Rajzel Żychlinski: Vogelbrot

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rajzel Żychlinski: Vogelbrot

Żychlinski-Vogelbrot

WENN EINE WOLKE

Wenn eine Wolke an meiner Scheibe klingeln wird
mit ersten Regentropfen,
werd ich bereit sein.
Mit der Sonne
hab ich schon lange die Rechnung gemacht,
und die Erde dreht sich sowieso.
Der Frühling kommt an meine Schwelle
mit der Botschaft des Herbstes,
und der weiße Kirschblütenflaum
erinnert an kalten Schnee.
Frühe Äpfel klopfen bei der Erde an
wie an der Tür einer Mutter,
und ich höre die stille
Rede der fallenden Blätter.

 

 

 

Nachbemerkung

„Um 1928 oder 29 bekam ich in der Redaktion der literarischen Beilage zur Volkszeitung einige Gedichte, von ungelenker Hand aufgeschrieben. Jedes Gedicht hatte zwei bis drei Zeilen. Die Texte waren aus Gąbin zugesandt worden und trugen den Namen des Autors: Rajzel Żychlinski. Die Gedichte waren sehr zart, sehr romantisch, sehr unklar, wenig melodisch und absolut unlogisch. Ich antwortete in der Zeitung, zitierte Passagen aus den Gedichten, druckte später etliche von ihnen. Wie immer in solchen Fällen entwarf meine Phantasie die Gestalt der Dichterin: ein mageres, ältliches Mädchen.
Einige Monate nach dem Abdruck ihrer Lieder kam sie zu mir in den Literatenverein: ein fülliges, hochgewachsenes Mädchen aus der Provinz, blond, mit großflächigem Gesicht, in einem schweren Provinzmantel, mit Galoschen und viel Schnee darauf. Sie hatte Ambitionen, diese Rajzel Żychlinski. Sagte man ihr etwas über ihre Gedichte, was ihr nicht gefiel, und sie hatte nicht genügend Argumente, um scharf darauf zu antworten, konnte sie die Tür zuschlagen und fortlaufen. Aber vom Schreiben zu entlaufen hat sie niemals vorgehabt. Im Gegenteil, die Schwierigkeiten haben nur ihren Willen und ihren Ehrgeiz angestachelt…“ So erinnert sich der Dichter Melech Rawitsch, damals Redakteur einer jiddischen Zeitung in Warschau, an seine Entdeckung der Autorin. Heute gilt Rajzel Żychlinski als eine der bedeutendsten und originärsten Lyrikerinnen der jiddischen Literatur.
Sie wurde 1910 in Gąbin geboren, wo es eine alte und traditionsreiche jüdische Gemeinde gab. Die Mutter entstammte einer Familie, die Generationen hindurch Rabbiner und Talmudgelehrte hervorgebracht hatte. Der Vater, Inhaber einer Gerberei, versuchte mehrfach, in Amerika Fuß zu fassen. Aus Furcht vor den antireligiösen Einflüssen der Fremde blieb die Mutter mit den Kindern zurück. 1928 starb der Vater in Chikago.
Im gleichen Jahr debütierte seine Tochter mit lyrischen Miniaturen, wie sie seither für ihr Dichten charakteristisch geblieben sind.
Als 1936 ihr erster Gedichtband Lider in der Bibliothek des jüdischen Penclubs in Warschau erschien, schrieb der Lyriker Itzik Manger in seinem Vorwort:

Schon das erste Gedicht, das Rajzel Żychlinski veröffentlichte, ließ aufhorchen. Es wehte darin der Duft von Pflaumenblüten und der Flügelschlag von Vögeln über herbstlichen Landschaften…
Die poetischen Requisiten, die Rajzel Żychlinski benutzt, könnte man an den Fingern abzählen: die Mutter, die Katze, die Weide, die Wolke, die Pappel, der Bettler, das Kind und der Brunnen. Aber nicht um die äußeren poetischen Requisiten geht es, sondern um ihre Nuancierung. Es geht darum, die Objekte immer wieder in ein neues Licht zu stellen, eine andere Stimmung zu erzielen. Kurz, um die Kraft, das Material bis ins Unendliche zu variieren. Um das Wieder-Lernen der Urmotive auf immer neue und neuere Art…
Mutters schlichte Stube in Gąbin ist ihr Parnaß. Der kleinste Gegenstand, der sich in Mutters Heim findet, ist würdig, Gedicht zu werden… Mag die Sonne tausendmal die Schuhe anzünden – der Ruf zum Wandern −, die Dichterin wird nicht fortgehen. Sie ist und bleibt die Gefangene der Heim-Idylle.

In dieser Behauptung kreuzen sich Irrtum und Prophetie. Wenige Jahre später mußte sie fortgehen, flüchten vor der nazistischen Ausrottungsmaschinerie. Aber sie trug das jiddische Städtl mit sich als Maß und als Gegenbild, das die jeweilige Umwelt durchdringt und poetisch verwandelt.
Kurz vor Ausbruch des Krieges 1939 erschien ihr zweiter Gedichtband Der regn singt.
Sie entkam in die Sowjetunion, überstand den Krieg in der Gegend von Kasan, heiratete, brachte ihr Kind zur Welt. Nach dem Krieg kehrte sie nach Polen zurück:. Der Gedichtband Zu lojtere bregn, der 1948 in Łódź erschien, trägt die Widmung: „Dem heiligen Andenken meiner Mutter Debora, meiner Schwester Chane, meiner Brüder Jankew und Dowid und ihrer Kinder – Opfer von Chełmno und Treblinka.“ Und im Vorspruch heißt es:

Ein blutiger Strom hat mein Büchlein weggeschwemmt wie meine Leser, und mein Heim mit der Wurzel ausgerissen. Mein Heim, die erste dichterische Vision, ist ausgetilgt worden wie alle anderen Heime. Leere…

Der Rajzel Żychlinski wurde es zu schwer, auf Gräbern zu leben. 1948 siedelte sie nach Paris über, 1951 nach New York, wo sie noch heute wohnt.
Ihr Gedichtband Schwejgndike tirn, 1962 in New York ediert, sammelt die wichtigsten Texte der früheren Bände und ergänzt sie reich durch neue Gedichte. Es folgen die Lyrik-Bücher Harbsstike sskwern, New York 1969, und Di nowember-sun, Paris 1977.
Jedes ihrer Bücher ist von der jiddischen Literaturkritik mit großer Aufmerksamkeit bedacht worden. Bedeutende Autoren wie Jankew Glatschtejn, Jissroel Emiot, Rochel Korn, Chaim Grade haben sich über ihre Gedichte geäußert.
Manche nennen sie „groß“, viele „originell“, fast alle „echt“, „lauter“, „authentisch“. Die Dichterin Rochel Korn schreibt vom „Druck ihres inneren Imperativs, der sich durch äußere Bedingungen oder Forderungen nicht korrumpieren läßt“.
Über künstlerische Verwandtschaften dieser Dichtung und mögliche Vorbilder ist viel meditiert worden.
Genannt werden: Folklore. Alte chinesische und japanische Poesie. Mehrfach die Lasker-Schüler.
Alte poetische Traditionen wie Gebet und Orakel.
Itzik Manger, wenn auch nur atmosphärisch – weder der Form noch den Inhalten nach.
Wichtig scheint mir die Verwandtschaft mit der Lyrik der Rose Ausländer – nicht im Zeichen einer Abhängigkeit, sondern einer dichterischen Parallelität, die aus verwandter Begabung und vergleichbarem Schicksal entstanden ist. Und deutlich ist, wie Rajzel Żychlinski bei aller fast naiven Einmaligkeit und Unabhängigkeit, die sich an keinerlei Vorbild bewußt orientiert haben mag, von der Tradition der jiddischen Sprache und der in ihr ausgedrückten Lyrik zehrt. Sie nutzt das Volksnahe des Jiddischen, das dem jüdischen Alltag im Osten Verhaftete, das Vertraut-Familiäre und Anheimelnde; auch die Kraft dieser Sprache, eine versunkene und in Trümmer gelegte Vergangenheit assoziativ heraufzubeschwören. Von daher rührt die Schlichtheit der Texte und ihr Vermögen, ihre Wirkungen mit sparsamen, fast spärlichen Mitteln zu erreichen. Auch die Moll-Tonart, wie sie den tradierten Grundmotiven von Trennung, Leid und Tod gemäß ist. Auch das Aufbegehren gegen verhängte Sinnlosigkeit, das Hiobsmotiv, das Rechten mit Gott.
Die Lyrik der Żychlinski schreit nicht, hat wenig Rhetorisches, und wenn sie Pathos enthält, dann ein verhaltenes, verinnerlichtes. Mit ihren Gedichten lehrt die Autorin hinzuhören, so wie sie selber hinhört: auf das, was ein Kellner so im Vorbeigehen sagt; was die Einsamen und Alten vor sich hinreden; was die Dinge erzählen; was der Hudson, nicht für jedermann hörbar, schreit.
Auch geringe Vorgänge bekommen Tiefendimensionen; durch kleine Gesten, Metaphern oder Nebenhin-Bemerkungen öffnen sich Falltüren in andere Welten.
Eine Besonderheit der Texte: das Spontane, gleichsam Improvisierte, Skizzenhafte und Fragmentarische.
Rochel Korn spricht von der „Urkraft der Erstmaligkeit“, Jissroel Emiot gebraucht das Bild, viele der Texte hingen noch an der Nabelschnur, die sie mit der Autorin verbinde. Gerade die Unmittelbarkeit des Erlebnisses oder Einfalls und die fast dokumentarische Genauigkeit machen zu einem wesentlichen Teil Reiz und Wert dieser Texte aus.
Bereits die Gedichte der jugendlichen Autorin ließen Motive des Alterns, der Einsamkeit, des Sterbens, der Fremde aufklingen. Noch in den New Yorker Versen, wo die Einsamkeit der Steinwüste zu Sprache kommt, finden sich Töne und Techniken, die sich von den früheren und frühesten nur schwer unterscheiden lassen (so daß selbst die Autorin in die Gefahr kommt, sich bei der zeitlichen Zuordnung der Texte zu irren). Dazwischen liegt – fremd, andersartig – der Versuch, die ungeheuerlichen Erfahrungen der Judenverfolgung und -vernichtung, das Unmaß an Entmenschlichung und Zerstörung in das kleine Maß ihrer Vers-Miniaturen zu fassen. Er bleibt Episode. Die alphafte Erinnerung ist auch späterhin Thema ihrer Gedichte, aber in einer Art, die der geringen Spannweite ihrer Verse gemäßer ist.
Auf den ersten Blick mag es wie Verrat an ihren Erfahrungen wirken, daß sie bald nach dem Krieg wieder zu verspielt-poetischen, Alltag und Traum mischenden Versgebilden zurückkehrt. Bei genauerem Zusehen: das ist nicht Flucht in ein idyllisches Reservat. Die zertrümmerte Welt ihrer Kindheit und deren Vision wird, der Vernichtung zum Trotz, poetisch bewahrt; und nicht nur als traumartige Gegenwelt, sondern in produktivem Konflikt mit der neuen, so anderen Wirklichkeit.
Der Autorin ist manchmal vorgeworfen worden, daß in ihren Texten eigentlich kein Programm und keine Botschaft zu entdecken sei. Nun gehört Lyrik, die sofort und programmatisch mit Botschaften einherkommt, nicht immer zum Tiefsten und Anrührendsten, was in diesem Genre zu leisten ist. Aber dem gründlicher Lesenden hat die Autorin manche Botschaft zu übermitteln. Das Thema des Leidens, das sie mit ihrem Volk so tief erfahren hat, des Widerstehens und Überstehens, bleibt für sie nicht an die Erfahrung ihres Volkes gebunden. Die Texte zeugen von menschlicher Solidarität mit aller getretenen Kreatur – den Armen, den Negern, den Einsamen, Alternden, Sterbenden, dem chinesischen Kind in der Subway oder dem Nachbarn, der durch die um sich greifende Entfremdung unerreichbar geworden ist.
Das ist keine Position, aus der die Strukturen der Gesellschaft tief durchschaut oder weitreichende Veränderungsprogramme entworfen werden könnten.
Die Botschaft ihrer Gedichte:

Die gütige Hand rettet die Welt vor Chaos und Untergang.

Mehr hat sie uns nicht anzubieten, aber: auch nicht weniger.

Hubert Witt, Nachwort

 

„… und ich bin am Leben geblieben“

– Eine Begegnung mit der jiddischen Dichterin Rajzel Zychlinski. –

An einem heißen Julitag treffe ich auf dem Boardwalk in Brooklyn Rajzel Zychlinski, die bedeutendste lebende jiddische Dichterin. Wir kennen uns inzwischen vier Jahre, und seit unserem ersten Zusammentreffen im Juli 1991 hat sich eine ebenso schwierige wie innige Freundschaft zwischen uns entwickelt. Bis zum heutigen Tag zieht Rajzel Zychlinski die Begegnungen im Freien denen in geschlossenen Räumen vor. Der Boardwalk ist ihr bevorzugter Aufenthaltsort, fast bei jedem Wetter kann man sie hier treffen. Rajzel Zychlinskis Weg nach Brooklyn ist lang. Geboren wurde sie am 27.Juli 1910 in der zentralpolnischen Stadt Gombin (polnisch Gabin), die damals noch unter russischer Herrschaft stand. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Besetzung durch die deutschen Truppen im September 1939 gehörte Gombin zu Polen. Von den etwas mehr als fünftausend Einwohnern waren fast die Hälfte Juden. Rajzel Zychlinski ist eine von 251 Gombiner Juden, die die Schoa überlebt haben.
Ihr Schtetl hatte sie schon Anfang der Dreißiger Jahre verlassen, um in Wloclawek als Verwalterin eines Waisenhauses zu arbeiten. Diese Stelle war ihr durch den Heimleiter angeboten worden, nachdem dieser ihre Gedichte gelesen hatte. Rajzel Zychlinski debütierte im Jahre 1928 in der Warschauer jiddischen „Folks-tsajtung“. 1936 erschien in der Bibliothek des Jiddischen PEN ihr erster Gedichtband Lider, was im Jiddischen sowohl gesungene Lieder wie auch Gedichte meint – ein Indiz für die enge Verbindung zwischen Poesie und Melodie in dieser Sprache. Itzik Manger, der das Vorwort zu diesem Band verfaßte, lobt die Originalität und den reifen Ton der jungen Dichterin. Ihr zweites Buch Der regn zingt erschien wenige Wochen vor Kriegsausbruch in Warschau. Fast die gesamte Auflage wurde durch den Einmarsch der Hitlertruppen vernichtet.
Rajzel Zychlinski lebte inzwischen in Warschau und arbeitete dort als Bankangestellte. Wann immer sie konnte, saß sie in der Bibliothek und las, unter anderem erstmals die Thora. Gedichte mit biblischen Themen sind die Früchte dieser Lektüre. Dabei werden die biblischen Figuren jedoch aus neuen, häufig weiblichen Gesichtswinkeln betrachtet. So ist nicht nur Jakob der Betrogene, als er nach sieben Jahren Dienst um die geliebte Rahel zunächst mit Lea verheiratet wird neben ihm steht die um die Liebe ihres Mannes betrogene Lea. Und immer wieder, wie schon in ihrem ersten Buch, Miniaturen, die mit sparsamen Worten eine Situation, ein Bild, eine Atmosphäre einfangen:

OKTOBER

Im Oktober werden die Gespräche der Menschen
leiser und kürzer.
Schwerer wird das Wasser,
größer wird der Krug.
Seinen Schatten trinkt
der alte Baum.
Der Brunnen zieht in die Tiefe
hinab,
mich
und dich,
reifer Traum.

Der Überfall der Deutschen auf Polen zerbricht die bis dahin aufstrebende Karriere der jungen Dichterin. Nach der Bombardierung und Besetzung Warschaus erlebt Rajzel Zychlinski die ersten Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung durch die deutschen Besatzer. Sie wird Augenzeugin, wie junge Wehrmachtssoldaten sich einen Spaß daraus machen, frommen Juden Bärte und Pejes, ihre Schläfenlocken, abzuschneiden. Ende September wird die hölzerne Synagoge in Gombin niedergebrannt, begleitet von barbarischen Grausamkeiten, die die Deutschen an der jüdischen Bevölkerung des Schtetls begehen. Für viele polnische Juden schon deswegen unfaßbar, weil sie die Deutschen aus dem Ersten Weltkrieg im Gegensatz zu den Russen und anderen Soldaten als zivilisiert, oftmals sogar als freundlich in Erinnerung haben.
Rajzel Zychlinski entschließt sich zur Flucht. Bei Nacht und Nebel überquert sie Anfang Oktober zusammen mit zwei anderen Flüchtlingen den Bug, der nach dem Vormarsch der roten Armee zum Grenzfluß geworden war. Ein polnischer Taxifahrer war Fluchthelfer und nahm von den Flüchtlingen nur den festgesetzten Preis. Er betrug 400 Zloty, eine für damalige Verhältnisse stattliche Summe. Andere Flüchtlinge wurden ausgeraubt, um die Flucht betrogen, einige von ihnen umgebracht. Rajzel Zychlinski und ihre Begleiter hatten Glück. Die Flucht gelang, wurde auf der sowjetischen Seite auch nicht von Angehörigen des Geheimdienstes beobachtet, der viele jüdische Flüchtlinge auf kürzestem Weg und auf deren Kosten zurück ins deutsch besetzte Polen transportierte. Rajzel Zychlinski lebte einige Monate in Lemberg, wohin sich zahlreiche jiddische Künstler und Schriftsteller geflüchtet hatten. Dann zog sie in das ostgalizische Kolomea, zu ihren künftigen Schwiegereltern. Auch ihrem Mann, Izaak Kanter, den sie im Januar 1941 heiratete, gelang die Flucht. Während des Krieges diente er als Arzt in der roten Armee. 1942, als die Familie schon in Kasan lebte, wurde Rajzel Zychlinskis einziger Sohn Marek geboren. Die Gedichte aus dieser Zeit zeugen von der stolzen und innigen Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Sie sind ebenso Ausdruck des Hasses und des Wunsches nach Rache, die die Söhne jüdischer Mütter an den Deutschen nehmen sollen.
In jiddischen Zeitungen wie Der emes (Die Wahrheit) berichteten jüdische Kriegberichterstatter und Augenzeugen, denen die Flucht aus den besetzten Gebieten und Konzentrationslagern gelungen war. So erfuhren viele Juden in der Sowjetunion wesentlich früher als die westeuropäische und amerikanische Öffentlichkeit von den Vernichtungsaktionen. Am 12. Mai 1942 wurde das Gombiner Getto aufgelöst und seine Bewohner in Chelmno ermordet. Die Datierungen unter den Gedichten aus dem sowjetischen Exil belegen, daß Rajzel Zychlinski 1943 von der Vernichtung ihres Schtetls wußte. Die Trauer um ihr Volk bestimmt das Leben und Schreiben der Dichterin bis zum heutigen Tag. Das Trauma der Ermordung auch ihrer eigenen Familie – die Mutter und drei ihrer Geschwister wurden zusammen mit ihren Kindern in Chelmno und Treblinka vergast – ist mit den Jahren nicht weniger belastend geworden – im Gegenteil. Wer hierzulande von Vergangenheitsbewältigung spricht, sollte sich vergegenwärtigen, daß dabei die Rede noch immer von Menschen ist, die unter den furchtbarsten Ereignissen bis zum heutigen Tage leiden. Als ich Rajzel Zychlinski einmal vom Boardwalk zu dem Haus begleite, in dem sie lebt, bleibt die alte Frau stehen und nimmt meine Hand. „Weißt Du“, und während sie spricht, sieht sie mir lang und fest in die Augen, „seit mehr als fünfzig Jahren habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen, nicht ein einziges Mal… immer sehe ich sie vor mir, auf dem Feld, wo man sie festgehalten hat, vier Tage und Nächte, ohne Essen, ohne ein bißchen Wasser, und dann auf ihrem Weg ins Gas…“
HerschI Poljanker, ein anderer jiddischer Autor, machte seinen Einfluß im Sowjetischen Schriftstellerverband geltend und reichte bei diesem Übersetzungen von Gedichten Rajzel Zychlinskis ein. Die Lyrikerin wurde daraufhin in den Verband aufgenommen. Die Lebensmittelmarken, die die Familie daraufhin erhielt – es waren mehr, als ihr Mann als Arzt in der Armee bekam – retteten ihnen im Hungerwinter 1942 das Leben.
Noch einmal mußte die Familie weiter nach Osten fliehen, als die deutschen Truppen vor der Niederlage in Stalingrad Kasan gefährlich nahe rückten. In Astrachan erlebte sie das Kriegsende. Über Mariupol (sowjetisch Schdanow) am Asowschen Meer kehrte die Familie 1946 nach Polen zurück.
Erst nach ihrer Rückkehr haben die wenigen überlebenden Juden im vollen Umfang erfahren, daß es eine Heimkehr nicht mehr geben konnte. Anders als etwa die deutschen Exilanten, die schon erhebliche Schwierigkeiten hatten, wenn sie sich nach 1945 zur Rückkehr nach Deutschland entschlossen, stießen die osteuropäischen Flüchtlinge auf eine Leere, die mit nichts zu vergleichen war. Die Schtetlach waren zerstört, ihre Bewohner ermordet, von der einst vielfältigen und pulsierenden jiddischen Kultur kaum etwas am Leben geblieben.
Lange hat Rajzel Zychlinski es in dieser Leere, die sie schmerzhaft an all das Verlorene erinnerte, nicht ausgehalten. In Lodz erschien 1948 ihr drittes Buch Tsu lojtere bregn (Zu lichten Ufern). Neben einer Reihe Gedichten aus ihren ersten beiden Büchern enthält es, anders es als der hoffnungsträchtige Titel verheißt, vor allem Gedichte des Schmerzes und der Trauer.

AUS WIEVIELEN HEIMEN

Aus wie vielen Heimen hat man uns herausgerissen
und unsere vier Wände
sind verwaist geblieben!
Für alle Zeit
begleitet mich das Weinen
unserer verwaisten vier Wände!
Ein Hammer weckt die Sehnsucht.
In seinem neuen Zuhause
schlägt ein Mensch einen Nagel in die Wand.
Das frische Holz duftet.
Die Abendwolken sind lieblich,
nur tief in mir weint
und klagt Wanderschaft.

Der fortbestehende Antisemitismus, der selbst die wenigen Überlebenden nicht schonte, wie es das Pogrom von Kieke 1946 gezeigt hatte, war ein weiterer Beweggrund, Polen endgültig zu verlassen. Von 1948 bis 1951 lebte Rajzel Zychlinski in Paris. Seit 1951 ist sie in Amerika. – Ruhe hat sie auch hier nur selten gefunden. Ihre beste Zeit, so erzählt sie mir, waren die ersten siebzehn Jahre nach ihrer Einwanderung, in denen sie in Manhattan lebte, lernte, studierte. Ihre Schulabschlüsse aus Osteuropa – nach der polnischen Volksschule hatte sie Unterricht bei einem Privatlehrer bekommen – wurden nicht anerkannt. So besuchte sie zunächst die High School, danach das New York City College und als sie die Zulassung zum Studium erreicht hatte, mit mehr als fünfundvierzig Jahren, erfüllte sich ihr Traum von einem Studium: an der New School for Social Research belegte sie die Fächer Englische Literatur und Philosophie.
In den sechziger Jahren erschienen in New York zwei weitere Bücher, 1962 der Band Schwajgndike tirn (Schweigende Türen) und 1969 Harbstike skwern (Herbstliche Plätze). 1977 wurde in Paris ihr für lange Jahre letztes Buch Di nowember-zull (Die Novembersonne) publiziert. Die 1981 im Leipziger Insel-Verlag von Hubert Witt übersetzte deutschsprachige Ausgabe mit dem Titel „Vogelbrot“ enthält Gedichte aus diesen Bänden. Zu den Erinnerungen an das Schtetl und den unauslöschlichen Holocausterfahrungen treten in den Gedichten aus der „Neuen Welt“ die Gestalten der Großstadt. Es sind die Farbigen, die Randexistenzen und Ausgestoßenen, die Alten und Verkrüppelten und immer wieder die Obdachlosen, denen die Lyrikerin – selbst am Rande der Gesellschaft lebend – sich einfühlsam wie unsentimental nähert.

Das Zusammenleben mit Menschen ist der Dichterin im Laufe der Jahre immer schwerer geworden. Gezeichnet von der Verfolgung wie Nelly Sachs in ihrem Schwedischen Exil, ist ihr ein normales Leben in einer Gemeinschaft von Menschen nicht mehr möglich. Ängste, die sie nie mehr verlassen haben, beherrschen die Nächte, den Gang unter Menschen, denen sie nicht mehr mit Vertrauen begegnen kann. In den zurückliegenden Jahren ist Rajzel Zychlinski an vielen Orten mehr zu Gast als zuhause gewesen. So lebte sie in Florida, in Kanada und vor ihrer Rückkehr nach New York in Berkeley, Kalifornien. Als dort 1989 das schwere Erdbeben Straßen und Häuser zum Einsturz brachte, hat die Dichterin ihre schmale Habe gepackt und sich in einen Zug nach Osten gesetzt. Diese letzte Flucht gleicht einer Metapher für ihr gesamtes bisheriges Leben: erschüttert hat sie sich erneut auf den Weg gemacht, immer auf der Suche nach einem sicheren Ort, der ihr zur Bleibe werden kann.
Als wir uns vorerst das letzte Mal sehen, sitzen wir zusammen in einer der vielen billigen Pizzerien am Brighton Beach. Wir haben viele Stunden miteinander verbracht, Rajzel Zychlinski die meiste Zeit davon ihre Gedichte lesend, meine Übersetzungen prüfend. Oftmals schien es fast ein unmögliches Unterfangen, einen gemeinsamen Nenner für ein jiddisches Wort, eine Redewendung, im Deutschen zu finden. Der neuen Auswahl mit Gedichten, die in den kommenden Wochen hierzulande erscheinen soll, sieht die Dichterin gespannt entgegen. Sie ist froh, daß es heute in Deutschland Menschen gibt, die sich für die Geschichte, die Kunst und die Literatur ihres Volkes interessieren. Ihre Hoffnungen sind vor allem auf die Jugend gerichtet. Während wir bei einem letzten Kaffee zusammensitzen, unterschreibt Rajzel Zychlinski die Blätter aus Büttenpapier, auf denen neben der eigentlichen Auswahl eine kleine bibliophile Ausgabe ihrer Gedichte gedruckt werden soll. Hundertmal setzt sie, deren Hand es schwer fällt, überhaupt noch zu schreiben, ihren Namen auf das Papier. Wir sind beide froh, als es geschafft ist, Rajzel Zychlinski schaut mich erleichtert und stolz an. „Wie schön wäre es, könnten jetzt meine Geschwister, meine Mutter mich sehen. Wie stolz wären sie auf mich!“ Das eben noch breite Lachen in ihrem Gesicht weicht plötzlich den Tränen. „Leser werde ich haben, dort, in Deutschland…“ Sie sammelt sich schnell, ist wie meist beherrscht: „Nun, nimm das Papier und schlepp’ es zu Dir nach Hause, nach Deutschland.“

Karina Kranhold, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 3, Juni 1996

„Und Gott hat verborgen sein Gesicht“

– Rechten mit dem Allmächtigen in der Tradition Hiobs: Ein Nachruf auf die jiddische Dichterin Rajzel Zychlinski. –

Rajzel Zychlinski, eine der größten Dichterinnen der jiddischen Literatur, hat das 20. Jahrhundert nur um wenige Monate überlebt. Sie starb am 13. Juni 2001 in Concord/Kalifornien. Geboren wurde sie am 27. Juli 1910 in dem polnisch-jüdischen Schtetl Gabin (Gombin). Ihr Vater, ein Gerber, hatte dreimal versucht, in Amerika heimisch zu werden und war 1928 in Chicago gestorben. Ihre Mutter, aus einer alten Rabbinerfamilie stammend, fürchtete für die Frömmigkeit ihrer Kinder und blieb in Polen zurück. Die Mutter, zwei Brüder und eine Schwester Rajzels sind in Chelmno und Treblinka ums Leben gekommen.
Rajzel Zychlinski arbeitete in einem Waisenhaus in Wloclawek und in einer Warschauer Bank. Und sie schrieb Lyrik: verspielte, idyllische, hintergründige, ahnungsvolle, in der sich Humor und Tragik, Sehnsucht und Trauer verknüpften. Sie durchlebte die Bombardierung Warschaus und den Einmarsch der deutschen Truppen, entkam in die Sowjetunion, überstand die letzten Kriegsjahre in Kasan, wo sie ihren Sohn Marek zur Welt brachte. Mit ihrem Ehemann Isaac Kanter, einem Psychiater und Essayisten, kehrte sie 1946/47 über Schlesien nach Polen zurück, siedelte 1948 nach Paris über und fand seit 1951 in den USA eine neue Heimat.
Neben ihrer Arbeit in einer Krawattenfabrik besuchte sie die Highschool, belegte Studienkurse in Biologie, Literaturkunde und Sozialwissenschaft und schrieb jiddische Gedichte, die mithilfe des jüdischen P.E.N und des jüdischen Kulturkongresses erschienen. Die Dichterin hat früh ihre eigene Stimme gefunden. Rachel H. Korn schreibt vom „Druck ihres inneren Imperativs, der sich durch äussere Bedingungen oder Forderungen nicht korrumpieren läßt“.
Von vielen jiddischen Autoren ist ihre Originalität gepriesen worden: die Besonderheit ihrer Bilderwelt; die Schlichtheit ihrer Worte, die sich mit poetischen Raffinement verbindet; die Einzigartigkeit ihrer freien Verse, die in der traditionsnahen jiddischen Lyrik äußerst modern wirkten. Ihre Texte, lyrische Miniaturen von oft nur wenigen Zeilen, wurden mit altchinesischer und altjapanischer Lyrik oder mit der Dichtung der französischen Surrealisten verglichen. Bei der Verleihung des renommierten Itzik-Manger-Preises in Israel hieß es, sie sei wie ein Meteor in der jiddischen Literatur aufgestiegen und sei zum dauerhaften Gestirn geworden. In einem ihrer Gedichte beschreibt sie die Art ihrer poetischen Inspirationen: als vulkanischen Vorgang, bei dem sich die Lava schließlich ins Steinern-Lapidare hin abkühlt. Und es heißt: ein Gedicht entstehe, wenn ein Gedanke von einem Blitz durchleuchtet wird. Viele ihrer Texte zeigen die Leuchtspur solcher Blitze, die das Gewohnte in ein neues, befremdliches Licht tauchen oder Trennwände durchschlagen. So können Gegenwart und Erinnern, Wirklichkeit und Traum, Irdisches und Kosmisches einander durchdringen.
Die tragische Erfahrung des Holocaust ist in fast allen neueren Texten zugegen. Wenn sie in der Tradition des biblischen Hiob mit dem Allmächtigen rechtet, dann werden ihr Silberwolken der Landschaft zum „grauen Star auf den blinden Augen Gottes“.
Die Dichterin hat zeitweilig am Meer gewohnt und oft über das Meer geschrieben. Ihr poetisches Ich durchwandert New York wie ein versunkenes Atlantis, wo Cadillacs und Fords als heulende Fische dahingleiten. Am 27. Juli, dem Tag ihres 91. Geburtstages, wird die Asche Rajzel Zychlinskis dem Meer übergeben werden, so wie sie es verfügte. Und jenes ihrer Gedichte wird gelesen werden, das ihr bis zuletzt nahe war: „Und Gott hat verborgen sein Gesicht.“
Ihre sieben Gedichtbücher heißen: lider (Gedichte), Warschau 1936; der regn singt, Warschau 1939; zu lojtere bregn (Zu klaren Ufern), Lodz 1948; schwajgndike tirn (Schweigende Türen), New York 1962; harbsstike sskwern (Herbstliche Plätze), New York 1969; di nowember-sun (Die Novembersonne), Paris 1977; naje lider (Neue Gedichte), Tel Aviv 1993. In Amerika erschien eine englischsprachige Edition ihrer Gedichte, an der ihr Sohn Marek als Übersetzer mitwirkte. Die bisherigen deutschsprachigen Ausgaben erschienen im Inselverlag, Leipzig 1981 (übertragen von Hubert Witt) und im Oberbaum Verlag, Berlin 1997 (zweisprachig, übertragen von Karina Kranhold). Eine Biographie (Dissertation) von Karina von Tippelskirch kam im Tectum Verlag, Marburg 2000, heraus. Eine umfassende Ausgabe der Gedichte (jiddisch & deutsch) wird vom Verlag Zweitausendeins für das Jahr 2002 vorbereitet.

Hubert Witt, Die Welt, 23.6.2001

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Internet Archive +
Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Kalliope

 

Rajzel Żychlinskis Gedichte gespielt von Stella & Ma Piroschka.

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