Ossip Mandelstam: Die beiden Trams

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ossip Mandelstam: Die beiden Trams

Mandelstam-Die beiden Trams

AM UFER dort, wo die Ägäis rollt
Leben die Archivanen. Dieses Volk
Ist wohl schon älter. Und von schiefem
Und schmutzigem Gerwerbe voll −
Verkauf von Schriftstellerarchiven.
Sie nähren sich von heiligen Blättern
Und schändlich raschelndem Papier,
O weh! – sind sie denn noch zu retten
So nackt und auch verachtet hier…
aaaaaWas wollen die bloß?

 

 

 

Ein kleines Gedicht auf einen Schneider

− Scherzartikel mit Hintergründen: Poesie und Kinderei, Ulk und Kultur bei Ossip Mandelstam. −

Das Lachen entsteht wie diese Gischt. Es signalisiert,
außerhalb des gesellschaftlichen Lebens,
die Revolten an der Oberfläche. Es zeichnet augenblicklich
die bewegliche Form dieser Erschütterungen nach.
Es ist ebenso ein Schaum, der Salz enthält.
Wie der Schaum prickelt es. Es ist Fröhlichkeit.
Der Philosoph, der es aufliest, um es zu kosten,
findet darin zuweilen, bei einer geringen Menge
an Materie, eine gewisse Dosis Bitterkeit.

Henri Bergson: „Das Lachen“

I
Mandelstams tragische Lebensumstände – Armut, Hunger, politische Verfolgung unter Stalin, Verbannung, Tod im Zwangsarbeiterlager – überschatten bei jeder Begegnung mit seinem Werk die zahlreichen Facetten seines dichterischen Wesens. Der vorliegende zehnte und abschließende Band unserer Werkausgabe dürfte das Mandelstam-Bild, wie es auch im deutschsprachigen Raum vorherrschend ist, nicht unerheblich erweitern. Die Lebensdokumente des vorangegangenen Briefbandes (Ossip Mandelstam: Du BIST MEIN MOSKAU UND MEIN ROM UND MEIN KLEINER DAVID. Gesammelte Briefe 1907-1938. Ammann Verlag 1999) haben die chaotischen Lebensumstände und widrigen politischen Verhältnisse ahnen lassen, denen die poetische Leuchtkraft dieses Werkes abgerungen werden mußte. Auch die hier versammelten Kinder- und Scherzgedichte sind ein nicht weniger dem Tragischen abgetrotztes Teilstück eines Lebens-Werks.
Im vorliegenden Band soll Raum sein für einen „anderen“ Mandelstam, der jedoch kein anderer sein kann als er selbst. Denn ausgelassener Humor, durchtriebene Ironie, ein poetischer Spieltrieb – all dies kennzeichnet den großen Lyriker nicht weniger als die unzweifelhaft tragischen Umstände seines Lebens in einer finsteren Epoche. Auch in seinen „ernsthaften“ lyrischen Texten jedoch läßt sich nicht selten etwas Jubilierendes spüren, ein verstohlener Triumph über jede Erdenschwere. Daß Mandelstams Werk ein völlig dem Leben zugewandtes Werk ist, geradezu eine Feier des Diesseitigen, Irdischen, Sinnlichen (Ralph Dutli: Ein Fest mit Mandelstam. Über Kaviar, Brot und Poesie. Ein Essay zum 100. Geburtstag, Ammann Verlag 1991), erweist sich aufs neue in seinen Kinder- und Scherzgedichten.
Diverse Zeitgenossen haben sich an seinen Humor erinnert, an sein unbegründetes, zuweilen unkontrolliertes Lachen, aber auch an seine geistreichen Epigramme, seine satirische Schärfe, seinen Witz. Die klügsten dieser Zeitgenossen haben erkannt, daß beide Aspekte, Tragik und Lachen, zusammengehören. Stellvertretend für diverse andere sei der Literaturwissenschaftler und Kinderbuchautor Kornej Tschukowskij (1882–1969) und sein Erinnerungstext „Ein Meister“ von 1966 zitiert:

Eines der optimistischsten Gedichte der russischen Poesie… Ein durch Leiden erlangter Optimismus, der durch Verzweiflung, Tränen und Tod gegangen war. Doch gesegnet seien alle momentanen Lockungen und Bezauberungen des Lebens!… Die ,stille Freude, zu atmen und zu leben‘ hat ihn lange nicht verlassen. Sie war auch in seinen funkensprühenden, fröhlichen Augen zu sehen und in seiner zielstrebigen, fast jungenhaften Art zu gehen. Meist traf ich ihn in jener Zeit bei Anna Achmatowa. Schon daran, wie kräftig er am Türglöckchen zog, erkannte sie ihn: Das ist Ossip. Sofort begann im kleinen Zimmerchen ein ganzes Lach-Gelage. Es sah aus, als sei er nur deshalb hergekommen, um sich für einen Monat im voraus sattzulachen. Ich habe mit niemandem so gut gelacht wie mit ihm! erinnerte sich Anna Achmatowa.

2.
Mandelstams Kindergedichte sind kein simples Beiwerk. Er schrieb sie zumeist in den Jahren 1924 bis 1926, als sein „eigentliches“ lyrisches Schaffen zu versiegen drohte: Vom Frühjahr 1925 bis Oktober 1930 wird er keine Lyrik mehr schreiben, in der Auseinandersetzung mit seiner Epoche das Schweigen wählen. Erst die Reise nach Armenien von 1930 ließ ihn seine Stimme wiederfinden und das große lyrische Spätwerk der dreißiger Jahre eröffnen.
Die vier Kinderbücher, die 1925 und 1926 in sowjetischen Verlagen veröffentlicht wurden (Der Primuskocher, Die beiden Trams, Luftballons und Die Küche), waren kleine Möglichkeiten der Besinnung, der bescheidenen Sammlung, und befreiten Mandelstam vorerst von dem Druck, sein lyrisches Werk vorantreiben und erneuern zu müssen. Nadeschda Mandelstam schreibt in einem kurzen Erinnerungstext, der im vorliegenden Band unter den „Dokumenten“ abgedruckt ist, von seinen Kinderbüchern habe er besonders den Primuskocher und Die Küche geliebt, die aus kurzen, witzigen Gedichten bestehen.
Mehrere Gedichte des ersten Kinderbuches Der Primuskocher (1925) beziehen sich auf Alltagsgegenstände, die auch in Mandelstams dichterischem Werk wesentlich sind. Der Wärme und Gekochtes spendende Kerosinkocher (Marke „Primus“) wird in einem Gedicht von Januar 1931 wieder auftauchen, das wie keines das Nomadenleben der Mandelstams in den dreißiger Jahren, das Suchen nach Unterkunft bei wenigen Verwandten und Freunden, die Küchenbiwaks und erneuten Aufbrüche, schlicht und beklemmend ahnen läßt. Auch das Telephon, das weiße Hemd, das elektrische Licht, das Holzscheit, der Kringel, der Milchkrug, die Küchenuhr – diese an sich banalen Alltagsgegenstände bekommen bei Mandelstam ihre besondere Aura.
Die Würde des Alltagsgegenstandes entspricht der Poetik des 1912 gegründeten Akmeismus, dem Mandelstam zeitlebens treu blieb: In Auflehnung gegen die Jenseitsbezogenheit des russischen Symbolismus konzentrierte er sich auf das Irdische, Konkrete, Drei-Dimensionale. Auch Mandelstams Kinderbücher entsprechen dieser Poetik durchaus. Die liebevolle Versammlung Wärme spendender Gegenstände erinnert an jene zentrale Passage in Mandelstams poetologischem Essay „Über die Natur des Wortes“ von 1922, wo er einen „inneren, häuslichen Hellenismus“ entwirft:

Hellenismus ist ein Tontopf, eine Ofengabel, ein Krug mit Milch, häusliches Gerät, Geschirr, alles, was den menschlichen Körper umgibt. Hellenismus ist die Wärme eines Herdes, die als etwas Heiliges empfunden wird, jegliches Besitztum, das den Menschen an der Außenwelt teilhaben läßt, jegliche Kleidung, die über jemandes Schultern gelegt wird… Hellenismus ist das bewußte Sich-Umgeben des Menschen mit Gerät anstatt mit bedeutungslosen Gegenständen, die Verwandlung solcher Gegenstände in Gerät, die Vermenschlichung der umliegenden Welt, deren Durchdringung mit feinster teleologischer Wärme.

Nicht nur Bezüge zum lyrischen Werk und zur akmeistischen Poetik lassen sich in Mandelstams Kindergedichten aufdecken, sondern auch subtile biographische (und politisch brisante) Spuren lassen sich verfolgen. In dem Kinderbuch Die beiden Trams (1926) verschlüsselte Mandelstam, wie die russische Literaturwissenschaftlerin Jelena Sawadskaja gezeigt hat, seine ungebrochene Zuneigung und seine Trauer um den toten Freund und Dichterkollegen Nikolaj Gumiljow, der am 25. August 1921 als angeblicher „Konterrevolutionär“ in Petrograd erschossen worden war. Eines der berühmtesten Gedichte Gumiljows hieß „Die verirrte Trambahn“ (1921). Mandelstam wählte, um mit ihm einen postumen Dialog zu führen, das für den toten Freund emblematische Trambahn-Thema und übersetzte es in ein kindliches Universum: Tram sucht seinen verlorenen Bruder Klik. In einem Essay oder Erinnerungstext über den erschossenen Dichter sich zu äußern, wäre zu jener Zeit bereits unmöglich gewesen.
Die beiden Trams sind ein weiterer Beleg dafür, daß das Genre des Kinderbuches erstrangigen Dichtern in den sowjetischen zwanziger und dreißiger Jahren half, materiell und zuweilen auch geistig zu überleben. Die wunderbaren Kinderbücher von Daniil Charms und Alexander Wwedenskij, deren spät-avantgardistische „OBERIU“-Gruppe 1930 unter proletarisch-offiziöser Schmähpropaganda als „literarisches Rowdytum“ verunglimpft und zerschlagen wurde, sind ein anderes prominentes Beispiel.
Die Suche nach der „Trambahn-Wärme“, wie es in einem Gedicht Mandelstams aus dem Jahr 1924 heißt, setzt sich mitunter fort in fröhlichen, hintergründigen Kinderbüchern. Sie sind auch ein Versuch, in einem zunehmend öden geistigen Klima den Humor zu bewahren. Selbst das scheinbar so harmlose Kinderbuch Luftballons von 1926 enthält politischen Zündstoff. Die Farbe der Luftballons ist keinesfalls zufällig. „Ich Grüner krieg Kummer (…) Vom schrecklichen Roten“, heißt es da. Kann eine Farbgebung Mitte der zwanziger Jahre noch „unschuldig“ sein? Seit dem russischen Bürgerkrieg 1918-1921 zwischen bolschewistischen „Roten“ und zaristischen „Weißen“ wurden politische Kämpfe anhand von Farben ausgedrückt. Die Farbe „Rot“ wurde in der Sowjetunion früh sakralisiert. Mandelstams Sympathie gehört auch im Kinderbuch nicht dem „Roten“ („dem Großkopf, dem Lauten“), sondern dem „Grünen“, dem unsicheren „Findling“ und „Pflegekind“ („Ich bin nur ein Findling, ich brauche Begleitung“). Auch das Thema der Freiheit blitzt plötzlich auf in dieser harmlosen Umgebung. Der Junge schenkt schließlich dem kleinen Grünen die Freiheit („Was sollst du, du Dummling, / Hier kriechen als Schnecke? / So flieg schon hinauf / Samt Schnürchen am Bauch!“), während der „schreckliche rote Großkopf“ weiter am Schnürchen zappeln muß. Das Kindliche ist für Mandelstam Mitte der zwanziger Jahre noch einmal ein Ausweg aus einer Sackgasse.

3
Die russische Moderne hatte ihren eigenen Kind-Mythos, ihren Kult einer frischen, unverbrauchten Wahrnehmung der Welt. Poetisches Interesse für die kindliche Perspektive zeigt Boris Pasternak in Lüwers’ Kindheit (1918). Eines der kühnsten Experimente stammt von Andrej Belyj, der 1917 in seinem Roman Kotik Letajew den Bewußtseinsstrom eines Kleinkindes simulierte. Zuvor schon hatte sich der „primitivistische“ Teil der kubo-futuristischen Avantgarde von Kinderzeichnungen inspirieren lassen, Jelena Guro und Wassilij Kamenskij interessierten sich für die Kindersprache und ahmten sie nach. Auch die sinnbefreite „Zaum“-Lautsprache (die „transmentale“ oder „metalogische“ Sprache) der Dichter Welimir Chlebnikow und Alexej Krutschonych verdankte der Kindersprache viel. Bis hin zu den „Absurdisten“ um Daniil Charms und Alexander Wwedenskij hatten die russischen Avantgarde-Gruppierungen eine besondere, komplexe Beziehung zu Kindlichkeit und Kinderwelt.
Bei Ossip Mandelstam sind weder „Kindlichkeit“ noch „Kinderei“ je mit abwertenden Konnotationen verknüpft. In seinem Werk läßt sich eine durchweg positive Sicht des Kindlichen von den frühesten bis zu den letzten Texten feststellen. Eines der ersten erhaltenen Gedichte von 1908 preist die Bücher und Träume der Kindheit:

Kinderbücher, nur sie noch zu lieben,
Nichts als kindliche Träume zu sehn,
Alles Große weit weg von sich schieben,
Aus tiefer Trauer auferstehn.

Dieses Bekenntnis zur Kindlichkeit bedeutete auch eine Revolte. Es war eine Auflehnung gegen den allzu „erwachsenen“, altväterisch-mystischen, prophetischerhabenen russischen Symbolismus. Das Adjektiv „spielzeughaft“ kehrt in Mandelstams frühen Gedichten öfter wieder. Das Kindliche war für Mandelstam Programm, versprach Erneuerung der poetischen Kräfte, ja sogar Wiedergeburt.
Durch die gewaltigen historischen Umwälzungen von 1917 war plötzlich nicht nur die Poesie gefährdet, sondern auch die Kindlichkeit. Wenige Jahre nach dem Oktoberumsturz schildert Mandelstam die Zerstörung der alten Welt durch die bolschewistische Kulturrevolution als Opferung, als Schlachtung eines Kindes. Im Gedicht „Meine Zeit, mein Tier“ vom 8.19. Oktober 1922 heißt es:

Gleich dem Kindesknorpel, weichem,
Liegt die Erde säuglingszart,
Statt des Lamms den Lebens-Scheitel
Brachten sie als Opfer dar.

Die positive Sicht des Kindlichen wird noch in den letzten Gedichten Mandelstams bestätigt, ja sie erfährt gerade in den dreißiger Jahren Erneuerung und Steigerung. Aus der Auflehnung gegen den Symbolismus war jedoch existentieller Kampf geworden, Revolte gegen eine totalitär verwaltete Gegenwart. In den Gedichten der Verbannungszeit, den Woronescher Heften (1935-1937), werden Tiere (etwa im Stieglitz-Zyklus) und Kinder zu Verbündeten des verfemten Dichters gegen den Koloß der Stalin-Epoche. Erinnert sei an das Gedicht „Die Geburt des Lächelns“ (Dezember 1936/Januar 1937) und an einen Vierzeiler, in dem das Lächeln des Kleinkindes eine politische Dimension bekommt, als „unkäuflich“ und „ungehorsam“ gepriesen wird – als Weigerung, mit dem Lebensfeindlichen und der Menschenverachtung einer vom Totalitarismus entstellten Zeit zu paktieren.
Dieser politischen Dimension des Lächelns wie des Kleinkindes in den Woronescher Heften war eine poetologische in den Werken der Moskauer Periode (1930-1934) vorausgegangen. Die Kleinkindsprache, das Lallen (russisch: „lepet“), wird dort zur Metapher für die Sprache der Dichtung schlechthin. In Mandelstams wichtigstem Essay, dem „Gespräch über Dante“ von 1933, findet sich der bekenntnishafte Satz:

Was mich ebenfalls verblüfft hat, ist die Infantilität der italienischen Phonetik, ihre wunderbare Kindlichkeit, die Nähe zum Kleinkinderlallen, ein bestimmter uralter Dadaismus.

Merkwürdige Konstanz eines Motivs. In jenem frühesten Gedicht von 1908 versprachen die Kinderbücher eine Auferstehung aus der Trauer. Und in einem Kurzgedicht von Januar 1937 skizziert Mandelstam seine Auferstehung als eine Auferstehung durch das Kleine und Kindliche – im Sinne einer Erhebung gegen das Monumentale, Gewaltige, Totalitäre seiner Zeit (die Menschenköpfe des ersten Verses bedeuten die Millionen von Inhaftierten, in die Lager Verschickten und Hingerichteten der Stalin-Epoche):

In weite Ferne gehen Hügel: Menschenköpfe,
Mich wird man nicht mehr sehn, ich werd verschwindend klein −
In Kinderspielen, Büchern, zärtlichen Geschöpfen
Sag ich einst auferstehend, daß die Sonne scheint.

Auch die hier zitierten Textstellen aus Mandelstams „eigentlichem“ Werk sind ein gewichtiges Argument dagegen, in Mandelstams Kinderversen nur das kuriose Beiwerk eines großen Lyrikers zu sehen.

4
Während Mandelstams Kindergedichte für den vorliegenden Band vollständig ins Deutsche übertragen wurden, mußte bei den Epigrammen auf Zeitgenossen eine repräsentative Auswahl getroffen werden – was seinen Witz dem Spiel mit Eigennamen oder nur Eingeweihten bekannten Situationen verdankt, war kaum ins Deutsche zu bringen. Mandelstams Scherzgedichte und Epigramme wurden in Zeitschriften und privaten Alben verstreut, gelegentlich auch nur mündlich überliefert oder von Zeitgenossen hastig notiert. Es ist ein Schaffen, das vom Rande kommt, aus dem Abgelegenen, und doch mit dem Kern, mit dem „Eigentlichen“ in vielfacher Verbindung steht.
Zweifellos gibt es auch in Mandelstams großen Gedichtsammlungen immer wieder Zeugnisse von Scherz und Humor. Sie sind untrennbar mit ihnen verbunden wie das Satyrspiel mit der griechischen Tragödie. Besonders in seinem ersten Gedichtbuch Der Stein (1913, erweitert 1916 und 1923) gibt es Texte, die als „Scherzgedichte“ aufzufassen sind und durchaus im vorliegenden Band stehen könnten. Etwa jene um moderne Phänomene wie Stummfilmkino, Tennis und Tourismus („Amerikanermädchen“) sich drehenden Gedichte des Jahres 1913. Von der Verulkung einer bombastischen Wagner-Oper („Walküren im Fluge“) bis zum Eiscreme-Gedicht („Gefrorenes! Sonne. Die Luft ein Biskuit“) gibt es köstliche humoristische Zeugnisse. Auch schalkhafte Blicke auf die altersschwache Welt des Adels („Zarskoje Selo“), auf einen betrunkenen Nachtschwärmer, der Sokrates und Verlaine ähnlich sieht („Der Alte“), oder auf die Romanwelt von Charles Dickens („Dombey and Son“) sollen nicht vergessen werden. Sie alle finden sich in unserem Band Der Stein. Drei Ausnahmen, die in jenem Band nur im Anhang standen, nämlich „Ein Ägypter“ (I), „American Bar“ und „Fußball“ wurden hier noch einmal eingerückt, weil sie hier ihren eigentlichen „humoristischen“ Kontext finden, neben ihre „Zwillinge“ zu stehen kommen („Ein Ägypter“ II, „Zweiter Fußball“).
Doch nicht nur in jener frühen Schaffensperiode finden sich scherzhafte Einsprengsel in die „ernsthaften“ lyrischen Gedichtzyklen Mandelstams. Selbst unter den im Umkreis von Revolution und Bürgerkrieg entstandenen Gedichten des Bandes Tristia wäre etwa ein fröhliches, die sprichwörtliche georgische Trinkseligkeit preisendes und von Schaschlikdüften durchzogenes Gedicht zu nennen („Tiflis: bucklicht, mir geträumtes“ von 1920). In die Zeit des Unbehaustseins in Moskau 1930 bis 1934 fallen einige der witzigsten Gedichte Mandelstams: „Dir nur sag ich hier inständig“ (Cherry-Brandy), „Mein Alexander Gerzowitsch“, „Ich trink auf soldatische Astern“, „Novellino“ und „Tataren, Usbeken, Samojeden“.
Und selbst noch in den letzten Gedichten, den Zeugnissen der Woronescher Verbannung 1935 bis 1937, läßt sich der Humor nicht verleugnen: „Was ist das für eine Straße?“, „Geschorene Kinder“, „Stieglitz, eins mit mir, den Kopf nach hinten“ und – als letztes, sehr bezeichnend – „Charlie Chaplin“. Mandelstams Scherzgedichte haben tatsächlich etwas Chaplineskes, stehen für den Wunsch, noch im größten Schlamassel das Lachen und damit den Lebensmut nicht aufzugeben.

5
Im vorliegenden Band finden sich auch einige Selbstporträts voller Selbstironie, das erste, erstaunlich früh, schon von 1912 („Ich hab Armut schon immer geliebt“), wo nicht Inspiration noch Musenkuß, sondern die Möglichkeit des Kaffeekochens für den Künstler bestimmend scheint. Das banale Thema des Kaffeekochens im Zusammenhang mit der Berufung des Künstlers wäre im russischen Symbolismus noch völlig undenkbar gewesen. Selbstironisch bis autoparodistisch ist auch Mandelstams Verfahren, in diesen Scherzgedichten Ulk und Kultur aufeinanderprallen zu lassen, Werke oder Gestalten der „hohen Kultur“ mit banalen Situationen oder Petersburger Alltagspersonal zu paaren.
Gerade dieser Aspekt kommt wohl unerwartet bei einem „Dichter der Kultur“, dessen Werk reich befrachtet ist mit abendländischem Kulturgut. Im „Fußball“-Gedicht von 1913 läßt er die triviale Sportart mit einem Gemälde Giorgiones zusammenprallen, mit „Judith und Holofernes“ aus der Petersburger Eremitage. Judiths Fuß ruht dort auf dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes – daher die „Fußball- Idee“! Das „Sport-Sonett“ aus demselben Jahr versammelt diverse moderne Sportarten – bis hin zum „Göttergeschenk“ des Tennis in der strengen, aus dem italienischen Mittelalter stammenden Form des Sonetts. Der Komik erzeugende Zusammenprall von „hoher Kultur“ und Alltagsdingen kennt weder zeitliche noch räumliche Grenzen. In „Der Kutscher und Dante“ (1925) skizziert Mandelstam eine Begegnung zwischen einem zeitgenössischen Petersburger Kutscher und dem mittelalterlichen italienischen Dichter, dem er 1933 seinen wichtigsten Essay widmen wird.
Hat es je eine so ulkige Begegnung von Buch und „Speiseeis-Maschine“ gegeben wie in dem Gedicht „Die Gebrüder Goncourt“ (1925)? Ob Puschkin-Zitat oder die Apokryphen des Pseudo-Matthäus, ob Heinrich Heine oder Immanuel Kant – diverse Werke und Namen erscheinen hier in Zusammenhängen, die sie sich wohl nie hätten träumen lassen. Der deutsche Philosoph wird in einem Epigramm auf Julij Wermel sogar respektlos „verkantet“ („Wermel fraß den Hund an Kanten, / Und Kant, der Hund, fraß ihn auch auf!“).
In einem der selbstironischen Dichterporträts, im „Lied eines freien Kosaken“, bezeichnet sich das Ich als „Lesbier unter den Männern“. Wenn man die Spuren der von der griechischen Insel Lesbos stammenden Dichter Alkaios und Sappho in Mandelstams „Tristia“-Gedichten wahrnimmt, ist die auf den ersten Blick groteske Aussage „Ich bin Lesbier“ nicht mehr einwandfreier Nonsens: Sie ist auch zu verstehen als „Ich bin Dichter“, „Ich stamme von jenen ersten Dichtern ab“. Die hier versammelten Texte sind eben Scherzartikel mit Hintergründen, und hinter Nonsens und leichtsinnigen Absurditäten blitzt der witzige kleine Nebensinn auf.

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Mandelstams Scherzgedichte und Epigramme sind zunächst kaum trennbar von der Petersburger Bohème-Atmosphäre am Vorabend des Ersten Weltkriegs, wie sie etwa in der Künstlerkneipe „Streunender Hund“ herrschte. In diesem Treibhaus entstanden etwa die „Anthologie des antiken Blödsinns“ schierer Nonsens wie „Eine Kuh frißt ruhig ihr Heu“ und diverse Epigramme auf Zeitgenossen. Die prominentesten unter ihnen sind Anna Achmatowa, Alexander Blok und Nikolaj Gumiljow, doch Mandelstam wird immer wieder auch unbedeutendere Zeitgenossen mit seinen Epigrammen „beehren“. Jene ausgelassene Frechheit und Fröhlichkeit am Vorabend tragischer Ereignisse reflektiert Mandelstam, bereits nachdenklich geworden, im Gedicht „Vom leichten Leben waren wir halb verrückt“ (1913)·
Auch nach dem Oktoberumsturz und dem russischen Bürgerkrieg fand Mandelstam immer Anlässe für Lachen und Spott, auch wenn keine Bohème-Kumpane mehr um ihn waren. Nadeschda Mandelstam schreibt im zweiten Band ihrer Memoiren (deutsch stark gekürzt unter dem Titel Generation ohne Tränen, Kapitel „Wohnraum im Überbau“, die Passage fehlt in der deutschen Version), es habe im Moskau der zwanziger Jahre niemanden mehr gegeben, mit dem man hätte scherzen können… Das „einzig Gesunde“ in ihrem Leben seien die Witze und Anekdoten gewesen, die die politischen Ereignisse immer begleiteten: „Mandelstam liebte die Witze, lachte über sie, wunderte sich, woher sie wohl stammen mochten, doch seine eigene Art des Scherzens gehört einer völlig anderen Kategorie an als der Witz… Mandelstams Scherz beruht auf dem Absurden. Es war ausgelassener Unfug unter Vertrauten und Neckereien mit nur selten politischer Tendenz, am häufigsten an Freunde gerichtet – an Margulis, an mich, an die Achmatowa. Es war eine Improvisation, ein ,Gelegenheitsgedicht‘ oder ein Spiel, wie er es manchmal mit meinem Bruder spielte, zum Beispiel ihre gemeinsame Eingabe an die Kommunismus-Akademie, ,daß das Leben schön sei‘. In Mandelstams Scherz ist immer ein Element des ,seligen sinnlosen Wortes‘.“
Mandelstams „seliges sinnloses Wort“, das Wort der Poesie, ist jene kostbare Gabe, für die er in einem Gedicht vom 25. November 1920 in der finsteren Sowjetnacht zu beten verspricht:

Ich brauch keinen Nachtpassierschein, rede
Mir die Angst aus vor den Posten dort,
In der Sowjetnacht werde ich beten
Für das selige sinnlose Wort.

Auch dieses ebenso selige Wort des Witzes wollte sich Mandelstam bewahren, und es hatte, vielleicht sogar gegen Nadeschda Mandelstams Vermutung, nicht selten politische Dimensionen. Mandelstam spottet in den zwanziger Jahren mit markanter Schärfe gegen die offiziöse, der Parteilinie ergebene Literaturzeitschrift Na Postu und damit gegen die RAPP („Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller“) in dem Gedicht „Es war einmal ein Oberstleutnant“ (1924). Auch das Propaganda-Unwesen der Krupskaja, Lenins Witwe, und die Agit-Verse gegen die Kulaken verhöhnt er und führt sie ad absurdum in dem Spottgedicht „So viele Listen hat der Mensch“ (1923/1924). Sein Spott wie seine Zielscheiben waren nicht immer ganz so harmlos, wie es den Anschein haben könnte.
Der Konflikt mit dem staatlichen Literaturmuseum, das im Frühjahr 1934 Mandelstams Archiv für ein demütigendes Trinkgeld ankaufen wollte, hat uns nicht nur einen seiner polemischsten Briefe beschert, sondern auch sein Spottgedicht auf das Volk der „Archivanen“ („Am Ufer dort, wo die Ägäis rollt“). In einer Variante davon legte Mandelstam nahe, daß über das Museum die Machthaber – zu beliebigem Gebrauch, vielleicht auch zur Vernichtung – Schriftstellerarchive behändigten, daß also das Museum nur als verlogener Zwischenhändler fungierte („Sein schäbiges Gewerbe: / der Obrigkeit Archive verkaufen“).
Noch das kurz vor der ersten Verhaftung im Mai 1934 entstandene, von bitterer Komik geprägte Gedicht „Sebastian und Bach“, das die staatlich sanktionierte Zerstörungswut und Kulturlosigkeit geißelt, enthielt erheblichen politischen Zündstoff. Nadeschda Mandelstam hält im Kapitel „Beschlagnahme“ ihrer Memoiren Das Jahrhundert der Wölfe fest, daß sich die GPU-Agenten bei der Haussuchung am Nastschokinskij Pereulok 5 in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 1934 sehr wohl auch für dieses Gedicht interessierten.
Humor kann subversiv sein, und Mandelstams vermeintlich „scherzhafte“ Opposition war den Machthabern ein Dorn im Auge. Nicht nur für offenkundig politische Texte wie das Gedicht auf das „Wolfshund-Jahrhundert“ oder das Epigramm gegen Stalin (in dem der Diktator als „Seelenverderber und Bauernschlächter“ entlarvt wird) wurde Mandelstam verhaftet, verbannt und schließlich ins Lager gesteckt. Seine „Schuld“ bestand auch in jenen subtilen Akten der Insubordination, die in Scherz- und Spottgedichten aufgehoben sind. Sie bezeugen ebensosehr jene „geistige Autonomie“, in der Joseph Brodsky (in seinem Essay „Kind der Zivilisation“ von 1977) mehr als in Mandelstams Anti-Stalin-Gedicht sein „Vergehen“ und den Grund für seinen Tod im Lager sah. Hätte er sein Epigramm auf Stalin schreiben können, wenn er nicht sein ganzes bisheriges Leben lang auch Spottverse geschrieben hätte?

7
Das einzige Gedicht, das Mandelstam während der fünftägigen Fahrt in die Verbannung verfaßte, ist das Scherzgedicht „Ein Schneider“. Es entstand unter den Augen der drei Bewachungssoldaten in Swerdlowsk, am 1. Juni 1934. Vor ihm lag die Fahrt mit der Schmalspurbahn nach Solikamsk, dann mit dem Dampfer auf dem Kama-Fluß nach Tscherdyn, wo er im Landkrankenhaus untergebracht wurde. Vor ihm lag auch der zweite Selbstmordversuch, der Sprung aus dem Fenster.

EIN SCHNEIDER, hoch!
Mit einem guten Kopf
aaaaaWurde verurteilt mal zum Höchstmaß, hört!
aaaaaUnd was? – wie sich’s für Schneider-Art gehört,
Nahm er gleich an sich selber Maß −
So lebt er heute noch.

Der juristische Terminus „Höchstmaß“ bedeutete die Todesstrafe und gehörte im Stalinismus der 30er Jahre zum düsteren Alltag; auch Mandelstam hätte für sein Anti-Stalin-Gedicht sofort erschossen werden können. Noch in eines seiner Woronescher Gedichte wird er das Wort „Höchstmaß“ einfügen, es jedoch in verzweifelte Vitalität umbiegen, in dem Gedicht „Geschorene Kinder“ vom 24. Mai 1935: „Wir sind erfüllt noch mit dem Höchstmaß Leben“. Auch das „Scherzgedicht“ auf den Schneider ist ein Versuch, die Gefahr des „Höchstmaßes“ sprachlich-magisch zu bannen: „So lebt er heute noch.“ Leben soll Mandelstam auch durch seine hier versammelten Scherzgedichte. Selbst noch im Nichtigsten: von der sublimen Absurdität der „Einladung auf den Mond“ (1914) bis zum letzten Nonsens um das Schmerzmittel Pyramidon im Gedicht „Beschluß“ (1937) des Pseudo-Ägypters Mandelstam („Für meine Pyramiden-Donna nur – Pyramidon“)…
Mandelstams Scherzgedichte sind eine der besten Verkörperungen dessen, was Nikolaj Gumiljow im Manifest des Akmeismus (in der Petersburger Literaturzeitschrift Apollon Nr. 1, 1913) als die dem „romanischen Geist“ eignende „helle lronie“ bezeichnete. Mandelstam kannte sehr wohl den Stil hintergründigen Spottes im „Großen Testament“ des spätmittelalterlichen Dichters und Vagabunden François Villon (1431-1463?), über den er früh, 1910/1913, einen Essay schrieb. Villons Anregungen für Mandelstams Scherzgedichte und Epigramme, die ebenfalls eine Art „Testament“ darstellen, ein „Vermächtnis“ von köstlichem Nonsens, satirischer Verve und politischem Witz, sind nicht zu übersehen.
Villon war ein Dieb. Gelegenheit macht Diebe. Und vielleicht auch Dichter. Sind alle hier versammelten Texte nur das, was man gemeinhin als „Gelegenheitsgedichte“ abwertet? Es gibt jedoch Gelegenheiten, die poetisch sind. Und ein großer Dichter unterwirft sich ohnehin die Gelegenheit, den simplen Anlaß, um sein Instrument der Sprache an ihm Funken schlagen zu lassen. Schon deshalb kann es bei einem Lyriker vom Rang Mandelstams nichts absolut Nebensächliches geben. Wenn dieser letzte Band unserer Mandelstam-Werkausgabe nur etwas mitteilen oder ausstrahlen möchte, so ist es ein durchtriebener, schalkhaft-schelmischer Charme. Das von Lidija Ginsburg überlieferte Wort Anna Achmatowas darf sich noch einmal bewahrheiten: „Ossip ist ein Schrank voller Überraschungen!“

Ralph Dutli, Nachwort

 

„Ich habe mit niemandem so gut gelacht wie mit ihm!“

Anna Achmatowa

In diesem Band soll Raum sein für einen „anderen“ Mandelstam. Ausgelassener Humor, durchtriebene Ironie, ein poetischer Spieltrieb – all dies kennzeichnet den großen Lyriker nicht weniger als die unzweifelhaft tragischen Umstände seines Lebens in der finsteren Stalin-Epoche.
Mandelstams Scherzgedichte haben etwas Chaplineskes, stehen für den Wunsch, noch im größten Schlamassel das Lachen und damit den Lebensmut nicht aufzugeben. Doch diese Texte sind Scherzartikel mit Hintergründen. Hinter dem Nonsens blitzt nicht selten der witzige kleine Nebensinn auf. Humor kann subversiv sein, und Mandelstams „scherzhafte“ Opposition war den Machthabern ein Dorn im Auge. Seine Gedichte bezeugen jene „geistige Autonomie“, in der Joseph Brodsky Mandelstams eigentliches „Vergehen“ und den Grund für seinen Tod im Lager sah.
Wenn dieser letzte Band der Mandelstam-Werkausgabe nur etwas ausstrahlen möchte, so ist es ein durchtriebener, schalkhaft-schelmischer Charme. Das von Lidija Ginsburg überlieferte Wort Anna Achmatowas darf sich noch einmal bewahrheiten: „Ossip ist ein Schrank voller Überraschungen!“
„Mir schien immer, daß das Schreiben von Kindergedichten für ihn ein Vergnügen war, eine Erholung, ein ebenso leichter Zeitvertreib wie die Scherzgedichte, die stets im Kreis von Kollegen bei einem fröhlichen Gespräch entstanden, beim Tee, bei einer Flasche Wein.“  Nadeschda Mandelstam

Ammann Verlag, Ankündigung

 

Der zeitgenössische Dichter,

mit dem sich Paul Celan am intensivsten auseinander setzte, war der Russe Ossip Mandelstam (1891-1938). Er bezeichnete Mandelstam, von dem er aufgrund falscher Informationen eine Zeitlang fast obsessiv annahm, er sei von den Nazi umgebracht worden, als Bruder, der „auf dich zukommt“: Im Schatten von Hitler und Stalin beginnt allmählich ein Gespräch der Dichter, das Celan zum „russkij poet in partibus infidelium“ werden lässt. Celans fünfter Gedichtband, Niemandsrose, ist dem Gedenken Mandelstams, von dem er – leider – nur einen kleinen Teil früher Gedichte übersetzte, gewidmet.
Die beiden Trams. Kinder und Scherzgedichte. Epigramme auf Zeitgenossen ist der zehnte und letzte Band der vom Schweizer Ralph Dutli besorgten mustergültigen Mandelstam-Ausgabe. Wenn für Dichtung unter den Bedingungen der Freiheit gilt, sie sei das Allerernsteste überhaupt, dann haben die im Terror des Stalinismus vergeudeten Dichter dieses „Wolfshundjahrhunderts“ (Mandelstam) den paradoxen, entgegengesetzten Schluss gezogen: den Irrsinn des Terrors auch noch zu dichten. Nicht vom Abgrund her, wie Celan, sondern zielstrebig und provokant darauf hin. (Dieser Umstand war es vermutlich auch, der Jossif Brodskij einmal dazu bewog, über den mythisierten Selbstmord Celans lakonisch zu bemerken, Celan habe sich selbst zu ernst genommen.)
Mandelstams Sprachbewegung führt von den Akmeisten (neoklassizistische Dichtergruppe in St. Petersburg) am Vorabend des 1. Weltkrieges über ein langes Prosaexerzitium, über dichterisches Schweigen in den Jahren der Oktoberrevolution und polemische, allem Neuen gegenüber aufgeschlossene Essayistik in das Reich wild fragmentierter Metaphorik der späten Lyrik. „Ich fühle mich als Schuldner der Revolution, bringe ihr jedoch Gaben dar, die sie vorläufig noch nicht benötigt.“ Der euphorische Bolschewist Mandelstam, dem mitunter auch stalinistische Verse gelangen wie jener von der Welt, die am rundesten am roten Platz sei – bezeichnete sich als Gegner aller Arten von Faschismus, sei es der eines Mussolini, eines Hitler oder eines Stalin. Es lag in der Natur seiner Auffassung von Poesie, das Rauschen seiner Zeit, die Zeitgenossenschaft zu dichten, dass er mit dem roten Diktator in Konflikt geraten musste.

Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund, Auf zehn Schritt nicht mehr hörbar, was er spricht, unser Mund,
Doch wenn’s reicht für ein Wörtchen, ein kleines −
Jenen Bergmenschen im Kreml, ihn meint es.
Seine Finger wie Maden so fett und so grau,
eine Worte wie Zentnergewichte genau
(…)
Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren,
diesem Breitbrust-Osseten zu Ehren.

Alle Motive Mandelstam’scher Dichtung finden sich in den Epigrammen, Kinder- und Scherzgedichten wieder: antiker Nonsens; Dante, der mit einem Kutscher zusammengespannt wird; Fußball; Luftballons; sowjetisch gefeierte Realien wie der Primuskocher und die Tramway; Freunde und Feinde; die Geliebten des Dichters; literarischer Alltag:

Wie der Gigant vom Sinai zum Taborberg
Schleppst du dich von Verlag hin zu Verlag,
du Zwerg.

Mandelstam („Ich bin Lesbier unter den Männern, / Fremd, ein Fremder, ja ein Fremder“), der an die junge Kollegin das schönste russische Liebesgedicht schreiben sollte, konnte auch anders:

Och, diese Lene, diese Nora,
Och, dieser, Ätna, euer Ehren,
O, Äther, Esther, Leonore,
So sauer und so süß, Megären.

Stalin, der in einem seiner berüchtigten nächtlichen Telefonate bei Pasternak nachfragte, ob Mandelstam denn nicht ein Meister sei (Mandelstam dichtete dem Diktator zuletzt noch eine merkwürdig schillernde Ode) befand letztendlich: „Isolieren, aber nicht vernichten!“ Mandelstam starb Ende 1938 in einem Durchgangslager bei Wladiwostok an Entkräftung.

Wolfgang Kralicek, Falter, 24.1.2001

Mandelstam lacht

− Wenn die Dinge zu sprechen und zu tanzen anfangen: Der letzte Band der Werkausgabe des großen russischen Dichters. −

Hat Ossip Mandelstam gelacht? Ja, wirklich? Hat er? Seine Frau Nadeschda Mandelstam schreibt, dass er sehr gern gelacht habe und Scherze gemacht, vor allem im Beisein von Anna Achmatowa. Und Anna Achmatowa erinnert sich und bestätigt, dass sie mit niemandem so gut gelacht habe wie mit Mandelstam, ja dass in dem kleinen Zimmerchen, das sie bewohnte, oft ein ganzes Lachgelage entstanden sei und es den Anschein gehabt habe, als sei Mandelstam zu ihr gekommen, um sich für einen Monat im voraus satt zu lachen.
Ossip Mandelstam hat also gelacht, der letzte und zehnte Band der von Ralph Dutli mit großer Sorgfalt herausgegebenen Werkausgabe des Ammann Verlages enthält Kinder- und Scherzgedichte und kleine, ironische Epigramme auf Zeitgenossen, die Texte und Atmosphären von Mandelstams Lachen also, vorgetragen von einem bisher noch weitgehend unbekannten Mandelstam, dem Mandelstam der Lachgelage, wo das Absurde neben dem reinen Blödsinn bestehen durfte und die Worte einander ansteckten und sich krümmten und bogen.
Dem Übersetzer und Kommentator Ralph Dutli muss es schwer gefallen sein, bei all diesen Texten ernsthaft zu bleiben, aber er hält auch im letzten Band der schönen zehn Bände an seinen gewissenhaften und aus den Weiten Russlands herbeizitierten Erläuterungen fest, so viele Dichterinnen und Dichter scharen sich selbst noch hier um Mandelstams Verse, als habe man sie alle gebeten, auch zu diesen sich harmlos gebenden Zeilen ihre Vorläufer- oder Nebenherläuferschaft zu beweisen. Plötzlich ist die russische Literatur voller kindbegeisterter, humorvoller oder auch komisch-überdrehter Menschen, die versuchen, ihr Bestes an Lachhaftem und Lachbarem zu geben.
Dann erzählt Boris Pasternak aus Lüwers’ Kindheit, Andrej Belyi versetzt sich in die Gedankenwelt eines Kleinkindes und imitiert tollkühn-modern einen kindlichen Bewusstseinsstrom, Welimir Chlebnikow lauscht der Kinderakustik nach, und Daniil Charms schreibt seine kurzen, absurden Geschichten für Kinder, die gleich anfangen, seine Geschichten weiterzuerzählen. Es ist, als seien die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts für die russische Literatur heitere und glückliche Jahre gewesen und als hätte die Ausgelassenheit der Dichter keine Grenzen gekannt.
Da man es aber nun einmal besser weiß und die schrecklichen Jahre und das schreckliche Ende all dieser Dichter kennt, fasst man sich an den Kopf, wird gleich wieder ernst und versenkt sich in Mandelstams Kindergedichtbücher. Mitte der zwanziger Jahre konnten sie noch in russischen Verlagen erscheinen und hatten Titel wie Der Primuskocher, Die beiden Trams, Luftballons oder Die Küche. Die meisten kreisen um Dinge und Gegenstände des russischen Alltags, um Dinge, die Kindern ganz nahe sind und mit denen sie Tag für Tag leben.
Auf dem Tisch steht dann etwa der Primuskocher, man staunt und fragt sich, was ein Primuskocher wohl sein könnte, und sofort erklärt einem Ralph Dutli in seinen allwissenden Erläuterungen, dass es sich beim Primuskocher um einen Wärme spendenden Kerosinkocher der Marke Primus handelt, der in Mandelstams späterem Nomadenleben noch eine große Rolle gespielt habe. Jetzt ist klar, warum der Kerosinkocher in dem kleinen Kindergedicht auseinander genommen wird, er ist krank, er funktioniert nicht mehr, man muss Wasser reinschütten, der Primusdoktor muss kommen und ihn reparieren.
Schauen, gucken, auseinander nehmen, zusammensetzen – das sind die ersten Regeln, die Mandelstam dem Kinderumgang mit den kleinen Dingen abgeschaut hat. Und nun bemüht er sich, diese Regeln auch zu Regeln seiner Kinderpoetik zu machen, und deshalb darf jetzt gleich so etwas sonst Unauffälliges wie weiße Wäsche in den Blick geraten, weiße Wäsche ist ja etwas Wunderbares, und da hat Mandelstam auch gleich zwei gute Zeilen für sein Weiße-Wäsche-Gedicht, ganz einfach und unmittelbar einleuchtend: „Ich hab die Wäsche so gern, / Das weiße Hemd ist mein Freund…“
Jetzt sind wir ganz nah dran an den Dingen, mit fast schon mikroskopischem Auge, tastend, fühlend, sodass in die Gedichte die kleinsten Beobachtungen des Kinderauges einziehen können, etwa die, wie sich rohe Milch, wieder etwas wunderbar Weißes, in abgekochte Milch verwandelt, wie sie erbleicht und plötzlich alle staunen, wie weich sie werden kann während des Abkochens, schwebend-weich beinahe, und wie sie sich dann doch strafft und sich eine Haut zulegt, eine feste, dehnbare Abwehrhaut, obenauf.
Solche Kinderlebnisse bringt Mandelstam in acht kurzen Zeilen zusammen, Beobachtungen, eine kleine Verwandlung, das Staunen, und es ist, als könnte die weiße Milch nun eine Geschichte erzählen.
So vibriert es auf dem Küchentisch vor unseren Kinderaugen, denn jetzt hat auch der erwachsene Leser Kinderaugen und vertieft sich ins Kleinste, das nun in die Hand genommen werden will, während die Brennholzscheite in die Küche gebracht werden:

Wie sie krachen, diese Stücke,
Schön gespalten werden solls −
Kiefer, Tanne, Birkenholz!

Der Holzduft ist nun also da, in einer Zimmerecke warten die Gummischuhgaloschen abwesend-sinnend auf ihren Einsatz im Regen. Dann tanzt ein rosiges Birkenscheit im Feuer, und es werden „Pfannkuchen! Pfannkuchen“ gebacken, „Gebacken werden – oh, wie schön – / Morgens schon im Sonnenblumenöl“, und die Wäsche wird im Riesenkessel gekocht, schauen wir gleich mal hinein:

Es bläht sich ein Tischtuch
Als Stör in dem Schwall
Und schwimmt wie ein Weißlachs
Als Kugel, als Ball.

Jetzt ist die ganze Küche belebt, ein Sinnenreich ohnegleichen, und Brotmesser und Essmesser geraten an den Schleifstein, und es kocht der Samowar, und die Blätter des schwarzen Tees klingeln im Döschen wie… ja, wie? „So wie Nägelchen“ und locken:

Also kommt schon, liebe Gäste,
Teezeit jetzt, fühlt euch daheim,
Mich, den duftenden, geschätzten
Werft in diese Kanne rein!

Daher ist das Kinderfest vollkommen, die Dinge sprechen, tanzen, und man sieht Mandelstam wahrhaftig mittendrin, einen kleinen, sich auf der Stelle drehenden Mann, lachend, ja, doch: Mandelstam lacht!
Dieses Lachen aber ist noch das Lachen Mitte der zwanziger Jahre, später wird Mandelstam keine Kindergedichte mehr schreiben, denn schon wenig später wird er für einige Jahre ganz verstummen und überhaupt keine Gedichte mehr schreiben. Die Vorzeichen seines Verstummens und seines dann bis zum tödlichen Ende dauernden Kampfes mit dem Sowjetregime aber sind schon in den so lebensfroh hellen Kindergedichten versteckt, etwa in dem von den Luftballons, wo der grüne Luftballon Kummer kriegt „vom großen Rabauken, vom schrecklichen Roten, dem Großkopf, dem Lauten“, oder in dem von den beiden Trams, wo sich die eine Tram auf die Suche nach der befreundeten anderen macht, die Klik heißt, was im Russischen so viel bedeutet wie „Zuruf, Ausruf, Schrei“. Hinten, im Anmerkungsteil, erklärt einem Ralph Dutli dann, dass dieser Schrei in Wahrheit einem Freund Mandelstams galt, der 1921 in Petrograd als angeblicher „Konterrevolutionär“ erschossen worden war und der ein Gedicht geschrieben habe mit dem Titel Die verirrte Trambahn.
Und, sich in diesen Anmerkungen festlesend, bekommt man sehr genau, aber gar nicht pedantisch erklärt, dass die Alltagsgegenstände, die Mandelstam in seinen Kindergedichten besang, in den Gedichten seiner späten, in Verbannung und Arbeitslagern durchlittenen Jahre wiederkehren, als die traurig besungenen Gegenstände der Not, als Insignien der Klage.
Seinen Spott und sein Lachen hat Mandelstam in diesen späten Jahren nicht mehr mit den Kindern geteilt, er hat sein Lachen in kleinen Scherzgedichten aufbewahrt oder in Epigrammen auf Zeitgenossen bezogen. Sie machen den zweiten Teil dieses Bandes aus, und man versteht sie als Nachhall auf ein Leben, das sich auf diese Weise gegen alle Widerstände trotzig behauptete und versuchte, die Nähe zu den anderen, zu den Freunden und Weggefährten, zu erhalten.
Liest man diese Gedichte so, also mit einem wissenden Blick, entsteht mit ihnen die Figurengalerie einer Biografie, und man schaut, notgedrungen selbst immer trauriger werdend, auf all diese kleinen Szenen, die in ihrer Fröhlichkeit meist unterbrochen oder abgebrochen werden, als legte sich Mandelstam manchmal einen Finger auf den flüsternden Mund.
Aber sie sind da, die Freundinnen, die Freunde. Anna Achmatowa ist da und Alexander Blok, der Nachhilfelehrer Motschulskij, der Ägyptologe Schilejko und der Maler Lew Bruni. Sie treten in Petersburger Künstlerkneipen oder in Moskauer Stadtszenen auf, sie huschen, torkeln und stolpern durch die mit dunklen Hintergründen versehenen Skizzen von Mandelstams Gedichten. Bis die letzte Freundin erscheint, Natascha Schtempel.

Da kommt Natascha. Wo war sie?
Sie hat doch nichts getrunken, wie?
Und Mama wittert, schwarz wie die Nacht:
Sie riecht nach Wein und Zwiebeln, ach!

Natascha Schtempel war eine der wenigen Freundinnen, die die Mandelstams im Verbannungsort Woronesch noch hatten. Später nahm sie auf der Flucht vor den deutschen Truppen jenen Notizblock mit, auf dem Mandelstam seine letzten Gedichte notiert hatte. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich 1987 an ihn zu erinnern versucht, daran etwa, dass Ossip Emiljewitsch seine Scherzgedichte oft beim Tee geschrieben habe und zwar meist dann, wenn sie Anstalten gemacht habe aufzubrechen. Natascha Schtempel bestand in ihren Erinnerungen darauf, dass sie Zwiebeln nicht ausstehen konnte und dass sie auch nie ein besonderes Vergnügen am Wein trinken gefunden habe. Ossip Mandelstam, erinnerte sich Natascha Schtempel, habe das natürlich sehr genau gewusst. Und doch habe er genau das Gegenteil geschrieben, lachend, Ossip Mandelstam habe eben nicht aufhören können zu lachen.

Hanns-Josef Ortheil, Die Zeit

 

Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier

6
Nein, nicht den Mond, ein helles Zifferblatt

(Petersburg 1912–1913)

August 1910: erste veröffentlichte Gedichte. „Silentium“: Musik und Schweigen. Der russische Symbolismus und das „Silberne Zeitalter“. Orpheus kommt zu Mandelstam. März 1911: Begegnung mit Anna Achmatowa und Nikolaj Gumiljow. Herbst 1911: die „Dichterzeche“. März 1912: der „Akmeismus“. Die Manifeste von Gumiljow und Gorodezkij. Respekt vor dem „Eigenwert jeder Erscheinung“, Bekenntnis zum Planeten Erde. Mandelstams Manifest „Der Morgen des Akmeismus“: Weltbejahung, Kult des Bauens, Verschwörung gegen die Leere. Der Wendepunkt im Gedicht von 1912: Bekenntnis zum Hier und Jetzt, Revolte gegen die Ewigkeit. Radikale Konkurrenz: die Kubo-Futuristen. März 1913: der erste Gedichtband Der Stein. „Der Stein ist das Wort.“ Das Jahr der Avantgarde. Phänomene der Moderne im Gedicht: Kino, Tennis, Tourismus, Benzingerüche und Wolkenkratzer. Petersburger Bohème-Kultur: der „Streunende Hund“. 27. November 1913: Konflikt mit Welimir Chlebnikow um den Prozeß gegen Mendel Bejlis. Der verkaufte Bruder: Joseph in Ägypten.

Am 18. August 1910, während Mandelstam in Berlin weilte, erschienen in der Petersburger Literaturzeitschrift Apollon (Nr. 9, 1910) seine ersten veröffentlichten Gedichte, fünf an der Zahl.1 Auch sein erst später so betiteltes Gedicht „Silentium“ war darunter. Es zeigte einen Dialog mit zwei verehrten Dichtern: mit Paul Verlaines Forderung nach Musik in der Lyrik (in L’Art poetique von 1874) und mit Fjodor Tjuttschews (1803–1873) Lob des Schweigens, des Ungesagten in seinem „Silentium“-Gedicht von 1833. Mandelstam vereinte ein doppeltes Echo:

O könnt mein Mund es endlich finden
Und dieses erste Schweigen sein,
Den einen Ton, kristallen, singen
Und von Geburt noch immer – rein.

Du bleib der Schaum, o Aphrodite,
Du Wort, kehr um – in die Musik,
Dem Herzen nichts als Scham beschieden
Das seinem Lebensgrund entfliegt!
(Der Stein, S. 33)

Die frühen Gedichte Mandelstams waren noch deutlich vom russischen Symbolismus geprägt. Um das Jahr 1892 hatte mit dem Symbolismus das „Silberne Zeitalter“ der russischen Dichtung begonnen. Das Etikett des „Goldenen Zeitalters“ war für die Generation um Alexander Puschkin (1799–1837) reserviert. Nach einer von der Prosa beherrschten, von sozialen Problemen umgetriebenen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete das „Silberne Zeitalter“ eine Wiedergeburt der russischen Poesie, ein neues Bewußtsein des dichterischen Wortes, das von der Entdeckung Ibsens, Strindbergs und Nietzsches begleitet und von der Aufnahme des französischen Symbolismus beeinflußt war. Die Namen Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und Paul Verlaine bedeuteten jetzt die wichtigsten Offenbarungen. Baudelaires Sonett „Correspondances“ (Entsprechungen) war für die Symbolisten ein Schlüssel zum Wesen der Welt.
Einer ersten Generation von ästhetizistisch orientierten Symbolisten (Konstantin Balmont, Walerij Brjussow, Sinaida Gippius, Fjodor Sologub) folgte eine zunehmend mystisch-religiös inspirierte zweite Generation mit Alexander Blok, Andrej Belyj und Wjatscheslaw Iwanow, die sich nicht nur aus französischen Quellen nährte, sondern auch deutsche (Schopenhauer, Nietzsche) und russische Denker (Wladimir Solowjow) einbezog. Das apokalyptische Bewußtsein nach den nationalen Katastrophen des russisch-japanischen Krieges und der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1905 verstärkte noch diese religiöse, theosophische und okkultistische Tendenz. Um 1910 allerdings hatte sich der russische Symbolismus in jenseitigen Spekulationen erschöpft.
Mandelstams Beginn als Dichter fällt mit dem Ende des Symbolismus zusammen. Die Welt seiner frühesten Gedichte ist noch nicht die sinnerfüllte des vom Kult des Bauens, der menschlichen Schöpferkraft durchdrungenen Dichters. Spuren der philosophischen Lyrik Tjuttschews, die das uranfängliche Chaos und die Nacht besang, sind beim jungen Mandelstam auszumachen. Die Welt, die er beschwört, wird von der Leere regiert. Es ist eine umrißhafte, nächtliche Welt der Schatten, von großer Zerbrechlichkeit und entmutigender Vergänglichkeit. Die wiederkehrende Trauer ist eine Trauer ohne Motiv, die Schwermut eines jugendlichen Spätsymbolisten. In einem Gedicht des Jahres 1910: 

Ich seh den Mond, den abgetrennten,
Die Himmelsleinwand – tot wie nie,
Und deine Welt, die schmerzend fremde,
Du Leere, ich empfange sie!
(Der Stein, S. 35) 

Immerhin gibt es schon beim frühesten Mandelstam, im Gedicht „Kinderbücher, nur sie noch zu lieben“ von 1908, trotz aller verfrühten Lebensmüdigkeit bereits ein markantes Bekenntnis zur Welt und zur Erde:

Bin vom Leben so müde – zum Sterben,
ja von ihm nehm ich nichts mehr nun an,
Dennoch lieb ich sie: arm, meine Erde –
Eine andre hab ich nie gekannt.
(Der Stein, S. 13) 

Die Kommunion des jugendlichen Dichters mit der „armen“, kargen Natur ist eine wichtige Etappe. Orpheus besucht den jungen Mandelstam. Er, der später von Joseph Brodsky als „moderner Orpheus“ bezeichnet wurde, bezieht sich früh, schon 1911, auf den Ur-Dichter und Sänger: 

O du Wind des Orpheus, du großer,
Du ziehst meerwärts, hin in sein Licht,
Eine unerschaffene Welt liebkosend
Vergaß ich das unnütze „Ich“.
(Der Stein, S. 57) 

Dem Ich folgte bald ein Wir. Am 14. März 1911 lernt Mandelstam bei einem literarischen Abend in Wjatscheslaw Iwanows Turm die um zwei Jahre ältere Dichterin Anna Achmatowa kennen, eine sphinxhafte, schweigsame, schwarz gekleidete Erscheinung. Sie lebt in Zarskoje Selo und ist seit einem Jahr mit dem Dichter Nikolaj Gumiljow verheiratet, dem Mandelstam schon während seines Pariser Aufenthaltes begegnet war. Erst jetzt wird das Zusammentreffen schicksalsträchtig. Die Begegnung mit den beiden gehörte zu den wichtigsten in Mandelstams Leben. Anna Achmatowa bleibt lebenslang Vertraute und privilegierte Gesprächspartnerin. Mit Nikolaj Gumiljow wird der Dialog noch über den gewaltsamen Tod hinaus – Gumiljow wurde 1921 als „Konterrevolutionär“ erschossen – laut Mandelstam „nie abreißen“ (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 144f.).
Als er dem jungen Paar begegnete, waren sie alle noch am Anfang, auch wenn der fünf Jahre ältere Gumiljow (1886 bis 1921) einen Vorsprung hatte. Er hatte bereits drei Gedichtbücher veröffentlicht, mehrere Afrikareisen, Großwildjagden und sonstige Abenteuer hinter sich. Gumiljow vertrat eine neoromantisch-exotische, auf heroenhafte Männlichkeit zentrierte Dichtung und war ein großer Organisator und Lehrer für die jüngeren Dichter, denen er sofort imponierte.
Zusammen mit Sergej Gorodezkij gründete er die Dichterzeche,2 eine Gesprächsrunde junger Dichter, die sich am 20. Oktober 1911 zum ersten Mal in Gorodezkijs Wohnung versammelte. Diese Zirkel von nicht immer Gleichgesinnten waren typisch für das damalige literarische Leben Petersburgs. Die Versammlungen im Turm des Symbolisten Wjatscheslaw Iwanow und die „Vers-Akademie“ in den Redaktionsräumen der Zeitschrift Apollon (ab Herbst 1909) waren bereits ehrwürdige Tradition. Die Dichterzeche wurde für die Jüngeren rasch zum neuen Zentrum. Bei der Sitzung vom 2. Dezember 1911, die bei Gumiljow und Achmatowa in Zarskoje stattfand, war auch Mandelstam zum ersten Mal dabei. Und er spielte, wie Anna Achmatowa sich erinnerte, sehr bald „die erste Geige“.
Die Zeit war reif für eine neue Gruppierung der jungen Poeten. Die Symbolisten aber betrachteten sie als ihre undankbaren Söhne. Ausgerechnet um Gumiljows Dichtung „Der verlorene Sohn“ war am 13. April 1911 in Iwanows Turm ein heftiger Streit entbrannt, weil der Hausherr die „unbiblischen“ Assoziationen des Textes energisch verwarf. Im Jahr darauf, am 18. Februar 1912, kommt es zum entscheidenden Konflikt. Nach Vorträgen von Wjatscheslaw Iwanow und Andrej Belyj über das Wesen des Symbolismus opponieren Gumiljow und Gorodezkij offen. Das Maß war voll, der Auszug aus dem Turm nicht mehr aufzuhalten. Am 1. März 1912 schließlich verkündet Gumiljow auf einer Sitzung der Dichterzeche die Gründung des Akmeismus. Der Name leitete sich vom griechischen Wort „akme“ ab: Spitze, Blüte, Reife. Das Ziel war die Überwindung der Jenseitsbezogenheit des russischen Symbolismus, seiner religiösen Spekulationen (Theosophie, Okkultismus), seines Denkens in vagen Symbolen und Analogien.
Am 19. Dezember 1912 verlasen Gumiljow und Gorodezkij in der Petersburger Künstlerkneipe Streunender Hund ihre akmeistischen Manifeste. Sie wurden Anfang 1913 in der Literaturzeitschrift Apollon (Nr. 1) abgedruckt. In seinem Manifest „Das Erbe des Symbolismus und der Akmeismus“ schrieb Gumiljow, der Symbolismus habe mit seinem „Zerfließenlassen aller Bilder und Dinge“ nur im „nebligen Dunkel germanischer Wälder“ entstehen können. Der romanische Geist des Akmeismus jedoch liebe „das Element des Lichtes, das die Gegenstände heraustrennt, die Umrißlinie deutlich sich abzeichnen läßt“. Der ekstatisch-mystischen Haltung des Symbolismus stellte er die romanische „helle Ironie“ entgegen. Das symbolistische Streben nach Erkenntnis des Verborgenen und Jenseitigen wird verabschiedet. Die Akmeisten beharren auf der „Unkenntlichkeit des Unkennbaren“:

Ein kindlich-weises, bis zum Schmerz süßes Gefühl der eigenen Unwissenheit, das ist es, was das Unbekannte in uns hervorruft.

Den Rückzug in die „dunkle“ und „tierhafte“ Seele, den Mandelstam in seinem Heidelberger Gedicht „Nicht ein Wort ist zu verlieren“ (Dezember 1909) entworfen hatte, bestätigt nun Gumiljows Manifest:

Als Adamisten sind wir ein wenig Tiere des Waldes.

Akmeismus oder Adamismus? Als „Adamisten“ bezeichnete der Dichter Michail Kusmin ironisch seine jüngeren Kollegen. Er selber hatte ihnen mit seinem Essay „Über die herrliche Klarheit“ (in der Zeitschrift Apollon 1910, Nr. 4) den Weg bereitet und wichtige Anregungen geboten. Gumiljow schwankt noch zwischen den beiden Bezeichnungen. Den Begriff „Adamismus“ nimmt er gerne auf und füllt ihn mit seiner eigenen „männlichen“ Ethik und Poetik: Adamismus bedeute „einen mannhaft festen und klaren Blick auf das Leben“. Ihm schwebt ein Künstler vor, der die Welt wie Adam zum ersten Mal sieht und die Dinge neu benennt. Doch das adamistische Etikett verschwand bald aus dem Verkehr, und der Akmeismus blieb. Gerade der Neubeginn beim Nullpunkt entsprach nicht dem Traditionsbewußtsein der Akmeisten, in deren Namen die „Reife“ und die „höchste Blüte“ steckte.
Gumiljow benennt die vier „Ecksteine für das Gebäude des Akmeismus“, die Stammväter oder Vorläufer der neuen Poeten, die sich ausdrücklich in eine Tradition fügen. Shakespeare habe ihnen die innere Welt des Menschen gezeigt, Rabelais – den Körper und seine Freuden, Villon ein Leben offenbart, das „nicht im geringsten an sich selber zweifelt, obwohl es alles kennt, Gott und das Laster, den Tod und die Unsterblichkeit“. Theophile Gautier schließlich habe für dieses Leben in der Kunst „das würdige Kleid makelloser Formen“ gefunden.
Gorodezkijs Manifest sprach seinerseits von der „Katastrophe des Symbolismus“ und legte den Akzent auf das Bekenntnis zu dieser Erde, zum Diesseits:

… ein Kampf für diese Welt, die klingende, farbenreiche, die Formen hat, Gewicht und Zeit, für unseren Planeten Erde. (…) Die Welt wird vom Akmeismus unwiderruflich angenommen, in der Ganzheit ihrer Schönheiten und Häßlichkeiten.

Der russische Symbolismus war eine profund pessimistische, im Geiste Schopenhauers die Welt als einen teuflischen Albtraum verneinende Strömung. Ein typisches Gedicht ist Fjodor Sologubs Teufelsschaukel von 1907. Die neue Bejahung der Welt bedeutete eine wiedergewonnene Vitalität für die russische Poesie.
Und Mandelstam? Nach anfänglichem Zögern gehörte er ab Herbst 1912 zur Gruppe der Akmeisten, die „offiziell“ nur sechs Mitglieder hatte. Neben der berühmten Triade – Gumiljow, Achmatowa und Mandelstam – waren es Michail Senkewitsch, Wladimir Narbut und Sergej Gorodezkij. Auch Mandelstam schrieb ein Manifest, das im Umkreis der Texte von Gumiljow und Gorodezkij vermutlich im Mai 1913 entstand, aber erst 1919 gedruckt wurde: „Der Morgen des Akmeismus“. Auch er macht die Bejahung des Lebens und der Welt zu seiner Forderung, als Antwort auf die Weltverneinung der Symbolisten:

Zu existieren – das ist der höchste Ehrgeiz des Künstlers. Er will kein anderes Paradies als das Dasein (…) Liebt die Existenz des Dinges mehr als das Ding an sich, und euer eigenes Dasein mehr als euch selbst – das ist das höchste Gebot des Akmeismus. (Über den Gesprächspartner, S. 17/21) 

Angeregt durch Gumiljows freimaurerische Metaphorik (die „Ecksteine für das Gebäude des Akmeismus“), legt Mandelstam seinerseits den Akzent auf den „Geist des Bauens“ und die „Überwindung der Leere“:

Die scharfe Spitze des Akmeismus ist kein Stilett und nicht der Stachel der Dekadenz. Der Akmeismus ist für diejenigen bestimmt, die, vom Geist des Bauens gepackt, sich nicht kleinmütig von ihrer eigenen Schwere lossagen, sondern sie freudig annehmen, um die in ihr schlummernden Kräfte aufzuerwecken und architektonisch zu nutzen. (…) Bauen bedeutet: gegen die Leere kämpfen, den Raum hypnotisieren. Der gute Pfeil des gotischen Glockenturms ist zornig, denn sein ganzer Sinn besteht darin, den Himmel zu durchstechen, ihm seine Leere vorzuwerfen. (Über den Gesprächspartner, S. 18/20) 

Als Vorbild der Überwindung des Raumes steht bei Mandelstam die gotische Kathedrale.3 Im Gedicht „Notre-Dame“ (1912) verknüpft er in der Tat – Verwegenheit eines Zwanzigjährigen! – sein dichterisches Programm mit dem Meisterwerk der gotischen Architektur, das ihn 1907/1908 in Paris so sehr beeindruckt hatte:

Und lange, Notre-Dame, du Festung und du Halt,
Verfolgte ich die ungeheuren Rippenheere –
Und immer öfter dachte ich: aus trüber Schwere
Werd ich, auch ich, sie schaffen – Schönheit und Gestalt
. (Der Stein, S. 85)

Notre-Dame (Gebäude und Gedicht) ist der bereits bezwungene Raum, auferweckter Stein (auferwecktes Wort), Zeugnis gestaltender Intelligenz, Sinnfülle, Bejahung, Triumph des Menschen, sei er Handwerker, Architekt oder Dichter. Im Bau ist die Angst vor der Leere überwunden.
Das erste wirklich akmeistische Gedicht Mandelstams von 1912, in dem Nikolaj Gumiljow den eigentlichen „Wendepunkt“ sah, proklamiert die Ablehnung von Sterngeflimmer und Mondgeleuchte, aller „jenseitigen“ Thematik der Symbolisten:

Nein, nicht den Mond, ein helles Zifferblatt
Seh ich – daß ich die Sterne milchig-matt
Nur finde, was kann ich dafür?
(Der Stein, S. 69) 

Das Gedicht ist eine Bejahung des Hier und Jetzt, der Zeitlichkeit (das Zifferblatt!). Eine Revolte gegen die „Ewigkeit“ findet sich in mehreren frühen Gedichten Mandelstams, schon in dem 1909 in Heidelberg entstandenen „Sprecht mir nicht von Ewigkeit“ (Der Stein, S. 179) oder in „Das Bienenvolk des Schnees“ von 1910: 

Und fließt in eisigen Diamanten
Nichts als der Frost der Ewigkeit,
So stehen hier Libellenaugen –
Zittriges Blau, kurzlebig-leicht.
(Der Stein, S. 31) 

Gumiljow hatte den Eigenwert jeder Erscheinung hervorgehoben („Alle Phänomene sind Brüder“). Mandelstam proklamiert in seinem Manifest das „Prinzip der Identität“ und die „Fähigkeit zu staunen“ über die Fülle des Seienden:

Die Fähigkeit zu staunen ist die Haupttugend des Dichters. Aber wie soll man denn nicht ins Staunen geraten über dieses fruchtbarste aller Prinzipien – das Prinzip der Identität. (…) So erhält die Poesie, wenn sie die Souveränität des Identitätsprinzips anerkennt, ohne Bedingungen und Einschränkungen alles Seiende als Lehnsbesitz auf Lebenszeit. (Über den Gesprächspartner, S. 21f.) 

Das „Prinzip der Identität“ war ein Vorwurf an die Symbolisten, die sich in ihrer Sucht der Symbole und Analogien verausgabt hatten. Noch zehn Jahre nach den Manifesten hält Mandelstam in seinem Essay „Über die Natur des Wortes“ (1922) polemisch fest: 

Da also führt der professionelle Symbolismus hin. Die Wahrnehmung wird demoralisiert. Nichts Wirkliches mehr da, nichts Echtes. Ein schrecklicher Kontertanz von „Entsprechungen“ [Baudelaires „Correspondances“: RD], die gegenseitig aufeinander verweisen. Ein ewiges Einander-Zublinzeln. Kein einziges klares Wort, nur Andeutungen, nur Unausgesprochenes. Die Rose verweist auf das Mädchen, das Mädchen auf die Rose. Keiner will mehr er selber sein. (…) Der Akmeismus entstand aus einer Absage: „Weg vom Symbolismus, es lebe die lebendige Rose!“ (Über den Gesprächspartner, S. 125/128) 

Aus den drei Manifesten läßt sich das Programm des Akmeismus destillieren. Er forderte eine Rückkehr zum Irdischen, Organischen, Konkreten, zum plastisch-dreidimensionalen Gegenstand. Er war ein Bekenntnis zur kunstvollen Genauigkeit des Handwerks, zum Prinzip der Identität, zur Zeitlichkeit, zu „apollinischer Klarheit“ und „romanischer Ironie“. Und er propagierte nicht zuletzt eine Bejahung dieser Welt, als der einzigen, die dem Menschen und Dichter zugänglich sei. Der Akmeismus verstand sich nicht als eine Weltanschauung, sondern als eine „Verschwörung“ eigener Art. Mandelstam in seinem Manifest:

Keine Gleichheit, keine Rivalität, sondern Komplizenschaft der gegen die Leere und das Nicht-Sein Verschworenen. (Über den Gesprächspartner, S. 21)

Die drei wichtigsten Akmeisten Mandelstam, Achmatowa und Gumiljow waren diese verschworenen Komplizen. Sie verbanden sich zu einem lebenslangen, nie abreißenden „Gespräch zu dritt“.
Die Komplizenschaft brachte auch eine heilsame Ernüchterung bezüglich der Berufung des Dichters, der jetzt das Ethos des Handwerksmeisters haben sollte. Für die Symbolisten war der Dichter ein entrückter Prophet gewesen, ein Oberpriester, ein Künder jenseitiger Welten. Mandelstam empfand tiefen Widerwillen gegen die „priesterliche Position des Dichters“,4 wie sie von den Symbolisten, den „großen Verführern“, wie Nadeschda Mandelstam sie nennt, in Wjatscheslaw Iwanows Turm gepflegt wurde. Nah fühlte er sich dem stillen Symbolisten, Altphilologen und Euripides-Übersetzer Innokentij Annenskij, den auch Gumiljow und Achmatowa zum postumen Lehrer der Akmeisten erkoren.
Der Abschied vom Schwulst der „Symbole“, die Vertreibung aus Iwanows weihevollem Turm bedeutete ein nüchternes Auge-in-Auge mit der Realität. Die Beobachtung eines protestantischen Begräbnisses in Petersburg inspirierte Mandelstam 1912, im Gründungsjahr des Akmeismus, zum Gedicht „Ein Lutheraner“. Seine Schlußstrophe klingt wie ein „protestantisch-akmeistisches“ Manifest:

Schön reden, dachte ich, bringt uns nicht weiter,
Uns lockt kein Himmel, keine Hölle kann uns hetzen,
Propheten sind wir keine, nicht mal Wegbereiter –
Im blassen Mittag brennen wir, wie Kerzen
. (Der Stein, S. 81) 

Verworfen wurde nur der symbolistische Überhang des Jenseitigen. Eine Lossagung von jeder Metaphysik war der Akmeismus für Mandelstam keineswegs. Er suchte nur nach dem „lebendigen Gleichgewicht“ (Über den Gesprächspartner, S. 22) zwischen Rationalität und Mystik, zwischen „Fest der Physiologie“ und „metaphysischem Beweis“ (Über den Gesprächspartner, S. 19f.).
Die Symbolisten reagierten gereizt auf die abtrünnigen Söhne, die ihnen so viel verdankten und doch den Dank schuldig blieben (auch wenn sich Gumiljow in seinem Manifest auf ihr „Erbe“ berief). Noch 1921 läßt Alexander Blok seine Mißbilligung und Ranküne spüren, als er seinen polemischen Essay „Ohne Göttlichkeit, ohne Inspiration“ veröffentlichte. Die Verfemung der Akmeisten unter dem Sowjetregime schöpfte nicht zuletzt aus Formulierungen von Bloks Verdammung der undankbaren Söhne.5
Bei ihrer Überwindung des Symbolismus hatten die Akmeisten, die sich bewußt auf Vorläufer und Verbündete in der weltliterarischen Tradition beriefen, eine wortgewaltige, sich weitaus radikaler gebärdende Konkurrenz. Die Gruppe der Kubo-Futuristen (David Burljuk, Welimir Chlebnikow, Alexej Krutschonych, Wladimir Majakowskij) pflegte den kulturrevolutionären Gestus, verfocht den Neubeginn beim Nullpunkt und fegte erst einmal die gesamte Tradition von Bord des „Dampfers der Gegenwart“. In ihrem Manifest von Dezember 1912 mit dem Titel „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“6 heißt es mit dem Anspruch der Exklusivität:

Nur WIR sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit dröhnt durch uns in der Wortkunst. (…) Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj usw. usw. sind vom Dampfer der Gegenwart zu werfen.

Mandelstams Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ wandte sich gegen zwei Gegner und attackierte neben den Symbolisten auch die Futuristen:

Für die Akmeisten ist der bewußte Sinn des Wortes, der Logos, eine genauso herrliche Form wie die Musik für die Symbolisten.
Und wenn bei den Futuristen das Wort als solches noch auf allen vieren kriecht, nimmt es im Akmeismus zum ersten Mal die würdigere, aufrechte Haltung ein und tritt in die Steinzeit seiner Existenz
. (Über den Gesprächspartner, S. 18) 

„Das Wort als solches“ war der Titel eines von Alexej Krutschonych und Welimir Chlebnikow unterzeichneten futuristischen Manifestes von April 1913, das eine eigentliche Wort-Kunst forderte. Das Ziel war eine von allen Bedeutungszwängen befreite Lautsprache, die „metalogische“ oder „transmentale“ Zaum-Sprache. Dieser „metalogischen“ Sprache hält Mandelstam den „aufrecht gehenden“ Wortsinn, den Logos entgegen.
Anna Achmatowa legte im März 1912 – pünktlich zur Gründung des Akmeismus – mit dem Band Abend ihren Erstling vor. Von Mandelstam gab es erst ein paar Gedichte in Zeitschriften. Ende März 1913 war es endlich soweit: Im Verlag Akme erschien sein erster Gedichtband Der Stein.7 Es war ein grünes Broschürchen und umfaßte nur dreiundzwanzig Gedichte aus den Jahren 1909 bis 1913. Die Auflage von sechshundert Exemplaren mußte vom Autor selber bezahlt und vertrieben werden. Mandelstams Vater hatte das Geld für den Druck gegeben. Der Bruder Jewgenij erinnert sich, wie er mit Ossip in die Druckerei an der Mochowaja ging, um die ganze Auflage abzuholen. Die jungen Männer schleppten die druckfrische Ware zur Buchhandlung Popow am Newskij-Prospekt 66, wo das Büchelchen in Kommission genommen wurde. Von Zeit zu Zeit schickte Ossip den jüngeren Bruder aus, um zu erfahren, wie viele Exemplare bereits verkauft waren. Als es 42 Stück waren, wurde im Hause Mandelstam gefeiert.
Anna Achmatowa erinnert sich in ihren Tagebuchblättern an diesen Erstling:8

Das war mein erster Mandelstam, der Verfasser des grünen Steins (Verlag Akme), den er mir mit dieser Widmung schenkte: „Für Anna Achmatowa dieses Aufblitzen des Bewußtseins in der Besinnungslosigkeit der Tage. In Verehrung – der Autor.“ Mit seiner wunderbaren Selbstironie erzählte Ossip wiederholt, wie der Besitzer der Druckerei, ein alter Jude, der den Stein druckte, ihn zum Erscheinen des Buches beglückwünschte, ihm die Hand drückte und sagte: „Sie werden immer besser und besser schreiben, junger Mann.“

Schon der Titel des schmalen und selbstbewußten Erstlings war ein Programm. Der russische Titel Kamen’ (Stein) war ein Anagramm des Gruppennamens Akme. Laut Mandelstams Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ war „der Stein – das Wort“, und der Dichter der Architekt, der mit Worten baut, „gegen die Leere kämpft“ und „den Raum hypnotisiert“ (Über den Gesprächspartner, S. 20). Mit seinen Architekturgedichten des Jahres 1912 – „Hagia Sophia“ und „Notre-Dame“ – ließ Mandelstam sein erstes Buch ausklingen. In einer Besprechung von Mandelstams Stein schrieb Gumiljow:

Gebäude liebt er ebensosehr, wie andere Dichter die Berge oder das Meer lieben.

Das Bändchen mag ein äußerlich unspektakulärer Anfang gewesen sein. Die Dichterkollegen jedoch ließ es aufhorchen. Daß es von den Akmeisten Narbut, Gorodezkij und Gumiljow besprochen wurde, kann man als kollegiale Gefälligkeit ansehen. Doch auch der Futurist Wladimir Majakowskij – er veröffentlichte ebenfalls 1913 seinen Erstling mit dem schlichten Titel Ich – beobachtete aufmerksam den Dichter jenes grünen Bändchens und kannte viele seiner Verse auswendig.9 Auch später noch, als Mandelstam und Majakowskij völlig verschiedene Wege gingen, begegnete der „Trommler der Revolution“ dem Außenseiter Mandelstam mit Respekt. In einer durch Walentin Katajews Roman Das Kraut des Vergessens (1963) bekannten Episode rezitierte Majakowskij voller Begeisterung Mandelstams Gedicht „Der Dekabrist“ (1917) mit dem berühmten Schlußvers „Rußland, Lethe, Lorelei“ (Tristia, S. 37) und rief aus: „Genial!“
Trotz aller Polemik gegen die Futuristen war Mandelstam von 1912 bis 1915 durchaus angezogen von der ungestümen futuristischen Avantgarde.10 Einer seiner engsten Freunde war ab Ende 1913 der Futurist Benedikt Liwschiz. Diverse Kritiker bemerkten die Nähe Mandelstams zum Futurismus, und seine Dichterkollegin Achmatowa fürchtete gar, er könnte in der Zukunft einst den Futuristen zugeschlagen werden. Ein Dichter von Format mußte ohnehin den engen Rahmen von Manifestwortlaut und Schuldoktrin sprengen. Mandelstam verwirklichte ein eigenwilliges Amalgam von Symbolismus, Akmeismus und Futurismus und ein Werk von früher, souveräner Eigenständigkeit. Dennoch war er kein Eigenbrötler. Von dem 1912/1913 mit den Akmeisten geteilten „Wir“-Gefühl zehrte er das ganze Leben.11
Das Jahr 1913 war das Jahr der Explosion der Moderne.12 Eine Zeit der Experimente und Entdeckungen, eine Zeit des Fiebers unter den Künstlern. Es war das eigentliche Jahr der russischen Avantgarde. Roman Jakobson erinnerte sich:

Es war eine ungewöhnliche Epoche mit einer außerordentlich großen Anzahl sehr begabter Leute. Und es war eine Zeit, in der plötzlich die Jugend den Ton angab. Wir fühlten uns nicht als Anfänger.

Auch Mandelstam hatte teil an diesem Aufbruch. Die Phänomene des modernen Lebens nahm er ungezwungen in seine Gedichtwelt auf: Stummfilmkino (Der Stein, S. 105), die Sportarten Tennis und Fußball (Der Stein, S. 109, 187), den modernen Tourismus (Der Stein, S. 111). Es war eine Moderne, die Mandelstam mit Burljuk und Majakowskij teilte, samt Benzingerüchen, Hupkonzert und Wolkenkratzern. 

Mailuft. Fetzen von Gewitterwolken.
Totes Grün welkt vor sich hin.
Hupen jetzt, Motorenrollen –
Flieder riecht hier nach Benzin.

(„Tennis“; Der Stein, S. 109) 

Amerika – ein Hupkonzert,
Die roten Wolkenkratzer nippen
An kalten Wolken, leicht verzerrt
Und rauchgeschwärzt sind ihre Lippen.

(„Amerikanermädchen“; Der Stein, S. 111) 

Modern war bei Mandelstam nicht so sehr das Auftauchen neuer Gegenstände – die hatten die Futuristen rasch im Repertoire – als das große Nebeneinander und „lebendige Gleichgewicht“ von Feierlichkeit und Vulgarität, von Pathos und Ironie, von kulturellem Gedächtnis und sinnlicher Wahrnehmung, von historisch Bedeutsamem und bizarrer Alltagslappalie.
Der Symbolismus war überwunden, die neu gewonnene Freiheit groß und verlockend. So stehen bei Mandelstam die letzten Echos auf den Symbolismus neben frechen Ausflügen in Bars und Kneipen (Goldstück und American Bar), erhabene Sakralbauten (Notre Dame und Hagia Sophia) und Götter der Musikgeschichte (Bach und Ode an Beethoven) neben den zitierten Phänomenen der Moderne: Gehupe und Benzingeruch, Kino und Cocktail, Tennis und Tourismus. In Mandelstams Fußball-Gedicht blitzt eine Reminiszenz an Giorgiones Gemälde Judith und Holofernes auf, das er in der Petersburger Eremitage gesehen hatte. Moderner Massensport und biblisch inspirierte, exquisite Renaissance – unter einem Hut.
In diversen Gedichten ab den „Petersburger Strophen“ (1913) wirkt ein städtisches Alltagsleben mit seinem unscheinbaren Personal: Fußgänger, Pförtner, Hausknechte, Kutscher. Der an das Schwarze Meer verbannte Ovid trifft auf einen gähnenden Petersburger Pförtner, der an einen Skythen erinnert. Und wie Ovid „im Lied Rom und den Schnee hintrug“ (Der Stein, S. 129), vereint auch Mandelstam die Ewige Stadt und das unendlich Unewige, Leichte, Flüchtige, schnell Wegschmelzende. Nicht weit von der „Ode an Beethoven“ findet sich eine Hymne auf das „göttliche Eis“. Gemeint ist Speiseeis, Eiscreme.
Mandelstam war ein urbaner Dichter, doch die Großstadt interessierte ihn 1913 nicht mehr als die Grabstele, auf der sich ein altägyptischer Würdenträger an seine Erfolge erinnert und sehr akmeistisch, diesseitsbezogen die Freuden des Jenseits ausmalt („Ein Ägypter“):

Ein Vorgeschmack vom Glück, vom Glanze:
Wie ich getanzt hab seligfroh –
Es war so herrlich, da zu tanzen
Vor meinem Pharao
. (Der Stein, S. 183; Die beiden Trams, S. 99/101) 

Mandelstams frühe Lust an der Welt, ein Eros, der ihn zum Einzelnen hintrug („Beneide ich still einen jeden / In jedermann heimlich verliebt“; Der Stein, S. 39), verbündete sich passend mit den Forderungen der Akmeisten. Energisch gab er dem akmeistischen Respekt vor dem „Eigenwert jeder Erscheinung“ Ausdruck. Der Akmeismus war für Mandelstam eben auch eine Lebenskunst, die alle Kunst ins Leben, in den Alltag hereinholte und das schlichte Dasein als Kunstwerk gestalten wollte.
Die Zeit des symbolistischen Turms war vorbei. Die jungen Dichter der Epoche trafen sich jetzt in Künstlerkneipen zu Gedichtlesungen und Disputen, etwa im Streunenden Hund13 am Michailowskij-Platz 5 (heute: „Platz der Künste“), dessen Besitzer Boris Pronin war. Hier entfaltete sich die Petersburger Bohème-Kultur, in der sich die Künstler mischten, stritten und verbrüderten. Auch Mandelstams Scherzgedichte und Epigramme sind kaum zu trennen von der Bohème-Atmosphäre am Vorabend des Ersten Weltkriegs, wie sie im Streunenden Hund kultiviert wurde. In diesem bizarren Treibhaus entstand die von Mandelstam und anderen gehätschelte Anthologie des antiken Blödsinns und schierer Nonsens wie der dem Ego-Futuristen Igor Sewerjanin zugedachte Vierzeiler:

Eine Kuh frißt ruhig ihr Heu,
Die Herzogin aber Gelee –
Und gerade etwa um halb zwei
Schnappt der Graf über im Chalet!
(Die beiden Trams, S. 93, 117). 

Dieses Künstlerlokal hatte seine Feten und burlesken Rituale, und eine besonders späte Sperrstunde. Es öffnete erst gegen Mitternacht, wenn die Schauspieler nach ihren Vorstellungen hereinplatzten. Die Gewölbe dieses Bohème-Tempels hatte der Maler Sergej Sudejkin nach Motiven aus Baudelaires Blumen des Bösen ausgemalt. Den Eingang zierte das in blaues Leder gebundene „Schweinebuch“, in das sich die Künstler und ihre Gäste eintrugen. Letztere wurden auch „Pharmazeuten“ genannt. Wenn sie sich spendabel zeigten, avancierten sie stracks zu „Mäzenen“. Mandelstam wird sich noch ein Jahrzehnt später, in seinem Porträt des „Grotesk“-Theaters in Rostow am Don (1922), in farbigen Bildern an seinen Streunenden Hund erinnern:

Wie war das bloß, wie war das bloß! Aus der vor lauter Witz flüssiggewordenen Atmosphäre des fieberheißen, engen, wie ein Bienenstock lärmigen, doch immer ordentlichen, selbstbeherrscht tobenden Kellersarges in den kleinen, unter Pelzen und Pelzchen begrabenen Flur hinauf, wo man die letzten Worte wechselt, und dann hinaus in die Frostnacht, auf den stillen Michails-Platz. Du schaust zum Himmel, und selbst die Sterne erscheinen dir zweifelhaft: die witzeln drauflos, machen bissige Bemerkungen, blinzeln dir zu.
Und nicht einmal die Frostluft bringt Erfrischung, und die Sterne keine Beruhigung. Der Schnee knirscht unter den leichten Kufen eines Mietschlittens, und wie „Dämonen unsichtbar im Mondlicht“ überschlagen sich im Schneestaub die letzten Petersburger Geistesblitze, der Unsinn des letzten Sketches verschmilzt mit dem Unsinn des Schnees, und der Kältehauch eines letzten Witzes, der ins Blut gefahren ist „wie ein Eiswürfelchen in den Schaumwein“, wird es abkühlen und eisig werden lassen, bis es gefriert.
(…) Dieses Publikum durchlief, war es einmal eingeweiht, die Witz-Kultur, die Hochschule des Spottes, die Akademie des exquisiten Unsinns. (…) Wirkliche Teilhaber an diesem Mysterienspiel des absoluten Unsinns konnten nur Menschen sein, die „bis an die Grenze“ gegangen waren, die etwas zu verlieren hatten und die von ihrer inneren Verwüstung zu diesem umwerfenden „Unsinn-Schaffen“ getrieben wurden – von einem Vorgefühl des Endes. (Über den Gesprächspartner, S. 106–108)

Mandelstam, bereits nachdenklich geworden, reflektierte die ausgelassene Frechheit und Fröhlichkeit am Vorabend tragischer Ereignisse noch 1913 in einem Gedicht:

Vom leichten Leben waren wir halb verrückt,
Schon morgens Wein, und abends Katzenjammer.
Wie läßt sichs nur bewahren: Rot der Wangen,
Du Pest des Rauschs! und wie dein schales Glück?
(Der Stein, S. 115) 

 Auch die Futuristen besuchten den Streunenden Hund, Anna Achmatowa erinnert sich, daß Mandelstam ihr in diesem Lokal Wladimir Majakowskij vorgestellt habe. Alle aßen Abendbrot, das Geschirr klapperte, als Majakowskij auf die Idee kam, seine Gedichte vorzutragen. Mandelstam ging zu ihm hin und sagte:

Majakowskij, hören Sie auf mit Ihren Gedichten. Sie sind doch kein Zigeunerorchester.

In diesem Bienenkorb herrschte die Eifersucht, wie Viktor Schklowskij berichtet:

In jenem Keller kannte man den Preis eines Verses. Eine geglückte Zeile von Mandelstam erregte Neid und Hochachtung und Haß.

Sticheleien zwischen Akmeisten und Futuristen waren normal, entsprachen der Kultur spitzzüngiger Polemik, die diese Bohème gerne pflegte. Nur einmal, am 27. November 1913, hatte Mandelstam im Streunenden Hund einen ernsthaften Konflikt mit Welimir Chlebnikow, der wichtigsten Figur der Kubo-Futuristen, dem genialen „Sonderling höchsten Grades“ (Roman Jakobson). Doch es ging bezeichnenderweise nicht um futuristisch-akmeistische Wortgefechte, sondern um eine Affäre, die Mandelstam empfindlich treffen mußte: die Bejlis-Affäre,14 die laut Benedikt Liwschiz Erinnerungen Der anderthalbäugige Strelitze (6. Kapitel) nicht nur die Gesellschaft in zwei Lager spaltete, sondern auch die Dichter jener Zeit aufwühlte.
Der von Antisemiten angezettelte Prozeß gegen den Kiewer Juden Mendel Bejlis, der im März 1911 des Ritualmords an dem christlichen Knaben Andrej Juschtschinskij angeklagt wurde, offenbarte schmerzlich, daß der alte, stereotype Ritualmord-Verdacht gegen die Juden im modernen Rußland nicht ausgemerzt war. Es war eine eigentliche russische Dreyfus-Affäre, in die diverse prominente Autoren sich einmischten: Der Philosoph und Schriftsteller Wassilij Rosanow übte sich 1911 bis 1913 publizistisch in antisemitischer Pogromhetze, der Schriftsteller Wladimir Korolenko plädierte für Bejlis’ Unschuld und wandte sich energisch gegen die Verleumdungsklischees russischer Antisemiten. Korolenko war in dieser Affäre ein Advokat vom Range Emile Zolas, der 1898 mit seinem J’accuse in die Dreyfus-Affäre eingriff.
Bejlis wurde schließlich im Oktober 1913 freigesprochen. Chlebnikow rezitierte am besagten 27. November im Streunenden Hund ein Gedicht mit antijüdischen Ausfällen und verfluchte Bejlis. Mandelstam war sehr aufgebracht und forderte Chlebnikow zum Duell.15 Es war eine hitzige Reaktion, Duelle waren längst verpönt und verboten, doch zeigte sie das Ausmaß von Mandelstams Zorn:

Ich fühle mich als Jude und als Russe beleidigt und fordere Sie zum Duell. Was Sie gesagt haben, ist eine Gemeinheit.

Auch diese Äußerung verbietet es, Mandelstams Gefühl der Zugehörigkeit zum Judentum – trotz zeitweiliger Distanznahme – zu verkennen.
Viktor Schklowskij berichtet, beide Kontrahenten hätten ihn zum Sekundanten gewählt. Als zweiter Sekundant wurde der Avantgarde-Maler Pawel Filonow aufgeboten, doch aus ihm sprach die Stimme der Vernunft. Filonow weigerte sich, in einem läppischen Konflikt das Leben eines Dichters aufs Spiel zu setzen. Der Duelltod hat in der russischen Literaturgeschichte eine betrübliche Tradition: Alexander Puschkin und Michail Lermontow starben durch ihn viel zu früh. Mandelstam und Chlebnikow wurden durch ihre Sekundanten Schklowskij und Filonow versöhnt.
Mandelstam war nicht nachtragend. Was er in seinen Essays von 1922/1923 über den Sprachexperimentator und Visionär Chlebnikow schreiben wird, gehört für immer zum Treffendsten, was je über den ihm so unähnlichen Chlebnikow gesagt werden kann. Der Konflikt mit dem Dichter, den er sehr schätzte und bewunderte, war eine schmerzliche Prüfung. Seine Traurigkeit über den Vorfall spricht aus einem im Dezember 1913 entstandenen Gedicht. Es erinnert in der ersten Strophe an den biblischen Joseph, den Sohn des Patriarchen Jakob, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wurde (1. Buch Mose, S. 37–50). Zur Erinnerung: Ossip ist eine russifizierte Namensform des biblischen Namens Iossif. 

Die Luft – vertrunken, und das Brot vergiftet.
Und diese Wunden heilen: hart.
Die Schwermut Josephs in Ägypten –
Genauso bittre Gegenwart.
(Der Stein, S. 117) 

Der verkaufte Bruder durchlebt einen Augenblick tiefer Einsamkeit im Trubel der Petersburger Bohème. Ein Dichterkollege hatte ihm mit verächtlichen Äußerungen sein Judentum ins Gedächtnis gerufen. Doch das Gedicht auf Wunden und bittere Gegenwart beschwört auch die Poesie der Beduinen und eine „Befreiung durch Gesang“, Trost und Selbstheilung durch echte Poesie und einen späten Triumph: 

Singt einer wahr und singt es eigen,
Mit vollem Atem – wenns gelingt
Verschwindet alles, übrigbleiben
Der Raum, die Sterne, er, der singt!

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie, Ammann Verlag, 2003

 

 

Puškin, Mandel’štam, Achmatova – das Heim

Das Zimmer ist verschlossen.
Das Zimmer hat vier Ecken.

Sie reimen sich auf Schrecken.

Die Hölle nicht verdecken
wird der, den sie erschossen.

Elke Erb, 20.8.10

 

Michael Borrasch: Dem lichten Andenken Ossip Mandelstams

 

Frank Diamand: Die Jahrhunderte umgeben mich mit Feuer. Osip Mandelstam, 1976.

 

Joseph Brodsky spricht über Mandelstam.

 

Zum 70. Todestag des Autors:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

Fakten und Vermutungen zum Autor + Dichterstimmen +
KLfGIMDb + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
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Antrittsrede + Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaum

 

Ralph Dutli liest aus dem Buch Fatrasien.

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