Jürgen Engler (Hrsg.): Und in der Nacht ein Licht

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Jürgen Engler (Hrsg.): Und in der Nacht ein Licht

Engler (Hrsg.)-Und in der Nacht ein Licht

DIE ACKERWALZE
meiner eltern gedenkend

mein vater, perfekter steinmetz
und nebenher landmann, mit sinn
fürs praktische, sah in einer gestürzten grabsäule,
aus dem block gehauen
und poliert für die ewigkeit,
eine ackerwalze über das feld rollen,
erdklumpen zerdrücken, das saatbeet bereiten.
wenn sich zwei vorspannen,
in die kopfseile stemmen,
ersetzt der sparsame starrsinn
das zugvieh im joch.
jahr um jahr zogen die walze
steinzeitlich
am eisengestänge über eignen grund
und reformierten boden
bergunter, bergauf,
vater und mutter, ohne zu murren und aufzustecken,
immer mit letzter kraft in den sielen.
längs der starren deichsel
zum gespann getreulich vereint,
walzten sie mit jeder umdrehung
des rollierenden grabsteins
in altmodischer schnörkelschrift,
zur spirale gedreht, in den lehm:
geliebt, beweint und unvergessen.

Wulf Kirsten

 

 

 

Auf stillen Wegen

– Trauer und Trost im Gedicht. –

Der Anlässe zu trösten sind viele, und für alle ließen sich Trost-Gedichte finden, Ermutigungen wie Ludwig Uhlands „Frühlingsglaube“:

Nun, armes Herze, sei nicht bang
Nun muß sich alles, alles wenden.

Diese Anthologie konzentriert sich jedoch auf solche, die uns mit dem Tod als endgültigem Abschied konfrontieren und in der Trauer Trost zu spenden suchen.
Der Tod geliebter Menschen lässt die Weiterlebenden ins Leere fallen. Die enge Bindung an den Gestorbenen entwertet das gegenwärtige Dasein. Trauernde benötigen Zuspruch – im übertragenen Sinne der Anteilnahme, die als Zuwendung auch ohne viele Worte auskommen mag, aber auch im direkten Sinne. Schwer ist es, die richtigen Worte zu finden, persönliche, glaubwürdige Worte. Bereitstehende, in jahrhundertelangem Gebrauch gebildete Formeln halfen (und helfen), wenn sie sich auf eine gemeinsame geistige Gewissheit berufen können. Die „Geistlichen Lieder“ des Barockdichters Simon Dach beispielsweise enthalten Hunderte anlässlich von Begräbnissen geschriebene Gedichte, die christlichen Trost spenden sollen: „Christliches Sterb-Liedchen“, „Abschieds-Liedchen“, „Klag- und Trost-Reime“, „Trost-Schriftchen“, „Einfältige und gutgemeinte Trost-Reimchen“, „Poetisches Denckmahl“, „Christliches Ehrengedächtnis“…
Ohne Zweifel, Trost-Gedichte behaupten ihren „Gebrauchswert“. Sie sollen seelisch Halt geben, über schwere Zeiten hinweghelfen. Das Gedicht als Zu-Spruch will zugänglich sein. Und das bleibend Gültige in zeitgebundener Empfindungs- und Ausdrucksweise aufzuspüren fällt meist nicht schwer. Dennoch ist nicht zu vergessen, es handelt sich um Gedichte: Das „Gutgemeinte“ reicht nicht; das „Gutgemachte“ ist Voraussetzung eindringlicher Wirkung, die durch souveränen Gebrauch ästhetischer Mittel anrührende und ergreifende Art der Mitteilung. Lyrik ist hier gesteigerte Rhetorik – noch im Antirhetorischen, im schöpferischen Verwerfen und Verwandeln des Überlieferten und Vorgegebenen. Wie traurig auch die Botschaft ist, darin, dass sie auf eindringliche Weise zur Sprache gebracht wird, liegt Tröstendes: Trauer wird mitteilbar, mit anderen teilbar.
Der Titel der Anthologie entstammt einem Gedicht Friedrich Rückerts aus den „Kindertodtenliedern“. Sie entstanden als Reaktion des Dichters auf den Verlust seiner jüngsten Kinder Luise und Ernst durch Scharlach. Ruhelos schrieb Rücken im ersten Halbjahr 1834 diese Gedichte; ihre Anzahl betrug schließlich 563. Veröffentlicht wurden sie erst aus dem Nachlass, sechs Jahre nach Rückerts Tod, und einer größeren Öffentlichkeit bekannt durch Gustav Mahlers Vertonungen. Die „wohl gewaltigste Todes-Anzeige der Weltdichtung“ nennen Wollschläger und Kreutner im „Editorischen Bericht“ ihrer Ausgabe diese Klagelieder und konstatieren das „ganz eigenartige Nebeneinander von artistischem Zugriff und menschlicher Fassungslosigkeit“. Die „Trauerarbeit“ erscheint als Müh-Seligkeit. Nicht hinweggeredet wird der Verlust, sondern „besprochen“, was verloren wurde.
Trauer braucht ihre Zeit. In ihr kann eine neue Hinwendung zur Welt erfolgen. Gelingt sie, kommen Verlusterfahrung und „Realitätsprinzip“ in ein gewisses Gleichgewicht. Wieder-Holung beglaubigt die Verlusterfahrung; es müssen wohl viele Worte gemacht werden, oder man versinkt in Sprachlosigkeit. Nicht zufällig stammt manches Gedicht in diesem Band aus Zyklen: „Frauen-Liebe und Leben“ von Adelbert von Chamisso, „Auf meines Kindes Tod“ von Joseph von Eichendorff. Das Großgedicht „Interim“ der amerikanischen Dichterin Edna St. Vincent Millay ist mit einem Auszug vertreten; hingewiesen sei zumindest auf ihre „Sonette aus unveredeltem Holz“, einen Zyklus über eine Frau und ihren sterbenden Mann. Dem Totentanz-Topos – „Es hat der Tod verschiedene Gestalt“ – widmete Georg Britting einen ganzen Gedichtband mit (abgesehen vom Prologgedicht) 70 Sonetten, aus dem ein Beispiel vorgestellt wird. Lőrinc Szabós Zyklus „Das sechsundzwanzigste Jahr“, ein „Lyrisches Requiem in hundertzwanzig Sonetten“, ist dem Andenken Erzsébet Korzátis, der Geliebten des Dichters, gewidmet. Am 12. Februar 1950 nahm sie sich das Leben. Vorausgegangen war eine fünfundzwanzig Jahre dauernde Verbindung mit dem fünf Jahre jüngeren Dichter: die innige und leidenschaftliche Liebe zweier Menschen; beide waren anderweitig verheiratet.
Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit unterscheidet uns von anderen Lebewesen. Conrad Ferdinand Meyer und Heiner Müller erinnern an den alten Volksglauben, dass die Begegnung mit dem Doppelgänger den Tod ankündigt. (Das göttliche Kind ist nach C.G. Jung eine Figur des Jüngsten Gerichts, es tritt als Rächer wie Erlöser auf.) Die Bilder des Todes sollen trösten, sie suchen das Unvorstellbare vorstellbar und, mehr noch, annehmbar zu machen. Aus der Antike stammt das Bild, das den Tod als Bruder des Schlafs mit gesenkter Fackel darstellt. Der Tod als Schwager Postillion, der zur letzten Reise einlädt, ist aus dem Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“ wohlbekannt. Der Tod wird personifiziert wie in Robert Gernhardts schließlich ins Ungereimte mündendem Reimgedicht „Ach“. All dies sind Bilder des Trostes, des zeitweiligen Trostes.
Trauer- und Trost-Gedichten eignet nicht nur eine psychologische Dimension. Nicht minder erteilen sie, implizit oder explizit, Auskünfte über gesellschaftliche Zustände und Verkehrsformen. Wenn das Leben nicht lebenswert ist, kann der Tod eine Befreiung aus der Misere sein. In dieser Anthologie geht es allein um den „eigenen Tod“ (Rilke, Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), nicht um den anonymen Tod der Massenvernichtung. Hier muss der „heilsgeschichtliche“ Trost, ob er nun den himmlischen Vater oder Mutter Natur anruft, muss eine Sinngebung versagen, wie sie Goethe im „Tiefurter Journal“ formulierte:

Der Tod ist ein Kunstgriff der Natur, um viel Leben zu haben.

Angesichts der Unheilsgeschichte kann Trost nur aus der Absage an die Gesellschaft, aus dem Trotz ihr gegenüber oder aus der Hoffnung auf eine „Veränderte Welt“ bezogen werden. Johann Christian Günthers „Trostaria“ wurde aus solchen Überlegungen heraus aufgenommen, auch wenn diese Art utopischer Wunschdichtung über den Rahmen der Anthologie hinausreicht.
Die Verdunklung und Verschattung der Welt in der Trauer fordert geradezu den Verweis auf das Licht als Gegenpart heraus, zumal in der vom Weiterleben nach dem Tod überzeugten religiösen Lyrik, die den Dualismus von Tod und Leben, Nacht und Licht hervorkehrt. Ob „christliche“ oder „heidnische Sprüchlein“ (C.F. Meyer) – die Anthologie sucht den Widerhall der Texte untereinander hörbar zu machen; sie antworten einander, zustimmend oder widersprechend. „Wandrers Nachtlied“ von Goethe ist mit seiner anklangreichen Metaphorik nur ein Beispiel dafür.
Gedichte erörtern die Tages- und Nachtseite des Daseins, sehen das Leben als Wechsel und Entwicklung und suchen den Trost philosophisch zu stärken. Zuspruch soll dem Trauernden helfen, wieder am Alltag teilzunehmen. Im Durchdenken des Lebens und des Todes, im Bedenken des Lebensweges, in der Illusionen verwerfenden bilanzierenden Erkenntnis und ihrem Aussprechen kann Trost liegen. Insofern vermitteln auch „trostlose“ Gedichte Trost.
Gedichte lassen den Urgrund der Trauer erfahrbar werden: das gänzliche Herausfallen aus der Normalität des Lebens; die Empfindung, dass die Welt leer geworden ist und das Ich entzweigerissen; den Rückzug in die Vergangenheit, in die Erinnerung – das Leben wird zum „Rückleben“ (Uhland), das zugleich den Beginn der Trauerarbeit bildet. Lyrik als Kunst des Nacheinander ist geeignet, dem Trauerprozess nachzuspüren, dem „Jahr magischen Denkens“, wie es die amerikanische Autorin Joan Didion in ihrem Buch über die Trauer nach dem Tod ihres Ehemannes nennt.
In anhaltender Trauer artikuliert sich die Abneigung, ja der Abscheu gegenüber einem wohlfeilen Trost á la „Das Leben geht weiter“, als sei nichts gewesen. Aber das Leben geht ja weiter, freilich war da etwas und ist nimmermehr. Den Schmerz darüber lässt sich der beharrlich Trauernde nicht abhandeln. Der schon erwähnte Lőrinc Szabó stiftete mit seinen Sonetten der toten Geliebten ein „lebendes Gedächtnismal“ (Shakespeare):

festhalten, was entzieht sich jedem Halt,
der Dichtkunst schöpferischer Widersinn

Festhalten – und loslassen! Letzteres heißt nicht Vergessen, sondern Verteilung der Aufmerksamkeiten auf das Vergangene und das Jetzige. Zuletzt bleiben Angedenken und Erinnerung. „Ihr meine Toten / Eure Träume sind Waisen geworden“, heißt es bei Nelly Sachs. Die Lebenden können sich der Waisen annehmen. Lyrik ist Schattenwirtschaft (so der Titel eines Gedichtbandes von Richard Pietraß), die geisterhaft menschliches Leben begleitet, immer wieder den Gang unternimmt zu den Toten, sie in die Erinnerung – Gedicht und Gedächtnis als kleine Ewigkeit – zurückzuholen.

Jürgen Engler, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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