Ron Winkler: Prachtvolle Mitternacht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ron Winkler: Prachtvolle Mitternacht

Winkler-Prachtvolle Mitternacht

PROTOKOLL FÜR AUSSERHALB

wir hatten die Solarhämmer auf
den Strand gehirtet,
die Sonne tropfte fast
ins Meer, die Schaffnerin
verlangte unseren Sand
zu sehen, wir teilten
ihr dafür die Rispe, das war nicht viel
und zudem leise,
jedoch passierte noch viel mehr –
und zwar
auf dem Rest
dieses Planeten.

 

 

 

Der neue Gedichtband von Ron Winkler

beginnt mit einem Abgesang, einer Totalverweigerung, einem Boykott: „nicht mehr teilnehmen (…) nicht mehr Buchstaben zu etwas Aufgesplissenem ordnen. (…) nicht mehr an sich selbst // schreiben. oder anderen// jene neunzehnsilbigen Kosenamen ins Ohr flüstern, // die nackt machen, wenn man sie sagt.“ Um sich im Anschluss umso leidenschaftlicher in Buchstaben und Kosenamen, in „Zahlen und Figuren“ zu stürzen. Das jedoch tut er stets mit ironischer Distanz: „ist eine Rose // und also mehr als eine Rose // und also zugleich keine Rose mehr. nicht mehr. und auch: nie // mehr: nie mehr // nicht.“ Ron Winkler ist bewundert worden für seine „poetische Wandlungsfähigkeit“ (Michael Braun). Waren seine letzten beiden Gedichtbände Fragmentierte Gewässer und Frenetische Stille voller geschichtsphilosophischer Anspielungen und naturlyrischer Auskundschaftungen jenseits der Idyllik, wird er nun zum Minnesänger: „ich machte dir weiter den Hof, die Stirn, ich // machte dir die Wellen“; Winkler erzählt, so mag man Roland Barthes variieren, von der Defragmentierung einer Sprache der Liebe. Da darf Venedig nicht fehlen: Hier bewegen sich ein Ich und ein Du wie träumerisch durch die Stadt und die Begriffe, die mit ihr verwoben sind.

Schöffling & Co., Klappentext, 2013

 

 

Das Literaturhaus Berlin stellte am 13. und 14. Dezember acht LyrikerInnen und ihre aktuellen Gedichtbände vor. Ron Winkler liest aus Prachtvolle Mitternacht.

Nach der Geschichte keine Apperzeption

Es mag merkwürdig klingen, wenn man mit seinem Werk ein wenig vertraut ist, aber ich beginne, den Autor Ron Winkler, der 2007 mit Fragmentierte Gewässer als Post-Naturlyriker (Diskursnaturlyriker?) das Feld der deutschsprachigen Dichtung betrat, mittlerweile als politischen Künstler zu begreifen, der durch Worte die Worte selbst einem machtvollen und zeitgeistigen Zugriff entzieht – er macht das in zweierlei Richtung: Einerseits historisch, in dem er sie aus einer politisierten Geschichte rettet, und andererseits einer Zukunft zugewandt, in der er sie Verwirrung stiften lässt. Es ist eine politische Dichtung nach der Postmoderne, geschult an Subversion und Parodie, wohl wissend, dass Verständnis, wo es unmittelbar eintritt, für Verwirrung sorgen muss:

unter Umständen findet sich hinten im Laden
noch ein kleiner Stapel Idylle

heißt es im Text „MAXIMEN AUF EINEM BASAR JENSEITS DER ZEIT“. Einer Reihe von sechs eher aphoristischen Texten.
In seinem vierten Gedichtband Prachtvolle Mitternacht zieht Ron Winkler anfangs ein Fazit. Die Welt, so scheint es, hat sich ausbuchstabiert und begegnet sich selbst im Gedicht als Gedicht. Als eine Sammlung offener und verdeckter Zitate und Referenzen. Was mit Gertrude Stein begann, scheint hier seinen Abschluss zu finden:


aber und ist eine Rose
und also mehr als eine Rose
und also zugleich keine Rose mehr. nicht mehr. und auch: nie
mehr: nie mehr

nicht.

Ich schreibe: scheint einen Abschluss zu finden, denn es geht natürlich weiter. Und um sich erkennbar zu halten, bildet der Text Neologismen aus, Winklersche Wortbildungen, die zuweilen schon einmal angestrengt wirken, in diesem Band aber wesentlich dezenter als in den vorangegangenen, als verlören die Texte ihre Schutzbedürftigkeit und gewännen an Souveränität:

der Wald entspricht genau dem Sendegebiet.
die meisten von uns holen und halten sich Farben, um sich
mit Mao zu bemalen.

(„SCHEDULAMASU SAGT“)

Und wo die Texte Erholung brauchen, werden sie Liebeslyrik und gehen in historisierendem Gewand durch Venedig. Ich hatte bei der Lektüre das Gefühl eines Durchgangs, eines Wechselbades aus jugendlichem Ungestüm und erfahrungssatter Weisheit, eine eigenartige Lektüreerfahrung, für die ich dem Autor äußerst dankbar bin.
Das erste Gedicht „Prospekt“, das geschickt mit der Doppelbedeutung aus Werbeanzeige und Prachtstraße spielt, hier finden sich, wie an anderer Stelle auch, Reminiszenzen an den Russischunterricht und das Vokabular der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft, mag Momente eines Abgesangs bergen, aber viel mehr ist es Verneigung vor Kollegen und Versicherung einer literarischen und regionalen Herkunft zugleich. Und während erstere, die literarische Herkunft also, Bestand zu haben scheint, muss letztere sich einer politischen Hülle entledigen, die Lebenswelt  sich gegen die Systemwelt abschotten, da das System, auch wenn es vergangen scheint, nicht müde wird, einen Zugriff zu versuchen. Es bewegt sich durch alle Zeiten und wird in den Texten mal mehr und mal weniger durchgespielt, am meisten natürlich in den Kindheitstexten, in denen dem Protagonisten das politische System noch nicht Begriff ist.
Aber immer wieder finden sich auch Strophen politischer Direktheit, wie diese, die zweite Strophe aus dem Text „Familie und Gesellschaft“:

Ich kann in deinem Schäfer-
hund bei Gott
keinen Homer erkennen,
bloß weil er auf einer von Stehpulten
umzäunten Koppel lebt.

Das ist wie gesagt die eine Seite, die andere etwas abgedrehte sprachspielerische, die Winkler bislang ausmacht, bleibt natürlich auch vorhanden. Der Band ist kein Winkler nach Winkler, auch wenn ich hier auf das Politische besonderes Augenmerk legte. Er holt sich Winkler selber zurück auf eine fast rührende Weise, indem er in einigen Texten die disparate Weltwahrnehmung des Kindes zelebriert.

hier blühte Strom aufs beinah Schönste.
wir Kinder im Halbkreis standen
uns die Hüfte in den Bauch. im Flur zum Garten
die Hummelnestlatschen – sie brummten.

(„ERINNERUNGEN AUF BASIS DES BISHER GELEISTETEN VERGESSENS“)

Es ist das Disparate, das diesen Band anziehend macht, jenes sich Entziehen einer vereinheitlichten Erfahrung durch Sprache.

Jan Kuhlbrodt, signaturen-magazin.de

Doppeltes Ich

Es ist noch nicht allzu lange her, da war Nico Bleutge mit seinem Gedichtband verdecktes gelände im Lyrik Kabinett zu Gast. Besonders bemerkenswert ist Bleutges lyrisches Ich, das sich gleichsam in die Wahrnehmung vorverlagert, sich höchstens noch in Überschreibungen anderer Ichs adressiert. Ansonsten bleibt es wahrnehmbar allererst als das Medium, durch das die Anschauung des Verdichteten hindurchfließt und das mit Erinnerungs- und Gedächtnisbildern in einen Austausch tritt. Ist dieses Ich nun ein schwaches oder vielleicht doch ein äußerst mächtiges und vitales? Es sind solche Fragen, mit denen sich die Gegenwartslyrik spätestens seit Einbruch der Moderne immer wieder und mit hin und wieder überraschenden Antworten befasst und schreibend ringt.
Während durch die Kanäle des Bleutge’schen lyrischen Ichs Naturbilder und -töne im Wechsel mit Zivilisationsresten hindurchfließen, treibt Ron Winkler in seinem jüngsten Band Prachtvolle Mitternacht ein vergleichbares Spiel mit dem Ich, wenngleich mit anderem Fokus. Seine Gedichte sind nicht selten Sammelbecken für Zitate und poetologische Prämissen der lyrischen Tradition, von denen es sich in der Auseinandersetzung gleichwohl wieder abzustoßen gilt. Winkler demonstriert das gleich mit dem ersten Gedicht des Bandes eindrucksvoll: „Prospekt“ ist regelrecht gespickt mit Anspielungen auf die Gedichte von Paulus Böhmer (kein Kaddisch), Jan Wagner (Australien), Uljana Wolf (nur vielleicht noch ein bischen Aufwachraum), Daniela Seel (eine wiedergefundene Stelle), Paul Celan (das Schwielentheater östlich von Paul Celan), Gertrude Stein, und darin einmal mehr Celan („sagen: ich bin gezählt. / aber und ist eine Rose / und also mehr als eine Rose / und also zugleich keine Rose mehr, nicht mehr. und auch: nie / mehr: nie mehr / nicht“), wiewohl nicht selten in der Verneinung. Auch in Winklers Gedicht bleibt das Ich weitgehend im Hintergrund, eingehüllt in das Gewirr fremder Stimmen und damit lustvoll experimentierend wie ein Kind mit den Kostümen aus einer riesigen Verkleidungskiste, irgendwo hängend zwischen Bejahung und Verneinung und Bejahung der Verneinung, und, wir wissen ja: „Minus und Minus ergibt wieder Plus“. Anders gesagt, auch aus Verwerfungen kann ein Gedicht entstehen, ein Lied, sogar Liebeslieder an Städte wie Hamburg oder Berlin oder Buenos Aires oder Paris, und plötzlich schleicht sich in Winklers Verse auch die Liebe zu einem Du hinein, mit dem man die „Bloodymaryness des Abends“ betrachten und mit Reminiszenz an Novalis wieder romantisch werden kann:

deine unregelmäßigen Küsse, so nah
dem Schlüssel
aller Kreaturen

Ron Winklers neuer Gedichtband birgt Gedichte und Prosagedichte, in denen von Ferne noch Rimbauds Illuminationen anklingen. Es sind Gedichte, die das Spiel mit dem Ich, mit dem Du, mit der Sprache lieben, da gesellen sich Ammen und Immen, und man sollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, diese Gedichte gelesen zu hören, denn Verse wie „Dritter Splitter aus der Liebe“ wollen klingen und dabei auf offene Ohren stoßen, sind die richtige Sprachumgebung für „Personen mit diskontinuierlicher Heimat“ und mit Lust an der Komik, welche man ja nicht unweigerlich in der Lyrik zuerst vermuten würde.

Beate Tröger, Klappentext, Heft 62, September 2013

Hier fällt der Regen himmelwärts

– Ron Winkler flaniert über den Prospekt der Poésiephilie. –

Einen „Prospekt“ – wie die Prachtstraße von St. Petersburg oder die Schauseite einer Orgel – nennt Ron Winkler den Introitus seiner neuen Gedichtsammlung Prachtvolle Mitternacht. Und wenn er nicht die Petersburger Magistrale oder den Orgelprospekt meint, dann denkt er vielleicht an den Lagebericht eines Unternehmens, das den Börsengang plant; an eine Werbeschrift, den Faltprospekt, denkt er wohl weniger. Aber immer darf man bei Winkler vermuten, dass mehrere Bedeutungen sich zu einem Geflecht verknüpfen, aus dem eine eigene und neue Lexik entsteht.
Dieser prospekthafte Introitus ist eine Wucht, eine Absage an alles, was war: „nicht mehr teilnehmen“, „nicht mehr fast alles, nicht mehr weil“. Selbst die Kausalität soll ausgehebelt werden. Hier klingt etwas an von der Radikalität der dadaistischen Manifeste hundert Jahre zuvor. Wer da antritt zur Geisterstunde, zur prachtvollen Mitternacht, will auch, steht da, nicht Kaddisch beten oder sich etwa an Australien erinnern. Und da Australien nicht gleich am Weg des 1973 in Jena geborenen, in Berlin lebenden Dichters und Übersetzers liegt, darf man fast vermuten, dass hier auf Jan Wagners Gedichtband Australien (2010) angespielt wird oder eher noch auf das von Fernando Pessoa stammende Motto „Man ist glücklich in Australien, sofern man nicht dorthin fährt“.
„Kein Lichtschmerz“, „Keine sinnlose Vervielfältigung von Bewegungen mehr“, „Weniger Herzschläge auch in einem Weniger von Chronodynamik“, aber auch „Nie mehr“ oder wahlweise „Nie mehr / nicht“. Dies alles propagiert der „Prospekt“, und es reizt den Leser durchaus, sich auf ein solches Programm einzulassen, ehe man sich den folgenden „Capricen“ und „Morphotica“ des Bandes hingibt. Warum aber, so begehrt der Rezensent auf, darf „das Gedicht zwischen Schmetterling und Untergang“ nicht mehr sein. Es entstamme, so insinuiert Ron Winkler, dem „Schwielentheater östlich von Paul Celan“. Mit deutschen Schriftstellern östlich von Paris, mit Hans Werner Richter und der Gruppe 47 hatte Celan wenig Glück. Niemand würde ihm heute mehr streitig machen, am Börsengang der Poesie teilzunehmen oder auf den Prospekten dieser Welt zu flanieren.
Winkler spricht spätestens seit den Bänden Fragmentierte Gewässer (2007) und Frenetische Stille (2010) seine „eigene Sprache“, die nichts abbilden will, sich aber ständig mit „unserer“ Sprache verknüpft oder mit den „Gedanken des Piloten bei eingeschaltetem Autopilot“. Der wünscht sich einen „Regen nach oben“ und kann den Duft weißer Wolken riechen. Damit sind die Wahrnehmungsgewinne einer Sprache benannt, die über den Ozeanen manchmal für Stunden „frei von den Kontinenten“ ist und für Neubildungen offen. Das erweitert die Ausdrucksmöglichkeit im Land der „Poésiephilie“. Wer „eine Sammlung aus Wasser“ angelegt hat, kann im Gedicht „Visite im Haus des verirrlichterten Denkens“ gern auch ein „Tauchen“ besitzen oder in „Spätes Blau mit Seegras“ aus Horizont ein eigenständiges Substantiv „Zont“ bilden. Das Sezieren oder Tranchieren von Wörtern hat Thomas Kling schon gelehrt.
Es zählt zu den bezaubernden Überraschungen dieses Gedichtbands, dass Ron Winkler zwar offenkundig viel über Techniken der Erneuerung poetischer Texte nachdenkt, es aber nahezu immer versteht, seine Gedichte nicht zu Versuchsanordnungen werden zu lassen. Die „Bloodymaryness des Abends“ oder ein umgangssprachliches „die wir am Durchsegeln sind“ – dies alles fügt sich geschmeidig und wie mühelos in perfekte lyrische Gebilde.
So gelingen Ron Winkler seidene Wortgewebe und Melodien wie seine „Serenade“:

ich denke daran, wie Streichinstrumente
auf Rosshaar spielen,
ich denke an die Flügel geflügelter Worte,
an die Engelszungen der Teufelskreise, denke
an die Form der Lungen eines langen Gedichts

Da ist es wieder, das von Walter Höllerer vor vielen Jahren propagierte „Lange Gedicht“. Nun ist es ganz kurz, aber es hat ein eigenes Pneuma.

Herbert Wiesner, Die Welt, 31.8.2013

Winklers vierter Gedichtband – kombinalgenial wie immer,

mit einigen kleineren Abstrichen

der Himmel.

ein kleines Blau huscht durch die Vaterschicht
aus Wolken.

durchquert mich. eine Silbe aus Licht.

Es scheint im Werk des Dichters Ron Winkler keinen Konsens der Dinge zu geben, der nicht eine leichte Schräglage aufweißt, eine leichte Abkehr, von den sprachlichen Hauptverkehrszeiten und -adern. Dadurch ist es ihm in seinem viertem Gedichtband mal wieder gelungen, ein ganz eigene, anregende Verschmelzung aus Sprache und Poesie zu begehen – allerdings ist leider auch abzusehen, dass dieses Konzept langsam einer Betrachtung und einer Wandlung unterzogen werden muss, damit es sich nicht verselbstständig und wenn Winkler als Dichter präsent bleiben will.

fragt jemand nach dem Lexikon,
aaweise ich in jede Richtung, die mir noch bekannt
aaaaist.

„Ich suche nach Sehnsucht“, heißt es am Ende eines Gedichtes von Pablo Neruda und dieses einfache Bild hat bei ihm eine hypnotische Kraft. Sogleich stellt man sich einen Mann vor, der Schubladen durchwühlt, jeden Brief rasch öffnet, der ganze Nächte durchwandert und überall am Wegesrand in das regennasse Dickicht blickt, der sucht und sucht… Die Kraft der Wendungen, Wörter, von denen langläufige Bilder und Vorstellungen ausgehen, ist eine wichtige und die am meisten unterschätzte Idee der Lyrik. Unterschätzt, weil sie eine sensible Aufmerksamkeit verlangt und weil das Vertrauen in die Worte, die Sprache, so groß sein muss, dass die Imagination immer wieder ihrem Ruf folge leistet.

die Bäume neigen sich in die gischtförmige Luft,
die einer der Scheitelpunkte ist
von dem, was sie umgibt.

Dann entstehen allerdings jene unwillkürlichen Momente, die sich schlagartig in einer Gedichtzeile ausdehnen, die Gedichte zu etwas Lebensweltlichem machen, einer Ahnung, viel größer und klarer als eine Gewissheit, mehr gewiss denn faktisch.
Ron Winkler hat, wie viele zeitgenössische Dichter, den Schwerpunkt dieser Offenbarungen etwas verschoben. Wenn Neruda „Suche“ und „Sehnsucht“ kombiniert, ist das eine sehr einfache Konstellation und nur die Hinführung, die Stelle, an der es im Gedicht kommt und der Ton von Nerudas Versen, macht daraus jenen bedeutsam-stillen Raum des Poetischen, der alle Möglichkeiten dieser Kombination enthüllt. Die Möglichkeiten zu enthüllen ist, denke ich, auch Winklers Intention; aber für ihn erwächst sie nicht aus einer behutsamen Hinführung, sondern aus einem behänden Spiel der Sprache, in dessen Verlauf die Kombinationen der Worte ihre eigene Poetik entwickeln, welche meta-kreativere Wurzeln hat, als Nerudas schlichter Spruch.

wir alle wissen: das Symbol für Moos liegt unter Tränen.
und nur ein Montag schaltet das Paradies
um einen Gang zurück.

und in das Rosa, knospend am Horizont, sagt jemand:
lieb mich wie das Konto der Vereinten Nationen.

Wo ihm Passagen wie diese gelingen, ist das wahrlich ein Genuss und wer gegen jede Art zeitgenössischer Poesie schimpft, muss nur jene erste Zeile „wir alle wissen…“ lesen, um zu verstummen.
Leider kann dieses Spiel der Kombinatorik, der Sprache, die nie verweilt und immer wie ein Hofnarr für den nächsten Streich, den nächsten Witz, mit einer neuen Wendung bereit sein muss, auch nicht immer gelingen und dann sind Gedichte, die in diesem Stil geschrieben wurden, leider sehr nervenaufreibend. Vereinzelte Passagen wie diese:

Ich fahre meist zwei oder drei Taxis zugleich. am liebsten
chauffiere ich Kamelmilchproduzentinnen
von einer Straßenseite zur anderen. Sie verstehen schon,
der Geruch.

senken sich wie eine Schranke vor die eigene Aufnahmefähigkeit. Und sie verstärken leider auch das Misstrauen, welches man Gedichten entgegenbringt.

der Koch nennt das Menü, das wir sind, einen Wigwam
aus Tod…

Gott sei Dank haben diese Schranken, in diesem vierten Band zumindest, noch nicht überhand genommen. Ich beurteile auch deswegen den Band mit 5 Sternen, weil man von keinem Dichter erwarten kann, dass er einen durchweg guten Gedichtband schreibt; und solange ihm Zeilen gelingen wie diese:

schreibe ich, erzeuge ich Unterholz
gegen die Wirklichkeit

liest man den ganzen Band mit Anregung und Gewinn und kann Ron Winkler immer noch als sehr guten Lyriker bezeichnen. Seine beschleunigte, sensorisch-natürliche Weise der Wortwahl hat eine hypnotische und unprätentiöse Art mit den eigenen Assoziationen wie mit Legosteinen oder Fragmenten einer großen Realitätsvorstellung zu spielen. Eine Kunst, die so vielen seiner Zeilen eigen ist und seine Texten auch in einem hohen Grad zur erneuten Lektüre empfiehlt.
Und auch wenn es eine in die Jahre gekommene Vorstellung zu sein scheint, dass Gedichte auch bezaubern müssen oder schön sein sollen, sondern heute vielmehr Genialität, Kühnheit und kreative Offenbarungen gefragt sind, so muss ich doch auch sagen, dass manche Gedichte und Wendungen Ron Winklers einfach „schön“ sind (natürlich auch wegen der Genialität der Metaphorik):

von deinen Schenkeln her kam Aristokratie
zum Vorschein, wie malerisch
die Bloodymaryness des Abends

Letztlich kann ich diesen Gedichtband also, mit kleineren Vorbehalten, nur empfehlen. Gespannt bin ich allerdings, was als nächsten kommen wird. Das Konzept hat seine Licht- und seine Schattenseiten, wie die Dichtkunst jeder Epoche und jedes Stils. Trotzdem bleibt die Frage, ob Wandlung in Aussicht ist…

und das Meer war grau wie ein verflossenes
Ideal. und rauschte
wie schon das letzte Jahrhundert.

Timo Brandt, amazon.de, 15.9.2013

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Paul-Henri Campbell: Prachtvolle Mitternacht von Ron Winkler
dasgedichtblog.de, 28.7.2014

Christophe Fricker: Dichterbriefe
dasgedichtblog.de, 1.4.2016

Am 1.4.2014 sprachen Hendrik Rost und Ron Winkler unter der Überschrift Kontrastprogramm in der literaturwerkstatt berlin mit Insa Wilke über ihre Bücher und ihr Schreiben.

 

 

 

RON WINKLER

ordinör maritimes mallör

da schaut
schwimmt als rotbarsch
ein rotarsch in die grüne
reuse hockt im fanggehäuse
knurrhahnglucke
angefressen
halbverdaut

Peter Wawerzinek

 

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ron Winkler

 

Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.

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