Gottfried Benns Gedicht „Schöne Jugend“

GOTTFRIED BENN

Schöne Jugend

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

1912

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verb. m. Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster und Holger Hof, Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Kaum ein lyrisches Debütbuch hat so viel Schockwirkung hinterlassen wie das schmale Bändchen Morgue, das der bekennende „Medizyniker“ Gottfried Benn (1886–1956) im Jahr 1912 veröffentlichte. Der Dichter lockt seine Leser mit dem irreführenden Titel „Schöne Jugend“ in die Pathologie und führt dort mit drastischer Deutlichkeit den Verfall der Spezies Mensch vor. Die Kritik reagierte empört: „Pfui Teufel!“
Die ungeheure Provokation betrifft alle Bereiche des Gedichts: Da ist zunächst der kalte, sezierende Blick des Betrachters, der ungerührt die Perspektive des Anatomen übernimmt. Dann gilt die Aufmerksamkeit des lyrischen Ich mehr den Ratten, die den toten Leib zerfressen haben, als dem Schicksal des Mädchens. Schließlich wird offen gelassen, ob es sich bei der Leibesfrucht der Toten um einen Embryo oder um eine tote Ratte handelt. Wahrlich: Das Gedicht als perfekter Zynismus.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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