Ludwig Harig: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“ aus Ingeborg Bachmann: Werke I. –

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Mein Vogel

Was auch geschieht: die verheerte Welt
sinkt in die Dämmrung zurück,
einen Schlaftrunk halten ihr die Wälder bereit,
und vom Turm, den der Wächter verließ,
blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab.

Was auch geschieht: du weißt deine Zeit,
mein Vogel, nimmst deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir.

Wir äugen im Dunstkreis, den das Gelichter bewohnt.
Du folgst meinem Wink, stößt hinaus
und wirbelst Gefieder und Fell –

Mit eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe,
mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe!
Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir.

Wenn auch im Nadeltanz unterm Baum
die Haut mit brennt
und der hüfthohe Strauch
mich mit würzigen Blättern versucht,
wenn meine Locke züngelt,
sich wiegt und nach Feuchte verzehrt,
stürzt mir der Sterne Schutt
doch genau auf das Haar.

Wenn ich vom Rauch behelmt
wieder weiß, was geschieht,
mein Vogel, mein Beistand des Nachts,
wenn ich befeuert bin in der Nacht,
knistert’s im dunklen Bestand,
und ich schlage den Funken aus mir.

Wenn ich befeuert bleib wie ich bin
und vom Feuer geliebt,
bis das Harz aus den Stämmen tritt,

auf die Wunden träufelt und warm
die Erde verspinnt,
(und wenn du mein Herz auch ausraubst des Nachts,
mein Vogel auf Glauben und mein Vogel auf Treu!)
rückt jene Warte ins Licht,
die du, besänftigt,
in herrlicher Ruhe erfliegst –
was auch geschieht.

 

Ingeborg Bachmann liest ihr Gedicht „Mein Vogel“

 

Schleier und Feder

1955, ein Jahr bevor Ingeborg Bachmanns Gedichtband Anrufung des großen Bären erschien, hatte Max Bense mit seiner Zeitschrift augenblick Polemik und Widerstand gegen das „neue deutsche Nivellement“ angekündigt. Eine Reihe junger Schriftsteller, darunter auch ich, teilte sein Mißtrauen gegenüber „metaphysischer Gemütlichkeit“ und „ökonomischen Wundern“, vor allem Benses Angriffe gegen „artistische Regressionen“ bewunderten wir; es leuchtete uns ein, daß die poetischen Versuche auf mathematische Prinzipien gestellt sein müßten.
Unsere Jugend war verdorben von hohler Feierlichkeit und phrasenhaftem Pathos einer heruntergekommenen, ja verluderten Bildersprache nationalsozialistischer Blut-und-Boden- und Parteilyrik: Erst die nüchterne, schmucklose Sprache des „Kahlschlags“ und die experimentell erarbeitete Laborsprache der „Stuttgarter Schule“ gaben uns wieder Vertrauen in die Literatur
„Keine Anrufung des großen Bären“, hatte Bense geschrieben, „überhaupt keine Anrufung mehr.“ Das tat seine Wirkung, und es hat Jahre gedauert, bis ich – einer seiner Jünger – nach und nach Zugang zur Lyrik der fünfziger und der sechziger Jahre fand. Etwas, das ich zwei Jahrzehnte nicht wahrgenommen hatte, wurde mir spät bewußt: nicht nur wir Wortmetzen und Sprachspieler, auch eine Dichterin wie Ingeborg Bachmann hatte an Wort-, an Sprach-, an Ausdrucksnot gelitten. Mit ihrem oft geschmähten hochgestimmten Ton bekundet sie ihre Empörung, ja Verzweiflung. Im Gedicht fragt sie ratlos: „Soll ich / keine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte?“, und verirrt sich im Labyrinth der Bilder. Sie sucht nach dem rechten, dem brauchbaren Wort, einem zauberkräftigen „Sesam, öffne dich!“, das die Tür zum Paradies aufschließt, aus dem die großen, geflügelten Tannenzapfen stürzen: Sinnfrüchte für Welt und Mensch, denen der große, angerufene Bär in Ingeborg Bachmanns Gedicht nachjagt. „Wort, sei bei uns!“ ruft sie, „mein Wort, errette mich!“
Das Gedicht ist zum Schlüssel, zum Messer, zum Schwert geworden; Ingeborg Bachmann greift danach. Als einzige Waffe erscheint ihr die Feder der Eule, womit sie das rettende Wort niederschreiben kann. Die Eule sitzt auf ihrer Schulter, wie Pallas Athene tritt die Dichterin unter die Menschen. Das Gedicht „Mein Vogel“ ist die Beschwörung des endlich gefundenen rettenden Worts, verkörpert im klugen Wappentier der Göttin. So wie die Eule stellt sich auch das Wort zur rechten Zeit ein, durchdringt den Nebel, folgt dem Wink, stößt hinaus und schwingt sich am Ende zur höheren Warte empor. Ingeborg Bachmann vertraut auf das Wort: Es steht ihr bei und raubt sie zugleich aus, es verschleiert und entlarvt, es wirbelt auf und besänftigt, ist sowohl durchsichtig als auch geheimnisvoll, dieses Wort auf Treu und Glauben!
Ingeborg Bachmann, die immer wieder zweifelt und sich mit Unwägbarkeiten quält: Hier auf einmal scheint ihr Sprachvertrauen unerschütterlich zu sein. „Was auch geschieht“: Mit diesen Worten hebt das Gedicht zweimal an und endet mit ihnen. Es gibt keine Macht der Welt die dem rechten Wort zu widerstehen vermöchte. Im Schleier, den die Dichterin über ihr Geheimnis breitet, und in der Feder, womit sie die Rätsel aufschreibt, verbergen sich die Gaben des Vogels, der die Weisheit symbolisiert. Was auch geschieht, nur das Dichterwort bannt die Wirklichkeit und Möglichkeiten in einem. Sechsmal beginnt ein Vers mit „wenn“, dem Zauberwörtchen und -schlüsselchen für Wünsche und unerwartete Erfüllungen. Es züngelt die Locke, schon ahnt man, was bald darauf ausgesprochen wird: das Feuer, das Knistern, der Funkenschlag, der die Dichterin in Brand setzt, im Wortrausch ihrer Phantasie und im wirklichen Leben.

Ludwig Harigaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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