Oskar Loerke: Poesiealbum 202

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Oskar Loerke: Poesiealbum 202

Loerke/Meyer-Poesiealbum 202

CHINESISCHES DRACHENSTEIGEN

Wesen, die wir fürchten, meistern,
Die auf unsern Pfaden waren,
Sind gleich windgescharten Geistern
Farbig in die Luft gefahren:

Schiffe, voll getakelt, tragen
In die Wolkenberge Büßer,
Groß geschwänzte Drachen schlagen
Fische, Vögel, Tausendfüßer.

Schwebt die Heimat, die wir lieben,
Über unserm Haupt von hinnen,
Und wir sind zurückgeblieben,
Dem Entschwebten nachzusinnen?

Um die Dschunken aus Papiere
Harfen ausgespannte Drähte,
Durch die hohlen welken Tiere
Weint Musik der Totenstädte.

Greise wir mit klugem Scheine!
Lächeln malt uns in die Falten
Fragen: was wir an der Leine
In den Abendhimmel halten.

 

 

 

Oskar Loerke

Die Natur in einem all-umfassenden Sinn ist sein Thema, sie bedeutet für ihn Raum und Bezugspunkt menschlichen Handelns und Hoffens. Eines ihrer vielen, anziehenden Gesichter ist die Stadt, deren Spannungen Oskar Loerke in sein Bekenntnis zum schönen Erdengarten einbezieht: ein Bekenntnis um das er zeitlebens rang, nicht zuletz auch im Widerstreit mit der faschistischen Barbarei. Nachdrücklich und in vielschichtiger Bildhaftigkeit ist die Empfindung gestaltet, daß Menschlichkeit sich im Verhältnis zur Natur bewahrt und bewährt.

aus: Wladimir Wyssotzki: Poesiealbum 201, Verlag Neues Leben, 1984

Lyrik

muß das Gefühl aus dem Zufall führen, der ihm von der privaten Erfahrung her anhaftet… Das höchste Gelingen vorausgesetzt, ist in unserer Kunst der Gedanke ganz Gefühl, das Gefühl ganz Gedanke, beides ganz Anschauung.

Oskar Loerke, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1985

 

Oskar Loerke – mein Modell?

Literarische Vorbilder kann man sich nicht aussuchen, wie man sich literarische Tradition nicht aussuchen kann. Man findet sie vor – diese große, nicht abreißende Entwicklungskette, in die man sich einfügen wird, der man nicht entrinnen kann, die einen bei der eigenen Arbeit einholt, wie sie vor Beginn der eigenen Arbeit da war. Natürlich spielt bei der Begegnung mit Vorbild und Tradition und sich solcher Begegnung anschließenden Auseinandersetzung mancher Zufall eine Rolle. Aber der Zufall war wohl stets eine Verbindung mit der, individuellen Disposition eingegangen, die einem jungen Schriftsteller dazu verhilft, ein bestimmtes Vorbild, einen bestimmten Älteren aufzufinden, geheime Verwandtschaft zu erkunden, geheime Hoffnungen plötzlich wahrzunehmen, jene unausgesprochenen Vermutungen Über eine für literarische Individualität gleichsam prädestinierte Wesensart und Wesensäußerung verwirklicht zu sehen in der Erscheinung und in der Wirksamkeit eines anderen.
Vieles trifft bei einer solchen Begegnung aufeinander: Temperament und Alter, persönliche Umwelt und allgemeines Literaturklima, literarischer Zeitgeschmack, in dem man sich unversehens wiederfindet oder dem man sich zu widersetzen versucht. Ich lernte – wenngleich sie sehr versteckt publiziert waren – die frühen Gedichte Wilhelm Lehmanns kennen. Das war im Jahre 1935. Über Lehmann bin ich dann auf Oskar Loerke gestoßen und erkannte, wie vieles bei Lehmann von Loerke vorgebildet worden war. – In der Antwort des Schweigens – dem ersten Gedichtband Lehmanns – war ein charakteristisches Gedicht Oskar Loerke gewidmet. Es nannte sich „Ahornfrüchte“, und die Baumfrüchte wurden Sarazenensäbeln aus der chlorophyllgrünen Waffenkammer der Flora verglichen, glänzend grüne und kupferrote „Schwerter des Dichters nur“, von deren Klingen kein Blut rauche.
Wilhelm Lehmann hatte mich als erster auf den großen Gegenstand, den unerschöpflichen „Stoff“ hingewiesen, auf Natur. Er wies mich damit unausweichlich und folgerichtig auf den Dichter hin, der – seit Jahrzehnten – in seiner lyrischen „Pansmusik“ wieder und wieder Natur aufgezeichnet und festgehalten hatte, auf den Mann, in dessen Werk das seinen Anfang nahm, was – sehr viel später – als Entwicklungsphase der neuen deutschen Lyrik als sogenannte naturmagische Schule oft zitiert, polemisiert, verstanden und mißverstanden wurde.
Es sind jetzt vierzig Jahre her, daß Heinrich Eduard Jacob in einer damals vielbeachteten Lyrik-Sammlung Verse der Lebenden von Oskar Loerke (den er als den großen Gegenspieler Werfels empfand) schrieb: „Dieser Dichter scheint heute so sehr der Statthalter, Bewahrer, Fortsetzer alter Gefühlsströme zu sein, daß man meinen könnte, Claudius, Goethe, Mörike oder Eichendorff – kämen sie heute – würden dichten wie er.“ Der Anthologist meinte weiter, daß sich im Gedicht Loerkes die Natur selbst beweise.
Viel später hat einer der engsten Freunde Loerkes, Wilhelm Lehmann, feststellen können: „Verglichen mit den beiden anderen Versmeistern, George und Rilke, ist Loerke die große Natur.“ Es fällt die Formulierung von Rilkes „Unsichtbarkeiten“, aber auch vom „Gleichmut der Schöpfung“ bei Loerke. Und jedesmal fällt das Stichwort. Es heißt Natur. Wer sich – seinerzeit wie heute – mit dem Bilde, mit den Wirkungen des Dichters Loerke auseinandersetzen will, muß dieses Stichwort zum Angelpunkt seiner Betrachtungen machen.
Allein, immer noch gilt, was Hermann Kasack, und nicht er allein, in seiner Studie zum „Charakterbild eines Dichters“ von Loerke schrieb. Er war und blieb für lange so etwas wie der „große Unbekannte“ unserer Literatur, unserer Lyrik. Die Entwicklung seiner Poesie ging vergleichsweise langsam und fast lautlos vonstatten. Die Kräfte, die von dieser Dichtung ausgingen, waren niemals spontaner, vielmehr spröder, verhaltener Art. Hinzu kam, daß die Wirkungskräfte des Loerkeschen Gedichtes durch die politische Entwicklung später abgewürgt wurden. Als Loerke dann während des Krieges starb, war sein Werk halb verschüttet. Erst seit sechs Jahren haben wir infolge verläßlicher Neuausgaben seines Werkes, die Möglichkeit, uns von ihm in aller Öffentlichkeit ein Bild zu machen.
Welches waren nun die Phänomene, die in Loerkes Lyrik für mich zu wirken begannen? Nachträglich noch ist der Eindruck von einem Vorgang für mich groß, den ich in dieser Lyrik und bei diesem Lyriker beobachtete: Oskar Loerke als Autor hielt sich, in dem, was er schrieb, auf eine für mich bis dahin noch nicht gekannte und vergleichbare Weise zurück. Er entzog besonders da, wo er mir am wichtigsten werden sollte, in seinen Naturgedichten, das poetische Gebilde dem Zugriff der dichterischen Individualität. Er ließ es sozusagen im Gespräch mit sich selber liegen. Das war ein Vorgang, bei dem der Mensch beinahe nicht mehr beteiligt war. Und es wurde die Geburtsstunde einer neuen deutschen Naturlyrik, einer Dichtung, die im Sinne Loerkes „keine Auskunft, vielmehr Aussage“ gibt. Hermann Kasack bezeichnete solche Aussage als „Aussage eines Seinszustandes, der im Glücksfalle unser Seinszustand ist“. Oder mit des Dichters eigenen Worten: „mehr der Gesang der Dinge als meine Stimme.“
Loerkes Lyrik – erkannte ich – war eine Lyrik, die angesichts ihrer Erkenntnis vom „Miserablen des privaten Grams und Glücks“ Zustände anstelle von Reaktionen gibt. Die Eliminierung des persönlichen Temperaments, der Teilnahme und Anteilnahme oder doch ihre Reduzierung, wurde dann – nicht nur für mich – eins der „Ereignisse“ des Naturgedichts Loerkescher Prägung. Hier wurde jemand im Gedicht dem Menschen gegenüber, nach langer Zeit anderer poetischer Praktik, zurückhaltender, vorsichtiger, ja, indifferenter. Das „Erleben“ wurde neutralisiert. Loerke sagte dazu: „Ich hatte mein Erleben heimzuleiten in die Form seiner Existenz durch Sprache.“ Oder auch, allgemeiner: „Das Ich scheint von vielem Nicht-Ich und All-Ich beschränkt oder bereichert.“ Die Individualität wird von nun an – in welcher Variante auch immer – als die von „Überlagerungen“ verschiedener Art heimgesuchte dargestellt. Die „magna natura“ hatte mit sich zu tun. Auch der Mensch wurde von ihr gelebt.
Ich sah damals nicht die Grenze, die Gefahren eines derartigen Autonomisierungsprozesses der Naturkräfte. Mich faszinierte der starke Objektivierungszwang, der besonders in frühen Arbeiten Oskar Loerkes vorangetrieben wurde, eine Objektivation, die allerdings von einer magischpantheistischen „Erweiterung“ des Dargestellten begleitet war, von einer naturalen Autosuggestion, die die angestrebte „Existenz durch Sprache“ in ihrer Sachlichkeit und – erhofften – Kühle gefährdete durch Elemente sprachlichen „Zauberns“. Es war wohl das, was auch Heinrich Eduard Jacob schon vermutet haben mochte, als er die für Loerke zunächst unzutreffende Formel vom „spielenden Dichter“ verwendete. Das „Spiel“ war damals nicht im heutigen Gebrauch der Literaturkritik als freie Wortkombinatorik, als absurdes Tun, vielmehr als „Zaubern“ zu verstehen gewesen, als sprachliches Suggestivmittel, wie man es tatsächlich beim frühen Loerke beobachtet. Erst später kommen – in Verbindung mit der Zurückdrängung der pantheistischen Komponente in seiner Lyrik – sachlichere Töne auf und dominieren.
Es war nicht einmal das „Spiel“ der Natur mit sich selber, das gemeint sein konnte. Dazu war die Loerkesche Natur-Magie, überhaupt die naturale Chiffrenkunst bei ihm und bei seinen Nachfolgern eine zu ernste Dichtung. Sie war es selbst dann noch, wenn sie sich – wie zunächst bei Loerke, später gelegentlich bei dem hier von ihm vielleicht beeinflußten Günter Eich – in exotische Ferne, ins Chinesische begab. Jener Exotismus bei Loerke gehört zu einer von Loerke, später von Lehmann praktizierten neuen Raum-, Zeit-Perspektive, die von der folgenden, unter Loerkes theoretisch-poetologischen Äußerungen zu findenden Bemerkung erklärt wird: „Auf dem Erdkörper ist alles näher zusammengerückt. Unser Bewußtsein hat sich gewöhnt, mit dem vermehrten Haushalt zu wirtschaften.“ Oder: „Das Topographische auf allen Gebieten ist präziser und nüchterner“, ein Satz, der allerdings eher von dem sich präzisierenden Wilhelm Lehmann stammen könnte, der von der „präzisen Zeichenreihe der Dichtung“ sprechen konnte, als von Oskar Loerke.
Von Loerke ist in einem seiner Aufsätze die Feststellung überliefert, daß „räumliche und zeitliche Nähen und Fernen“ alle einer „Mitte zustreben, und zwar einer sinnlich faßbaren und gesicherten Mitte.“ Die literarische, die poetische Verwirklichung der „Nähe der Ferne“ sowie der „Ferne der Nähe“ wird neu fixiert und ist für ihn „tägliche Erfahrung“. Ist Daseins-Erfahrung, der gegenüber Loerke bekennt: „Ich sträube mich, phantasierend zu erfinden, wo das Dasein stärker ist als jede Erfahrung“. Eine geradezu kanonische Feststellung, die dann von der neuen Naturlyrik, vor allem von Wilhelm Lehmann in seinen Gedichten realisiert worden ist. Loerke gab damals ein dichterisches Beispiel für solche Gesinnung. Er sagte: „Zwölf Zeilen können eine Minute, eine Stunde, ein Jahr vertreten.“
Dieser entscheidende „Kunstgriff“ der Loerkeschen Lyrik: sein neuer Raum- und Zeit-Perspektivismus, das, was noch nachträglich von Hermann Kasack festgestellt wurde: „Wenn in der Loerkeschen Welt alle Räume einen Raum bilden und die Ströme aller Zeiten sich in den mythischen Augenblick der ewigen Gegenwart sammeln, liegt darin ein Vollzug dichterischer Magie“: diese Blickwendung des Loerkeschen Gedichtes zog mich ebenso an, wie seine Objektivationsfähigkeit und die sich aus ihr ergebende Zurückdrängung von Autorschaft im Gedicht, Zurückdrängung des poetischen Subjektivismus. Mir schien beides eine notwendige Voraussetzung für das zeitgenössische Gedicht zu sein. Das Komprimieren von Raum und Zeit in den Moment der dichterischen Aussage mußte nicht unbedingt zu einem »mythischen Augenblick« werden, wie das Kasack gemeint hatte, wenn diese momentane Magie auch für Loerke in seinen Arbeiten zutreffend war. Aber jedenfalls war durch die Fixierung von Raum und Zeit auf die kleine Zeiteinheit eine Intensität und mit ihr eine literarische Verbindlichkeit entschieden neuer Art gewonnen. Der Moment der Aussage – noch aus dem Prozeß des Entstehens des Gedichtkorpus heraus geäußert – wurde als dominierend gegenüber dem langen und endlosen Nacheinander der Zeitabfolge wie vor der unübersehbaren Breite der Räumlichkeit empfunden. Damit war eine deutsche Version des poetischen Aperspektivismus gefunden, unabhängig und wahrscheinlich ohne Kenntnis von den Errungenschaften des modernen Gedichts im Westen, unabhängig von Apollinaire, dem lyrischen Kubismus seiner Freunde, der perspektivischen Revolution, die durch sie und durch die Surrealisten einsetzte.
Dies alles war natürlich für mich unter den Umständen, unter denen ich in den dreißiger Jahren zu Loerke, Lehmann Zugang fand, etwas höchst Ungewöhnliches und jedenfalls Aufregendes. Hier – spürte ich – war das zeitgenössische Gedicht, allen Vorschriften der politischen Machthaber zum Trotz, ein wirklich modernes Gedicht geworden, wenn ich auch die eigentümlich isolierte und von der internationalen Lyrik wenig berührte Entwicklung Loerkes erst sehr viel später einsah. Als dies geschah, war für mich eine Begegnung bereits Geschichte geworden, und ich konnte sie demnach für mich historisch begreifen.
An Loerke lernte ich den Vorgang der Entindividualisierung einsehen, der für das Gedicht in unserer Zeit so wichtig und folgenreich werden sollte. Und ich merkte mir seinen zornigen Ausbruch gegenüber den „dummen Gefühlen“ in der Lyrik, die die „ansteckende und vernichtende Seuche“ solcher Lyrik seien. So etwas las sich – heute eine Selbstverständlichkeit und keine Äußerung wert – vor mehr als einem Vierteljahrhundert wie eine revolutionäre Mitteilung.
Aber freilich – und das gehört zu den frühesten Erfahrungen, die ich mit Loerke und mit dem, was durch Loerke literarisch ermöglicht wurde, machte – die Errungenschaften der Lyrik Oskar Loerkes waren auf eine überaus schmale Grundlage gestellt, was mit der isolierten Position seiner Lyrik in der deutschen Umwelt zu tun hatte, aber auch allgemein mit der Unfähigkeit des deutschen Gedichts, außerdeutsche Kontakte aufzunehmen und in eine – wie immer geartete – Korrespondenz mit einer international wirksamen Poesie zu treten. An dieser Inzucht krankte auch die Dichtung Oskar Loerkes. Sie blieb zu sehr sich selber und ihren Ausdrucksmöglichkeiten überlassen, zu denen von Anfang an auch jene „drängende, untere Ewigkeit“, jene Humidität und ihr vegetativer Abgrund gehörte, in dem sich später die orthodoxe Naturlyrik verlor, während sie weiter an der Phantomisierung der Individualität arbeitete (und gelegentlich laborierte), wie man sie seit dem für diesen Prozeß besonders charakteristischen Loerke-Gedicht „Nächtliche Körpermelancholie“ aus dem Buche „Pansmusik“ fixiert findet.
Ich greife mit solchen Feststellungen vor. Sie setzen spätere Entwicklung voraus, die freilich in Loerkes Gedichten angelegt war. Es waren Folgeerscheinungen einer literarischen Konzeption, die zu ausschließlich auf einen bestimmten poetischen Bereich bezogen blieb, die thematisch sich nicht erweitern lassen konnte, ohne von Kräften zu kommen. Diese Kräfte lagen so sehr im Bereich einer alles bestimmenden Fauna und Flora, daß sie außerhalb dieses Bezirks sogleich unwirksam wurden. – Dagegen kamen auch die eigentlich „modernen“ Merkmale der Dichtung Loerkes und nach ihm Wilhelm Lehmanns nicht auf, nicht die erwähnte Objektivierung des Lyrischen, nicht der, wenn auch im allgemeinen vorsichtig angewendete, Aperspektivismus.
Diese Ansatzpunkte blieben für mich bis heute wichtig und verbindlich, nicht das poetische Material, die Stoffe, die Thematik des Loerkeschen Gedichts, die mit großem Ernst und aller Folgerichtigkeit immer aufs neue vollzogene Bindung an die vorgegebenen Naturgegenstände. Denn ein derartiger Ernst verhinderte auf die Dauer die notwendig werdende Distanz zur mitunter überdetaillierten Stofflichkeit. – Ich versuchte in dem, was ich an Gedichten schrieb – von einem gewissen Zeitpunkt an, der nun auch schon wieder mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt -, die notwendige Entfernung zu gewinnen und mit der Entfernung die Befreiung aus der stofflichen Überwältigung durch das vegetative Detail.
Rechtzeitig zu Hilfe kam mir dabei die Bekanntschaft mit der zeitgenössischen französischen und spanischen Lyrik, auf deren Studium ich damals Jahre verwendete. Mit ihr ergab sich für mich ein „Angebot“ ganz neuer Möglichkeiten der Stoffbehandlung, unter Umständen desselben Stoffes. Ich lernte bei der Beschäftigung mit den Franzosen, den Spaniern etwas kennen, was inzwischen auch schon wieder Geschichte geworden war: den Surrealismus in seinen Ausprägungen und Verwandlungen. Diese westeuropäische Literaturphase war, als ihre Wirkungen mich erreichten, längst ins Altern gekommen. Das Land, in dem sie von der Lyrik am wirkungsvollsten praktiziert worden war, Frankreich, hatte sich vom Surrealismus – bis auf einige Nachhutgefechte – abgewendet. – Aber solcher Alterungsprozeß kam mir insofern zugute, als er mir bereits das zuführte, was die surrealistische Wort- und Bildbehandlung zu verarbeiten verstanden hatte.
Vor allem die vom Surrealismus geübte Metaphorik verhalf mir zu einer Lösung vom Stoff-Zwang des Naturgedichts, oder brachte mich doch in ein anderes und neuen Verhältnis zum Stoff. Die Überwältigung durch ihn, die sich im Gedicht als jene merkwürdige Benommenheit bekundete, wie sie für die Natur„magie“ so oft eigentümlich war, wich einem souveräneren Umgang mit ihm. Eine neue Gefahr tauchte auf. An Stelle der Knechtschaft des Stoffes konnte die Knechtschaft durch das Bild treten.
So hatte ich fortan eine Balance zwischen Stoff und Bild zu versuchen. Ich vermute, daß sich durch solchen Versuch in meinen Gedichten eine Art Schwebe-Vorgang einstellte. Gleichzeitig stellte sich Schritt um Schritt die Zurückdrängung der Gegenständlichkeit ein. Gegenständliches wurde von mir – zunächst unbewußt – als Ballast, als Belastung empfunden. Aber ich muß hinzufügen, daß nicht nur der Gedicht„gegenstand“, sondern auch das poetische Bild zurückgedrängt wurde. Es setzte – ohne daß eine völlige Strukturveränderung eintrat, ohne daß eine bestimmte Thematik völlig eliminiert wurde – ein lakonischeres Sprechen ein, eine Stimmlage war gefunden, die der sich langsam vollziehenden Veränderung entsprach. Weder ein „Überangebot“ an Stoff, wie sie Loerke und diejenigen, die von ihm herkamen, bereithielten, noch ein entsprechendes „Überangebot“ an Bild, in der Manier des poetischen Surrealismus, ermöglichen diese trockene, lakonische Tonlage des dichterischen Textes, in der ich mich nach und nach zurechtfand.
Daß ich den Reim damals aufgab – auch ihn schrittweise, im Gegensatz zu Loerke, zu Lehmann −, war für mich ebenso zwangsläufig wie notwendig. Der Vorgang ist zwar augen- und ohrenfällig, aber im Grunde nichts anderes als eine äußere Folge innerer Veränderungen, die weniger sichtbar vonstatten gehen, eine Folge der genannten Reduktionsvorgänge im Stofflichen und im Metaphorischen. Auch „Magie“ und was an ihr „zauberhaft“ erscheint, wirkungsvoll, oder wie immer man das nennen mag, wurde mit dem Abbau des Reims betroffen. Sie war um akustische und um visuelle „Effekte“ gebracht. Ich muß ergänzen, daß eine derartige Betrachtung des Reimes im Gedicht, wie ich sie hier gebe, bereits die Erkenntis seiner Veräußerlichung voraussetzt und ihm – mehr oder minder – nur noch die Funktion eines Versatzstückes; wie sie literarischer Zierat hat, zubilligt.
Wichtiger als das allmähliche Verschwinden des Reimes aus meinen Arbeiten waren Stoff-Verflüchtigung und Bild-Verdünnung. Im Zusammenhang damit trat eine zunehmend knappere Gedichtfassung auf, die gelegentlich bis zur einsilbigen Kürze gelangte. Nun ist allerdings allgemein die „Stoffhuberei“ im Gedicht überwunden worden und wo Stoff nicht zu übersehen ist, so tritt er gleichsam in der „Verkürzung“, in einer bestimmten Behandlung, Stilisierung auf. Er muß sich Ironie, Groteske, ein Spielen mit ihm, ein Umspielen gefallen lassen. Dem Stoff wird – mit anderen Worten – auf verschiedene Weise mitgespielt, was ihm übrigens gut zu bekommen scheint. Man bemerkt das besonders als Erleichterung, wenn man aus dem gegenstandsüberfüllten Bereich des neueren Naturgedichts kommt, wie ich es tat.
Die rabiate (oder konsequente) Aufgabe von Stoff- und Sinnzusammenhang im Gedicht, die an die Stelle der Stoffherrschaft die Herrschaft des Einzelwortes setzt, ist – bei meiner literarischen Herkunft – freilich schwer vorstellbar und kaum zu vollziehen. Hier wirkt – so scheint mir literarische Tradition fort. Loerkes „Gesang der Dinge“, sosehr er für mich historisch geworden ist, so weit entfernt von ihm ich mich mit dem, was ich schreibe, auch aufhalte, ist vielleicht doch insofern noch wirksam als er bei mir verhindert, was inzwischen im Gedicht realisiert worden ist: eine Skelettierung von Stoff und Sinn und der aus ihr resultierende Verbalismus, einschließlich der Autonomisierung des Wortmaterials, die Autorschaft lediglich zu einem Pilotenamt macht. Diese ebenso logische wie gelegentlich bedenkliche Progression, die im übrigen zur Zeit rückläufig zu werden beginnt, hat für jemanden, dem Oskar Loerke und durch ihn Wilhelm Lehmann und das neue deutsche Naturgedicht und seine immerhin zweihundertjährige Entwicklung vorbildlich wurden, etwas unüberwindlich Problematisches und Fatales. Sie ist für ihn – auch wenn er diese Progression einleuchtend findet – niemals praktikabel.
Unsere Natur- und Landschaftslyrik hat meiner Meinung nach dagegen, auch in ihren besten Augenblicken, bei ihren besten Vertretern, an einer Bedeutungsschwere gelitten, die ihrer Bewegungsfähigkeit, ihrer Variabilität nicht guttat. Sie blieb oft stoffbenommen, stoffbetäubt. Ich versuchte – über die Jahre hin – den Worten größere Leichtigkeit und mit ihr größere Beweglichkeit zu verschaffen und der Zeichenhaftigkeit, der Chiffrenkunst eine Kunst der singbaren Formel einzuverleiben, der „präzisen Zeichenreihe“ „mathematisches Entzücken“ beizugeben, die geometrische Klarheit, die algebraische Sicherheit. Ich war bereit, diesen Zustand im Zugriff, in der Überraschung, im poetischen Handstreich zu erreichen. Die „Aufhellung“ von Bedeutung im Gedicht hat mich möglicherweise von meiner Ausgangsposition nicht so weit entfernt, wie das, artistisch gesehen, scheinen könnte. Und wiederum muß ich die – wahrscheinliche – Wirksamkeit literarischer Herkunft als Grund nennen. – Wenn ich anfangs sagte, daß man sich seine literarischen Vorbilder nicht aussuchen könne, so wiederhole ich jetzt, daß man der literarischen Tradition niemals ganz entkommen wird. Über ein gewisses Maß der Entfernung von ihr wird es nicht hinausgehen. Ich glaube zuweilen noch die Echowirkungen zu spüren, die von dem ausgehen, was ich in jungen Jahren als Lyriker erfuhr. Was alles nicht ausschließt, daß ich mich – ebenso spürbar – in einem immer wechselnden Kraftfeld von verschiedenartigen Einflüssen bewege oder von ihm bewegt werde: lesend, lernend, aufmerksam, neugierig, reizbar, kurz: am Leben, einem Leben, in dem es keinen Stillstand gibt, das mich bis in die einzelne Vokabel prüft, das mich erfrischt, in einem literarischen Leben, das schlaflos macht, weil es mit den Überraschungen, die es bereithält, jeder Phantasie spottet.

Karl Krolow, 1966 aus: Karl Krolow: Ein Gedicht entsteht, Suhrkamp Verlag, 1973

Erinnerung an Oskar Loerke

Am 13. März dieses Jahres (1954) hätte der überragende Dichter, der große, gute Mensch Oskar Loerke seinen siebzigsten Geburtstag begangen. Er starb am 24. Februar 1941 in seinem Frohnauer Hause, das, schwer errungen, nach seinen Plänen erbaut war, das er liebte und vor dem er den Rasen gern selbst mähte.
Aus Westpreußen gebürtig, hat er den größten Teil seines Lebens in Berlin zugebracht, an seiner Dichtung und, indem er aus der Not der sozialen Existenz eine Tugend machte, als Lektor des S. Fischer Verlages, Nachfolger Moritz Heimanns, im Dienste des deutschen Schrifttums tätig, unzähligen Autoren Berater, Helfer, Freund, in deren Eigenschaft er mit den Worten Gerhart Hauptmanns, den Loerke tief verehrte, „die Bewunderung aller und unauslösliche Dankbarkeit verdient“. Er ist viel leidend gewesen. Sein Herz setzte aus, als der Ungeist Deutschland vergewaltigte.
Wenn in so zerrütteten Zeiten wie der unseren aller Besitz unsicher wird, alle Maßstäbe wanken und die verwirrten Menschen auch fragen, was denn Dichtung sei und was sie solle, so kann ein Gedicht, ja jede Zeile Oskar Loerkes ihnen Auskunft erteilen.
Was ist poetisch? Sind poetisch das Dorf, ein liebendes Mädchen, eine Blume am Fenster, ein Baumwipfel im Abendrot oder eine singende Amsel? Und unpoetisch die Großstadt, eine kahle Brandmauer, eine Abfallgrube, ein Tisch mit Speiseresten? Da aber alles, was ist, nur durch ein Wunder existiert, so will die Poesie vielmehr der Schöpfung vollständig innewerden. Also empfängt sie das ganze Dasein und läßt nichts aus. Der Dichter ist derjenige, der, allen leeren Wortschällen feind, nichts unempfunden läßt, die Schöpfung aus erster Hand empfängt und jede Wesenheit, sie stelle sich als Greis, als Kind, als Kaiser, als Bettler, als Hund, als Ameise, als Jesuwundenkraut dar, sich auf sich selbst besinnen und ihrer selbst froh werden heißt. „In den Gedichten großer Dichter“, formuliert ausgezeichnet Willy Haas, „gibt es keine Phrasen, auch keine Gefühle und vielleicht nicht einmal Träume, sondern nur Wahrheiten: es gibt in ihnen, in einem allerdings höchst erweiterten Sinne, nur historische Tatsachen.“
Oskar Loerke hat die Riesenstadt Berlin lyrisch festgehalten: Berlin mit Brandmauern, Reklameschildern, Schemabriefen, Stempeln, Motoren, Gully, Hinterhof. Nicht ferner aber weilen ihm die Sintflut, Gilgamesch, die Sahara, China, Pompeji und Atlantis. Berlin wandelt sich zu einem arabischen Märchen und glänzt wie das Atlasgebirge. In nächtlicher Vision kehrt sich das Droschkenpferd zum Iguanadon und sinnt seinem Urleben nach, denn

Es jemals zu vergessen,
War es einmal doch zu süß.

Die Spreezille fährt an uns vorüber, darauf ein Pudel Wache hält:

Er hat krauses Haar und die Löwenschur
Und ein Hirn, die Welt zu erfassen,
Und eine Seele, die ganze Natur
Philosophisch geraten zu lassen.

In seiner Mietwohnung in einem Hinterhaus der Joachim-Friedrich-Straße, Halensee, sitzt der Dichter:

Manchem gründete Sankt Peter
Den Felsen überm Wasserlärm.
Mein Horst im hupenden Gezeter
Ist Rabitzwand und Rohrgedärm.

Warum sträuben sich die Heutigen gegen solche Gedichte? Weil ihnen die Wahrheit der fünf Sinne verlorenging. Denn diese Dichtung ist vollauf beschäftigt, sich die irdischen Dinge zu merken, und es gehört Gesicht dazu, die Dampfheizung als Rohrgedärm zu empfinden. Die Welt läßt sich nicht ausbesehen. Es ist, als ob ein gewisser Blick schon ein Gedicht erzeuge, so heute wie immer. Loerkes Gedicht „Garten“ füllt sich mit Gegenwärtigkeit des Sommerseins. Es lebt von dem Blick auf Gaillardie, Akanthus und Lavendel wie, über drei Jahrhunderte hinweg, John Sucklings „Hockzeitsballade“ vom Blick auf ein Wangenrot:

For streams of red were mingled there
Such as are on a Katherine pear –.

In sieben zu immer höherer Meisterschaft gedeihenden Versbänden, Burgen des Gesangs, aufersteht unsere Welt, am letzten Tage so herrlich wie am ersten, denn wenn auch Schwermut sie durchbebt:

Fern und glühend aufgerichtet
Flammt die alte Menschheitsklage,
Unverändert, unvernichtet,

so tröstet „es“:

Ewig mag die Erde bleiben
Unsres Geistes Dichtergarten!

Ein zweites „unbekanntes Genie“ gilt es zu entdecken. Diese Freude steht dem unglücklichen Volke der Deutschen bevor.

Wilhelm Lehmann, Die Welt, 9.3.1948

Lutz Seiler: Nicht der Ehre wert. Berlin gibt Andenken an den Dichter Oskar Loerke auf. Das ist empörend.

 

GEDICHT FÜR OSKAR LOERKE

Dasein
in der Schallgruft von Harmonien
für Welt und Himmel. Unbemerkt
der Abweg in den Verzicht, der Hunger
nach Leben, einmal nur, unantastbar
und MENSCHLICHKEIT, ein Wort, erstickt
von Trauer, Nacht für Nacht
als die Sprache starb.

Wenn ich ihm antworten könnte:
er hat nicht vergebens
Wörter geschaufelt in den Klageofen;
seine Strophe trägt
den Atem der Erde und schwankt nicht;
von Fledermäusen und Blättern dunkel
schwirrt der Abend über den Strom, und das letzte
Licht gehört ihm, an allen Tagen.

Er soll kommen, sich setzen
an meinen Tisch.
Wenn ich ihn bitten könnte, aus meinem Tag
eine Sonne zu nehmen. Er soll
wohnen, hier, wo ich bin: in sieben Toden
sieben mal lebendig. Er soll
nicht bitten müssen um Obdach für seine
Silberdistel im Abfallkarren.

Es ist nicht zu spät, ihn zu fragen
wo wir das Jenseits
unterbringen, und wie wir leben, im Fleisch
die Foltern der Zeit, im Gedächtnis
die Rufe der Toten
und was zu hören ist, deutliche Stimmen
vom Neubau der Welt, und daß die Kraft
nicht nur im Baum sei
sondern in unserem Atem.

Christoph Meckel

 

AUF SOMMERLICHEM FRIEDHOF (1944)
In memoriam Oskar Loerke

Der Fliegenschnäpper steinauf, steinab.
Der Rosenduft begräbt dein Grab.
Es könnte nirgend stiller sein.
Der darin liegt, erschein, erschein!

Der Eisenhut blitzt blaues Licht.
Komm, wisch den Schweiß mir vom Gesicht.
Der Tag ist süß und ladet ein,
Noch einmal säßen wir zu zwein.

Sirene heult, Geschützmaul bellt.
Sie morden sich: es ist die Welt.
Komm nicht! Komm nicht! Laß mich allein,
Der Erdentag lädt nicht mehr ein.
Ins Qualenlose flohest du,
O Grab, halt deine Tür fest zu!

Wilhelm Lehmann

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

 

Zum 75. Todestag von Oskar Loerke:

Christian Lindner: Die vergessene Naturlyrik von Oskar Loerke
Deutschlandradio Kultur, 24.2.2016

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