauchslyrischen Gedichte der fünfziger und der frühen sechziger Jahre verzichtet, einer bedeutenden Möglichkeit neuer Lyrik und seinen eigenen besten Möglichkeiten am nächsten. Ökonomie der Mittel: Vielleicht kommen einzelne wenige Texte der Konkreten Poesie und der experimentellen Literatur, außerdem einige Gedichte des späten Brecht, ein paar kürzeste Verse Werner Krafts, zwei oder drei Gedichte aus Paul Wührs Band Sage diesem Ideal am radikalsten nahe: Lyrik, die sich selbst das endlos eitle lyrische Plappern ausgetrieben hat. „Ohne Metaphern gäbe es keinen Abgrund unter den Planken, zum Scheitern“: Oskar Pastiors seinerseits abgründiges Diktum benennt die Notwendigkeit der Metapher für die Lyrik und zugleich, daß sie ein trügerischer Halt sein kann. Kommt das gar nicht in den Blick, wird die Frage übersprungen, was aus dem lyrischen Bild geworden sei, so droht ein Bilderreichtum, der hochstaplerische Pose ist, objektive Verlogenheit. Der dies wußte und es dennoch schaffte, noch einmal ein Dichter zu sein, den Dichter auf die sublimste Weise zu spielen, ist wohl wie schon angedeutet. H.C. Artmann, der es verstand, die Sprache nur noch nicht mehr „anders als scheinbar“ zu verwenden. Es bleibt deprimierend, daß bis heute einer der angesehensten deutschen Literatur- und speziell Lyrik-Preise, welcher sich obendrein mit dem Namen Petrarcas schmückt, nicht an H.C. Artmann hat vergeben werden können, von dem als dem Herrscher über alle Köstlichkeiten der deutschen Sprache Oskar Pastior zu Recht sagt: „Artmann ist der Fürst.“
Die Anordnung der Gedichte erfolgt in schnöder Neutralität alphabetisch nach den Namen der Autorinnen und Autoren; innerhalb der Gruppe der von einem Dichter angenommenen Gedichte folgt die Anordnung – soweit dies feststellbar war – dem Entstehungs- bzw. Publikationszeitpunkt. Sowohl eine Anordnung nach dem Geburtsjahr des Autors wie auch allein nach dem Entstehungs- oder Publikationszeitpunkt, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Verfasser, wäre mir ebenso willkürlich erschienen; im Falle einer strikt chronologischen Reihenfolge der Gedichte wäre doch auch der Eindruck aufgekommen, daß das Gedicht eng mit dem historischen Moment, in und zu dem es entstand, in Verbindung gebracht werden solle, was ich eben nicht will; die Zeitmarke ihrer Entstehung sollen die Gedichte idealiter überstiegen haben. Große literarische Leistungen erinnern wir überdies bis heute und trotz aller Theorien vom Tod des Autors, der sich unverwechselbar sogar noch in so scheinbar mechanistischen Schreibweisen bzw. Textarten wie dem Anagramm nachweisen läßt, mit dem Namen eines Autors oder einer Autorin, als Teil eines Individuums, das seine spirituelle wie seine empirische Seite hat.
Seit Hans Magnus Enzensbergers Aufsatz „Die Aporien der Avantgarde“ gehört es zum guten Ton, sich mit abwehrend erhobenen Händen gegen eine solche Dummheit wie die Vorstellung einer künstlerischen Avantgarde zu verwahren; Spott über die Vorstellung, in der Kunst gebe es wie im materiellen Bereich den Fortschritt, und sei es den Fortschritt der Materialbeschreibung, ist in letzter Zeit unter Literaturwissenschaftlern noch verstärkt zur karrierefördernden communis opinio avanciert. Abgesehen davon, daß die Künstler selbst den Avantgarde-Begriff seit vielen Jahren nur sehr sparsam benutzen und daß er andererseits vielleicht in Deutschland und Österreich als Begriff oder als Vorstellung – sei es auch als schlagwortartige Verkürzung – während der Jahre, in denen die Künstler dieser Länder den Anschluß an die internationale Literaturszene und an die literaturrevolutionären Traditionen vor allem Europas vor allem im ersten Drittel unseres Jahrhunderts suchten, als Stichwort und Richtungsangabe für bestimmte Denkweisen und Intentionen ganz brauchbar war, ist selbstverständlich die Vorstellung eines „Fortschritts“ in den Künsten bzw. bezogen auf Abfolgen künstlerischer Werke naiv und problematisch. Aber wenn dieser Spott über den Avantgarde-Begriff von Kritikern kommt, die notfalls und obwohl sie es besser wissen lyrische Modeprodukte beflissen besprechen, wenn ein mächtiger Redakteur es ihnen nahegelegt, und ihnen folgsam etwas Positives abzugewinnen verstehen, dann hat man doch allen Grund, an der Einsicht festzuhalten, daß es auf jeden Fall so etwas gibt wie einen Fortschritt im künstlerischen Problembewußtsein, eine nicht zu vernachlässigende Entwicklung der Einsichten in die Bedingungen des eignen Tuns, unter denen die pure „Materialbeherrschung“ nur ein Aspekt unter mehreren ist.
Festzuhalten ist auch daran, daß eine radikale und radikal selbstkritische Haltung im Umgang mit künstlerischen Mitteln überhaupt, die Einsicht, daß mit technischen und gesellschaftlichen Änderungen auch die Literatur sich ändern muß, wenn sie nicht in feinsinnigem retrograden Trotz verharren und in schöngeistige Harmlosigkeit und Beliebigkeit zurückfallen will, zu den unverzichtbaren Kriterien gehört, wenn Autoren auch heute Literatur nicht nur für den Markt, nicht nur für die Unterhaltung und nicht als pures Ornament schaffen wollen, mit anderen Worten: wenn sie darauf insistieren, daß Dichtung auf komplexe Weise etwas mit Erkenntnis zu tun hat, mit Erkenntnis im Medium des Ästhetischen. Zöge man, schreibt Robert Musil, eine Verbindungslinie zwischen all den Werken, die in diesem Sinn ernsthaft und radikal sind, so „erhielte man als Rand die Grenzkarte unseres Fühlens und Denkens, die Verbindungslinie der Endpunkte aller Wege, wo sie vor dem Nochnichtbegangenen abbrechen.“ Dieser Vorstellung, daß zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt eines „anything goes“, einer ganz offenen und unübersichtlichen künstlerischen und intellektuellen Situation alles geht, aber deshalb noch lange nicht alles kriterienlos, gleich wichtig und wahrhaft gleichgültig ist fühlt sich die vorliegende Auswahl deutscher Gedichte aus den letzten fünfzig Jahren verbunden. Sie setzt darauf, daß am Anfang nicht das gefällige Geschwätz war, sondern das Wort und daß auch am Ende nicht gefälliges Geschwätz gelten wird, sondern das Wort, eine spirituelle Tatsache, an der jeder ,linguistic turn‘ zu nichts zerstäubt, weil es jenseits der Bedingtheit der Sprache die Unbedingtheit des Worts gibt. Joseph Brodsky hielt 1987 in seiner Nobelpreisrede diesen emphatischen Begriff des Dichters – polemisch gesagt: im Gegensatz zum Gedichtschreiber – mit den Worten aufrecht:

Jemand, der ein Gedicht schreibt, tut dies vor allem, weil das Schreiben von Gedichten den Geist, das Denken und das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise beschleunigt. Wer diese Beschleunigung einmal am eigenen Leib erlebt hat, ist nicht länger in der Lage, auf die Chance einer Wiederholung dieses Erlebnisses zu verzichten: er wird abhängig von diesem Schaffensprozeß, so wie andere abhängig werden von Drogen und Alkohol. Wer in dieser Weise abhängig wird von der Sprache, ist das, was man einen Dichter zu nennen pflegt.

Wir Leser von Gedichten sind vielleicht nicht im selben Maße von Gedicht und Sprache abhängig wie Dichter, aber auch wir binden unser Leben an Sprache und haben mit bestimmten Gedichten eben diese Erfahrung gemacht. daß sie „das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise beschleunigen.“ Es sind solche Gedichte, von deren Unsterblichkeit man vielleicht nicht mehr ungebrochen überzeugt sein kann, aber von denen man wünscht und in manchen Momenten sogar zu wissen glaubt, daß sie bleiben.
Die vorstehende Auswahl von Gedichten sei einem Kenner deutscher Lyrik gewidmet, der eine ganz andere Vorstellung von ihr hatte, dessen Ernst und Verpflichtung beim Zusammenstellen seines „Ewigen Vorrats deutscher Poesie“ aber ich liebe und verehre.

Jörg Drews, Nachwort, 10.1.1995

 

Ein halbes Jahrhundert

ist nach dem Ende des zweiten Weltkriegs vergangen – eine Herausforderung, Bilanz zu ziehen in der Lyrik und einen Kanon dessen vorzuschlagen, was an deutscher Lyrik bleibt, bleiben soll. „Deutsch“ meint dabei den Sprachraum.
Für den Herausgeber, den Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler Jörg Drews, geb. 1938, war bei der Auswahl nicht entscheidend, welche Gedichte weit verbreitet waren und aus dem literarischen Leben der letzten fünzig Jahre nicht wegzudenken sind. Vielmehr versucht er, Gedichte von herausragendem poetischen Rang zu versammeln, Gedichte, die jenseits der Moden stehen, Gedichte in denen der Bezirk des Sagbaren erweitert wurde und denen ein Fortleben und Weiterwirken zu wünschen ist. Daher die strenge dieser Auswahl: Nicht was gefiel und gefällig ist, nicht was historisch wichtig ist und zum Nachdenken anregt u.ä., sondern was der deutschen Lyrik neue Sprechmöglichkeiten eröffnete und entschieden Maßstäbe setzte und setzen soll; was also bleibt, enthält diese Anthologie deutscher Lyrik 1945-1995.

Reclam Leipzig, Klappentext, 1995

 

Schön schräg: Gedichte, Pamphlete

1995 erschien Jörg Drews’ Anthologie mit dem frechen Titel Das bleibt. Auch das eine schräge Sache, schräg zu Herkommen, Kanon, Zeitgeist. Sie erfuhr Widerspruch, indes: eine Anthologie ist keine Bestenliste. Drews’ Säulenheilige (zählt man die aufgenommenen Gedichte) sind H.C. Artmann, Ernst Jandl und Paul Wühr (jeweils mehr als zehnmal). In der zweiten Reihe (mehr als fünfmal vertreten) steht nun – ja, Papenfuß: neben Friedrich Achleitner, Wolfgang Bauer, Gottfried Benn, Paul Celan, Robert Gernhardt, Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel. Friederike Mayröcker, Franz Mon, Oskar Pastior und zwei, drei anderen. Was für eine Reihe, schräg und würdig! Gern läse ich die Literaturgeschichte dazu. Tatsächlich findet diese Geschichte ja statt. Während die Geschichtsschreiber das Kapitel Avantgarde als abgeschlossen verzeichnen, schreibt eben irgendwo jemand daran fort: in Brasilien, in Kanada, in der Schweiz oder in Berlin. Aber die über sie schreiben, setzen Prioritäten. i – 0 – i -äten. Minoritäten. Täten! –
Dies anstelle einer Rezension. Angesichts Leseunlust in Gestalt flotter Urteile, die als öffentliche Meinung firmieren. Wer selber lesen will, lese Drews’ Sammlung – oder die schnellen Eingreifgesänge des Bert Papenfuß, die beredt, verspielt wie gehabt reagieren: auf redselige Sprachlosigkeit; auf neue Weltordnung und alten Laber-Flash. Wie eben nur Poesie reagieren kann, die in der Spur der Avantgarden aller Zeiten redet: statt bei sich selbst als Innerlichkeit stehenzubleiben (wie Hölderlins Zimmergenosse Hegel argwöhnte; der den späten – also dreißigjährigen – Hölderlin womöglich nicht lesen mochte).

Michael Gratz, moosbrand, neue texte 5, März 1997

Vorläufiges

Der Anthologist Jörg Drews, er wird sich wohl die Hände gerieben haben ob der zu erwartenden Empörung diverser Zunftgenossen: Ein Skandalon, frechweg eine Sichtung der deutschen Lyrik nach 1945 mit der Behauptung Das bleibt zu übertiteln, als ob es nicht jüngst einen in denkbarer Aufgeregtheit geführten deutsch-deutschen Literaturstreit gegeben hätte. Vorab: Solcherart Provokation ist mir allemal lieber als eine weitere öffentlich-rechtliche Drögheit der Ausgewogenheit. Und ein Betriebsfuchs wie Drews weiß nur zu gut, daß nur Aufmerken erheischen darf, wer auffällt. Geraten allerdings jene Käuferschichten ins Blickfeld, denen die Auch-Ironie des Titels nicht so unbedingt aufgehen dürfte – es wird wohl die Lesermehrheit sein –, ist unweigerlich ihr Vertrauen in die Autoritätssetzung des Herausgebers einzurechnen. Denn es handelt sich selbstredend nicht nur um einen Insider-Spaß. Eine Anthologie hat die Eigenschaft, die nächste Bilanz immer schon mit vorzubereiten, eine herausragende Anthologie gar bewirkt Kanonisierungsschübe. Spaß hin, Ironie her, das Absichtsvolle des Zusammenstellens läßt denn doch ernsthaft nach Kriterien, Gewichtungen und Akzenten fragen. Also habe ich zunächst die Nachsätze gelesen. Denn natürlich begründet Jörg Drews in einem umfänglichen Nachwort seine Auswahl. Zunächst genüßlich in Negativkriterien, denen kaum widersprochen werden kann, will man sich nicht als ästhetischer Barbar disqualifizieren: Im „Distanz(halten) von Tagesmoden“, von „Dokumente(n) quasi-lyrisch ausgedrückter Bewußtseinslagen der Allgemeinheit“ favorisiert er einen „emphatischen Begriff von Lyrik“: Die Leistung der Sammlung solle idealitär darin bestehen, Texte zu versammeln, die „die Formensprache deutscher Lyrik bereichert“, „den Bereich des Sagbaren erweitert“, die neue „,erfahrene Realität‘… eben nicht epigonal“ benannt hätten. In der Überzeugung, daß es eine „Adäquanz von neuen Themen und Erfahrungen zu einer neuen lyrischen Sprache“ gibt, meint Drews ein Auswahlkriterium gefunden zu haben, das das bloß zeitgebunden Populäre, das Modische oder Gefällige auszuschließen erlaubt. Das Unbedingtheitsdiktum seiner Auswahl muß der Herausgeber jedoch mit Blick auf die Wirkungsgeschichte einzelner Gedichte – Paul Celans „Todesfuge“ und Eichs „Inventur“ werden angeführt – (zum Glück) aufweichen. Stiefmütterlich in dieser Hinsicht verdient allerdings der Umgang mit Nachhall-Texten von Lyrikern aus der DDR genannt zu werden. Man denke etwa an Mickels „Der See“, das im Zentrum der „Forum“-Lyrik-Debatte 1966 stand, an Sarah Kirschs „Schwarze Bohnen“ oder an das kontrovers diskutierte Braun-Gedicht „Das Eigentum“ aus dem Jahre 1990 – Fehlanzeige, was ihre Präsenz im Band angeht. Überhaupt verwundert die Zurückhaltung gegenüber der DDR-Lyrik. Wie soll ich etwa mit folgendem Futur-Satz des Nachwortes umgehen:

Spannend wird es obendrein sein, wenn die Lyrik der DDR nach und nach noch einmal unter veränderten Bedingungen zur Kenntnis genommen wird; ich vermute, daß gerade in der DDR jenseits ihrer Begrenzungen und Bedingtheiten Sprechweisen gefunden wurden, (…) deren Karat, deren spezifische Leistung und Entwicklungsfähigkeit noch gar nicht recht gesehen wurden.

Wieso dieses understatement, das offenbar nicht nur ein understatement ist: Die Lyrik der DDR fünf Jahre nach dem Mauerfall noch einmal gründlich zu sichten, wäre für den Anspruch der Anthologie selbstverständlich gewesen. Nun haben etliche der bekannteren Lyriker aus der DDR Aufnahme gefunden. Merkwürdig nur, daß sich das Nachwort ausschließlich auf Lyrikdiskussionen, Anthologien, theoretische Positionen aus Westdeutschland, Österreich und der Schweiz bezieht. Die „Forum“-Lyrik-Debatte oder die „Sinn-und-Form“-Diskussion 1971/72 finden ebensowenig Erwähnung wie angedeutete Brüche, Verwerfungen etc. in der DDR-Lyrikgeschichte. Gewiß, das ist anderswo nachlesbar, stutzen läßt diese Abstinenz allerdings doch. Im anderen Falle wäre auch nicht ein Satz unterlaufen wie der, daß die Lyrik Bert Papenfuß-Goreks innerhalb der Lyrik der DDR nicht vorgesehen war: Das Gegenteil ist der Fall, und die Essays von Adolf Endler, Klaus Michael oder Peter Böthig erklären auch schlüssig, warum. Die Kenntnisnahme beispielsweise der Anthologie Vogel oder Käfig sein hätte Entdeckungen zeitigen können, die dem favorisierten Poesieverständnis des Herausgebers durchaus entsprechen: flanzendörfer, Stefan Döring, Mathias Baader-Holst, Andreas Koziol. Warum, um eine andere Großlässigkeit wenigstens zu benennen, fehlt – vom früh emigrierten Oskar Pastior abgesehen die rumäniendeutsche Lyrik in Gänze? Rolf Bossert, Franz Hodjak, Werner Söllner, Ernest Wichner, Richard Wagner – alles nur Epigonen?
Die von Jörg Drews geschickt angebrachten wie hinreichend allgemein gehaltenen Beibringungen zur Begründung der radikalen Materialsichtung wie auch der „Ausnahmeregelungen“ werden durch zwei lyriktheoretische Argumentationsstränge untermauert. Erstens: Adornos berühmter Satz über Lyrik nach Auschwitz notiere ein Ende der Unschuld im Umgang mit „kulturellen und also auch sprachästhetischen Besitztümern“ und insistiere auf eine „unbedingte Ökonomie der künstlerischen (und also auch sprachlichen Mittel)“ als spezifisch verantwortliche Schuldigkeit des Dichters. In der Tat stand etwa die Diskussion um die Metapher in den sechziger Jahren ganz in diesem Banne. Doch abgesehen davon, daß sich die damalige Polemik vor allem gegen eine dekorativ-drapierende Metaphorik richtete, die Frontlinien erwiesen sich – unter der dogmatischen Fuchtel von Kritischer Theorie und Strukturalismus – rasch als künstlich gezogene. Die sprachliche „Unschuld“ von Befindlichkeitskundgabe ist doch wohl bereits seit Anbeginn der Moderne dahin, die diesbezügliche Ignoranz der „Neuen Subjektivitäts“-Episode in den siebziger Jahren führte folgerichtig in die weitgehende Belanglosigkeit. Es ist richtig, Adornos Satz bewirkte einen Modernitätsschub in der deutschsprachigen Lyrik mit, der sich gerade auf ihn berufen konnte und in dem ein letztes Mal all jene Ausschließlichkeitstheoreme als Rechtfertigung nachgelegt werden konnten, die 1995 nur noch mißtrauisch stimmen. Wenn denn heutzutage Skepsis gegen lyrische Bilderfluten angebracht sein sollte, dann eher vor dem Erfahrungshintergrund der medialen Bildersättigung, beispielsweise. Zweitens: Jörg Drews verteidigt zu Recht „die Einsicht, daß mit technischen und gesellschaftlichen Änderungen auch die Literatur sich ändern muß“, insistiert auf den Erkenntniswert des Gedichts „im Medium des Ästhetischen“, der sich in der „Unbedingtheit des Wortes“ offenbare. Als Gegenpol muß immer wieder eine Lyrik der Geschwätzigkeit, Beliebigkeit, des Ornaments herhalten. Diese Logik schließt dann aber tendenziell Übergänge aus, sie stützt ein Lyrikverständnis, das materiale Innovation isoliert und die gestischen, kognitiven, taktilen, magischen Ausfransungen der Signifikation selbst vernachlässigen kann, auch wenn das Nachwort einen solchen Eindruck zu vermeiden sucht. Die Auswahl selbst ist hier deutlicher.
Zu ihr zunächst Statistisches: 60 Autoren, alphabetisch gereiht, fanden Aufnahme, darunter gerade 8 (!) Lyrikerinnen. Die Anzahl der jeweils zugestandenen Gedichte ist selbstredend als Wertungsindiz zu nehmen; sie reicht von 19 (H.C. Artmann) bis 1 (u.a. Peter Huchel, Wolfgang Hilbig, Ingeborg Bachmann, Wulf Kirsten, Thomas Kling, Ernst Meister, Nelly Sachs) – wahrlich kühne Entscheidungen. Den weitaus größten Raum, ca. zwei Drittel des Bandes, nehmen Texte der Wiener Gruppe, der „Konkreten Poesie“ und ihrer Nachläufer ein. Daß H.C. Artmann als „Herrscher über alle Köstlichkeiten der deutschen Sprache“ zum Fürsten geadelt wird, überrascht wenig, die rundumschlägige Herabsetzung lyrikgeschichtlich relevanter Autorennamen denn schon mehr. Nur: Lese ich in den Texten der vom Bielefelder Literaturprofessor favorisierten Richtung, lese ich mit hohem Vergnügen die Gedichte/Texte/Konstellationen von Achleitner, Artmann, Gomringer, Wühr, Roth, Heißenbüttel, stelle ich wenig verblüfft fest: Die vorgenommene Musealisierung offenbart, daß der Imperativ der permanenten sprachlichen Grenzüberschreitung selbst historisch geworden ist, erst recht die spätavantgardistische Invektive des Schocks, der Konventionsbrüche, der Sprachankopplung an technische Entwicklungen, wie sie ein Max Bense in den fünfziger Jahren noch euphorisch entwerfen konnte. Der Glaube an die heimliche Sprengkraft der Dichtung ist inzwischen stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Einzig der Gernhardt-Text „Schamvoller Dichter“ könnte bei unbedarfteren Kritiker-Gemütern Empörung im Zeichen der political correctness auslösen, aber diese Erwartung grundiert zu offensichtlich schon die Textinszenierung. Die letzten wirksamen Provokationsfelder okkupiert längst die Benetton-Werbung. Aus der Rückschau wird vielmehr evident, daß es sich bei den Geisterschlachten zwischen Transgressisten und Sprachkonservativen, den „Experimentellen“ und den „Stopfganslyrikern“, weitgehend immer schon um Inszenierungen, um Wiederholungsgänge und Selbstreferenzen von Spaltungsfiguren im Gesellschaftsspiel der fünfziger/sechziger Jahre handelte. Die Überinszenierung dieser methodischen Diskursspaltungen betraf weniger reale Sachdifferenzen, als sie vielmehr Gruppenidentitäten zu stützen hatte, wie Bettina Gruber jüngst über die „Imperative der Grenzüberschreitung“ in der Avantgardekunst (unter Berufung auf Jean-François Lyotard) herausarbeitete. Insofern ist für mich wenig einsichtig, warum nach der Verflüsssigung dieser Binärfigurationen nicht doch eine größere Gelassenheit hätte walten können: Etwa in bezug auf surrealistische Traditionen (von Johannes Poethen bis Thomas Kunst), auf die Kölner Sprachrapper (Marcel Beyer, Norbert Hummelt), auf spielerische Traditionalisten (Richard Pietraß, Wilhelm Bartsch, Thomas Rosenlöcher), in bezug auf Weltanschauderer wie Volker Braun, Günter Kunert oder Selbstverwunder wie Nicolas Born, Heinz Czechowski oder Jürgen Theobaldy. Ich bezweifle, daß hier nur das „uns allen bekannte, öffentlich Wort gewordene Lebensgefühl“ ausgedrückt wird und die Sammlung zum Beleg „von geschmacklichen und politischen Gestimmtheiten“, zu „Geschichtsschreibung“ gar mutieren würde. Die poetischen Überschüsse dürften in dem einen oder anderen Fall doch nicht so unbeträchtlich sein. Damit rede ich mitnichten einer verwaschenen Allerweltsanthologie das Wort. Daß Jörg Drews demonstrativ Lyriker wie H.C. Artmann, Reinhard Priessnitz, Bert Papenfuß-Gorek oder Paul Wühr herausgestellt hat, das allein sei ausdrücklich als Empfehlung weitergegeben. Ebenso, daß er die Bequemlichkeit umgangen hat, von Großmeistern wie Benn, Brecht, Rühmkorf oder Enzensberger die scheinobligatorischen Anthologiebeiträge auszuwählen und statt dessen in seiner Auswahl unübliche Sehweisen vorschlägt.
Nun wäre es müßig, darüber zu streiten, warum welches Gedicht von welchem Autor nicht in die Anthologie aufgenommen wurde. Trotzdem sei in Langreihe wenigstens aufgezählt, welche Autoren ich mehr oder minder schmerzlich vermisse: Richard Anders, Erich Arendt, Mathias Baader-Holst, Wilhelm Bartsch, Thomas Böhme, Nicolas Born, Volker Braun, Heinz Czechowski, Michael Hamburger, Eberhard Häfner, Norbert C. Kaser, Stefan Döring, Gerhard Falkner, flanzendörfer; G.B. Fuchs, Uwe Greßmann, Jayne-Ann Igel, Thomas Kunst, Andreas Koziol, Kito Lorenc, Inge Müller, Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher, Peter Waterhouse, Peter Paul Zahl, Ulrich Zieger. Bedanken möchte ich mich andererseits bei Jörg Drews, daß er mir die Bekanntschaft mit Ludwig Greve, Werner Kraft, Schuldt und Unica Zürn vermittelte, die ich noch nicht kannte. Aber wenn Greve, warum nicht auch Greßmann? Warum das frühe, noch sehr epigonale „novalis“-Gedicht von Wolfgang Hilbig als einzige Kostprobe dieses Lyrikers? Warum von Kurt Drawert lediglich ein für ihn untypisches Zitat-Gedicht? An dieser Stelle sei eingehalten, der Versuchung, weitere Fragesätze zu reihen, nicht nachgegeben.
Es bleibt zu vermuten, daß bei künftigen Sammel-Unternehmungen so leicht kein Weg an der reclamgelben Leipziger Anthologie vorbeiführen dürfte. Angesichts der Schwundstufen öffentlicher Resonanz und zunehmender Selbstreferentialität der Lyrikszene wäre es vielleicht bald angesagt, der hochambitionierten Auslese von Jörg Drews Anthologien beizugesellen, die wieder so etwas wie eine sanfte Pädagogik betreiben, indem sie die Erfahrungswelten der neunziger Jahre als Angelpunkt ernster nehmen.

Peter Geist, neue deutsche literatur, Heft 504, November/Dezember 1995

Jörg Drews (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995

Wer Oskar Pastior einmal hat lesen hören, weiß welche ungeheure Wirkung er auf das Publikum haben, welche Faszination seine Sprache ausüben kann. Da achtet man nicht mehr auf Inhaltliches und läßt sich einfach vom Wortfluß mitreißen. Leider wirkt solche Poesie gedruckt viel weniger. Und deshalb sind Autoren wie Pastior, Jandl, Gomringer oder Heissenbüttel – so verschieden ihre Werke auch sein mögen – in den meisten Lyriksammlungen untervertreten. In dieser Ausgabe werden sie aber gleich mit sieben, dreizehn, sieben und sechs Gedichten vorgestellt. Denn der Herausgeber ist Jörg Drews, ein exzellenter Kenner dieser sogenannten experimentellen Dichtung. Wenn er also eine Anthologie deutschsprachiger Gedichte zusammenstellt, darf der Leser manche Überraschung erwarten.
Das fängt gleich beim Anfang an mit Dialektgedichten von Friedrich Achleitner („a wuaschd / is mai himö…“). Doch beim Weiterlesen bleibt das Neue, das man freudig zur Kenntnis nimmt, aus. Man liest immer nur andere Wort- oder Klangspiele und auf die Dauer wirkt das irritierend oder einschläfernd. Nur selten stößt man auf Verse, die einem noch unbekannt waren und nun nicht mehr so leicht aus dem Gedächtnis gehen. So schätzt Drews Robert Gernhardt sehr, von dem er gleich sieben Gedichte aufnahm. Doch die einzigen bemerkenswerten Verse stammen m.E. aus „Nachdem er durch Metzingen gegangen war“:

Dich will ich loben: Häßliches,
du hast so was Verläßliches.

(…)

Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer.
Das Häßliche erfreut durch Dauer

Nicht, daß nur die sogenannte experimentelle Dichtung vertreten ist. Nein, der Untertitel ist zu Recht: Deutsche Gedichte 1945–1995. Und deshalb fehlen Celans „Todesfuge“ (sowie u.a. „Engführung“ und „Tübingen, Jänner“), Eichs „Inventur“, Nelly Sachs’ „Chor der Geretteten“ und Huchels „Chausseen“ nicht. Da hätte man von diesen „Klassikern“ doch lieber eine eigenwilligere Auswahl gehabt. Nun schreibt Drews im Nachwort, daß er bei der „Todesfuge“ und „Inventur“ seine Bedenken gehabt hat; sie wegzulassen, hat er sich nicht getraut. Von Sachs und Huchel ist das genannte übrigens auch gleich das einzige Gedicht, mit dem sie vertreten sind. Man vergleiche dies mit Achleitner (7), Wolfgang Bauer (7), Franz Mon (7), Bert Papenfuß-Gorek (6), Reinhard Priessnitz (6), Dieter Roth (9), Gerhard Rühm (7), Paul Wühr (12) und gar H.C. Artmann (19!). Drews zitiert Pastior gerne im Nachwort: „Artmann ist der Fürst“. Da wundert es den Leser nicht mehr, daß so viele Namen fehlen: Jürgen Becker, Horst Bienek, Wolf Biermann, Peter Härtling, Rolf Haufs, Günter Kunert, Reiner Kunze, Werner Söllner, Jürgen Theobaldy oder Guntram Vesper zum Beispiel. Von Endler abgesehen, hat Drews keine DDR-Ausgaben benutzt. In dem Sinne stimmt der Untertitel also nicht. Was man auch von der DDR-Literatur halten mag, einige Texte von Volker Braun, Stephan Hermlin oder Georg Maurer hätten da doch aufgenommen werden müssen. Jetzt erscheint es so, als hätten die DDR-Lyriker erst eine adäquate, neue Sprache – denn das ist Drews’ Kriterium der Auswahl – gefunden, nachdem ihre Werke im Westen herausgegeben wurden und das war oft erst nach dem Fall der Mauer. Sowieso läßt sich bei den benutzten Ausgaben oft ein Fragezeichen setzen, als hätten Meckel nach 1962, Krolow nach 1965 und Sarah Kirsch nach 1984 keine Gedichtbände mehr veröffentlicht. Doch offenbar haben diese Autoren sich zuviel wiederholt, fehlt ihnen die „radikal selbstkritische Haltung“ und ihren Texten die „maßstabsetzende Radikalität“.
Die „Ökonomie der Mittel“ ist ein sehr wichtiges Auswahlkriterium für Drews. Als Vorbild nennt er dabei Werner Kraft, doch dessen Gedicht „Auf“ gehört m.E. zu den schlechtesten des Bandes: „Wie die Dinge liegen, / Stehn sie niemals wieder –: / Auf!“. Das ist alles. So etwas steht auf dem gerade abgerissenen Blatt vom Tageskalender, man liest es (oder nicht) und wirft es danach weg. Dieses Gedicht soll „den Begriff und die Möglichkeiten der deutschen Lyrik“ nach 1945 „verändert“ haben? Und „blumenstück“ von Gerhard Rühm aus den späten sechziger Jahren ,lebt‘ nur davon, daß es schöne Blumennamen mit ehemaligen Tabuwörtern kombiniert („die tulpe scheisst (…), die orchidee onaniert (…), die rose stinkt nach schweiss und menstruationsblut (…)“. Das erwartet man doch bestenfalls in einer schlechtgemachten Schulzeitung.
Das Nachwort ist interessanter als die Auswahl, doch dafür 25 DM zu fordern, ist zu viel verlangt. Mit dem Titel Das bleibt wertet Drews die meisten Gedichte zu einem Status auf, den sie nicht verdienen. Die Autoren, die hier fehlen, werden sich eher freuen.

Hub Nijssen, Deutsche Bücher, Heft 2, 1996

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Archiv + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos
Nachruf auf Jörg Drews: SZ

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