Christa Reinigs Gedicht „Vor der Abfahrt“

CHRISTA REINIG

Vor der Abfahrt

Sie kamen und suchten
unter der Bank, im Gepäcknetz
suchten sie jemand.
Danke, sagten sie zu mir.

Auf dem Dach, zwischen den Rädern
suchten sie jemand.
Unter meiner Mütze
suchten sie nicht.

Starr war die Erde.
Da nahm ich den Schnee.
In meiner Manteltasche
nahm ich den Schnee mit.

1984

aus: Christa Reinig: Sämtliche Gedichte, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1984

 

Konnotation

Das Werk der Dichterin Christa Reinig umfasst eine lange Geschichte der ästhetischen Renitenz. 1926 als uneheliche Tochter einer Putzfrau im Berliner Osten geboren, geriet sie schon früh in Konflikt mit den Obrigkeiten des SED-Staats. Ihre ersten Gedichte konnte sie noch in Peter Huchels legendärer Zeitschrift Sinn und Form veröffentlichen, erhielt in der DDR aber bereits 1951 Publikationsverbot.
Nach Entgegennahme des Bremer Literaturpreises kehrte Christa Reinig 1964 nicht mehr in die DDR zurück und ließ sich in München nieder. Eine beklemmende Situation der Ausreise oder eines Grenzübertritts scheint auch das Gedicht zu vergegenwärtigen. Das Ich wird Objekt einer alltäglichen Fahndung: In einem Zugabteil wird penibel nach Personen gesucht. Den rätselhaft anmutenden Verweis auf die Mütze als potentielles Versteck wie auf den mitgeführten Schnee als Schmuggelgut hat man als Anspielung auf Heinrich Heines Poem „Deutschland. Ein Wintermärchen“ entziffert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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