Tadeusz Różewicz: Poesiealbum 299

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tadeusz Różewicz: Poesiealbum 299

Różewicz/Lewkowicz-Poesiealbum 299

GERETTET

Ich bin vierundzwanzig
und entkam
als ich zum Schlachten geführt ward.

Das sind leere und eindeutige Namen:
Mensch und Tier
Liebe und Haß
Freund und Feind
Schatten und Licht.

Menschen werden erschlagen wie Tiere
denn ich sah:
Fuhren zerhackter Menschen
die keiner jemals erlöst.

Begriffe sind nur Worte:
Tugend und Frevel
Wahrheit und Lüge
Schönheit und Häßlichkeit
Tapferkeit und Feigheit.

Gleichviel wiegen Tugend und Frevel
ich sah:
den Menschen der zugleich
frevelnd und tugendhaft war.

Ich suche einen Lehrer und Meister
daß er mir zurückgebe Augen Gehör und Sprache
daß er alle Dinge aufs neue benenne
daß er mir scheide Licht von der Finsternis.

Ich bin vierundzwanzig
und entkam
als ich zum Schlachten geführt ward.

Übersetzt von Günter Kunert

 

 

 

Stimme zum Autor

Nach dem Kriege ist über Polen ein Komet der Poesie niedergegangen. Kopf des Kometen ist Tadeusz Różewicz, der Rest ist Schweif.
Stanislaw Grochowiak

Polnische Kritiker nennen seine Gedichte das Geflüster, welches Schrei wurde, oder auch Lyrik der gewürgten Gurgel… Seine Gedichte sind wie Salzsäulen, Mahnmale des Gedächtnisses, entstanden aus Rückwärtsschauen und Nichtvergessenkönnen.
Karl Dedecius

Die Distanz zur sprudelnden Kulturszene war gewollt. Sie war der Preis, den der Dichter für ein konsequentes Werk entrichtete. Kein gartantueskes Amüsement, keine „Pfade der Gesundheit“, die seine trinkfesten Kollegen unter fröhlichen Sprüchen von Kneipe zu Kneipe führten.
Henryk Bereska

 

Różewicz, der Europäer aus der Provinz,

erwies sich als Gesetzgeber des poetischen Kanons nach dem zweiten Weltkrieg in Polen. Das hat ihm der Gegenkandidat für diese Rolle, Chesław Miłosz, in einer frühen Ode prophezeit.
Heinrich Olschowsky

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2012

Poesiealbum 299

Als Flüstern, das zum Schrei wurde, galten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Gedichte des 1921 unweit von Lódz geborenen Polen Tadeusz Różewicz, der sich trotz seiner Beteiligung am Widerstand als einen „dem Schlachten zufällig Entkommenen“ erlebte. Erschüttert darüber, was Menschen Menschen antun, zwang er sich zu einer Poesie karger Gefühle und nackter Worte, frei von leugnerischen Lügen und irrführendem Schein.

Aus Tomas Tranströmer: Poesiealbum 298, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2012

 

Pathetischer Scherz

− Über Tadeusz Różewicz. −

In einem anderen Sommer in einem anderen Land lernte ich Tadeusz Różewicz kennen. Bei diesen internationalen Poesietagen waren viele Dichter. Man war acht Tage zusammen, aber von manchem wußte man noch gegen Ende dieser Zeit nicht, aus welchem Land er war und wie er hieß. Es gab exotische Gestalten. Idealische Jünglinge, Typ 20. Jahrhundert, solche, die wie Genies aussahen. Es gab laute Leute, geschäftige Leute, die ihre Verse bei jeder Gelegenheit deklamierten, solche, die sangen, andere, die tranken.
Tadeusz Różewicz fiel mir in diesem südlichen Land durch seine weiße Seglermütze und durch seine Zurückhaltung und Freundlichkeit auf. Er hatte ein so wohlwollendes Lächeln! Weiter fiel mir auf, daß ihn jüngere Dichter aus sehr verschiedenen Ländern, wenn nicht schüchtern, so doch ehrerbietig um Autogramme baten oder fragten, ob sie ihm ihre Bücher widmen dürften. Erst gegen Ende dieser Poetenreise erfuhr ich den Namen des freundlichen Mannes. Und war bestürzt: So hatte ich mir den Dichter jener Verse nicht vorgestellt, die ich in dem Band Gesichter und Masken gelesen hatte. Das Buch hatte mich mit der Macht wirklicher Poesie ergriffen, und über das Schicksal seines Autors hatte ich oft nachgedacht: Wie kann heute die Haltung eines Mannes sein, der eine so furchtbare Jugend, Tod und Haß überlebt hat. Wie ist sein Verhältnis zu den Menschen und erst recht zu den Deutschen? Ist er bitter? Ich stellte ihn mir als hageren, strengen Mann vor.
In jenem Land hatten wir noch ein paar Gespräche, tauschten unsere Adressen und fuhren heim. Ich schrieb ein Gedicht, das ich ihm widmete, aber bis heute, aus Respekt vor Różewicz, nicht veröffentlicht habe.
Wir korrespondierten über dies und das, über die Arbeit natürlich, erzählten uns, wie wir lebten, wohin wir reisten. Ich las sein Prosabuch In der schönsten Stadt der Welt mit der auf dem Nullpunkt handelnden Geschichte des jungen Mannes, der nach dem Krieg, gegen und für all das, was er vom Menschen weiß, eine neue Philosophie sucht. Ich las den Kurzroman Der Tod in der alten Dekoration. Wieder und wieder las ich seine Gedichte. Wir trafen uns in Berlin, wir trafen uns in Warschau. Różewicz war immer freundlich, immer hatte er sein so wohlwollendes Lächeln. Aber dieses Lächeln ist nur der Ausgleich für die Schärfe seines Blicks. Er kennt alle Denkklischees, alle Verhaltensklischees, alle Lügen der Konvention, man kann nicht Konversation mit ihm machen. Höflichkeiten, die Phrasen sind, sind mit ihm unmöglich. Man kann schweigen, aber man darf nicht lügen. Er hat Gedichte geschrieben, die für mich zu den schönsten in der Poesie unserer Zeit gehören. Das Gedicht von den alten Frauen. Das Gedicht über die Eindeutigkeit der Sprache. Gedichte, die ausdrücken, was Menschen in der Mitte dieses Jahrhunderts denken und fühlen, und deren Ausdruck diesen Gedichten und Gefühlen genau angemessen ist. Lakonisch. Schmucklos. Ohne die Stimme zu heben, schreit er. Er schreit um den Menschen.
Im vorletzten Winter erst lernte ich seine Stücke kennen, über die ich gelesen, von denen ich oft gehört hatte. Da ich nicht polnisch verstehe, mußte ich lang auf sie warten, so lange, bis bei uns die Übersetzungen von acht seiner Dramen erschienen waren. Wie bei allen Arbeiten von Różewicz, die ich bis dahin gelesen hatte, war die Lektüre der Stücke ein Schock. Ein Schlag. Tagelang ging ich wie im Fieber umher und hatte Mühe, mich zu erheben.
Picasso hat irgendwann gesagt, er male seine Bilder nicht als Wandschmuck. Różewicz’ Stücke sind nicht zur Unterhaltung gemacht. Etwas wird in uns aufgerissen, und das schmerzt. Man möchte schreien: so sind wir nicht. So sind die Menschen nicht. Natürlich: so nicht. Denn das ist Kunst und nicht fotografierte Wirklichkeit. Das ist ganz gegenwärtig und geht doch gleichnishaft über uns hinaus. Wenn das in einen eingedrungen ist, muß man sich stellen – bekennen oder lügen. An den rücksichtslosen Fragen von Różewicz kommt man nicht vorbei. Dieser Mann mit dem so wohlwollenden Lächeln ist einer der strengen Moralisten unserer Zeit. Er lebt schwer, lebt aber ein „ganz normales Leben“ – wie im 19. Jahrhundert, sagt er lächelnd mit seiner Familie in Wrocław. Gelegentlich reist er, flüchtet aus seiner im Lärm liegenden Stadtwohnung in eine Stille, um zu arbeiten. Vor großen Reisen schreckt er zurück. (Man lädt ihn in fernste Weltgegenden ein, denn er wird überall gedruckt und gespielt.) Seine weitesten Reisen gingen bis zum Vorjahr nach Italien, Frankreich und England.
Die Italienerfahrungen wurden auch für Różewicz zum literarischen Fundus.
Er nutzt ihn anders als andre. Mit negativem Vorzeichen gewissermaßen. In dem Stück Die Laokoongruppe, das er eine „Skulptur in Marmelade“ nennt, macht er sich über Bildungsklischees und Lebensleere polnischer Intelligencia her – mit einer Erbarmungslosigkeit, einem Geist, einem schwarzen Humor, dem sich in unserer Literatur kaum etwas vergleichen läßt. Różewicz schätzt dieses Stück weniger, weil er, seiner Meinung nach, zu viele Konzessionen an die Konventionen des Theaters gemacht hat, aber ich würde es gern auf unseren Bühnen sehen. Es müßte sich glänzend spielen lassen, und es müßte uns, wie nach Maß gemacht, passen.
Auch Der Tod in der alten Dekoration ist ganz „italienisch“, die Geschichte „In der Diplomatischen Vertretung“ spielt ebenfalls in der „sogenannten ewigen Stadt“ – aber auch Paris ist in seiner Literatur, die „schönste Stadt der Welt“: die Titelerzählung des Spektrum-Bandes, das ist Paris.
Die Geschichte, die Różewicz erzählt, vernichtet das Klischee der Überschrift. So ist es immer, so ist Różewicz immer, er ist einer von denen, denen man nachsagt: sie können nicht anders.
1975 ist er, zur Aufführung seines jüngsten Stückes, Weiße Hochzeit, nach Amerika gereist. Eine Einladung dorthin hatte er seit langem. Aber er hatte keine Lust, die hundert Worte Englisch zu lernen, zu denen man ihm als Grundbedingung riet. Sein Sohn, der Anglist, hatte sich erboten, mit ihm zu trainieren. Jahrelang wurde es verschoben, nun ist Rozewicz doch gereist, um sich das anzusehen, und ich möchte ihn gesehen haben, wie er, wohlwollend lächelnd, den berühmten Straßen, Plätzen und Weltwundern Maß nahm. Von seinem Englandbesuch, bei dem er kein Wort der nötigen Sprache sprach, hat er mir seltsame Sachen erzählt…
Geboren wurde Różewicz 1921 in Radomsko, einer Provinzstadt bei Łodz, sein Vater war Angestellter. Różewicz absolvierte das Gymnasium, nahm als Mitglied der Landesarmee am Partisanenkampf teil, nach dem Krieg studierte er Kunstgeschichte.
In dem frühen Gedicht „Aus dem Lebenslauf“ schreibt er:

Geburtsjahr
Geburtsort
Radomsko 1921

so
auf dieser Seite
aus dem Schulheft meines Sohnes
findet mein Lebenslauf Platz
ein wenig Raum bleibt noch
einige weiße Flecken bleiben

nur zwei Sätze habe ich getilgt
aber einen hinzugefügt
ein paar Worte dazuschreiben
werde ich nach einiger Zeit

fragst du nach wichtigeren
Ereignissen und Daten
aus meinem Leben
frag die andern danach

mein Lebenslauf hat schon
mehrmals aufgehört
einmal besser einmal schlechter

Aber in dem Gedicht „Gerettet“ heißt es:

Ich bin vierundzwanzig
und entkam
als ich zum Schlachten geführt ward.

Das sind leere und eindeutige Namen:
Mensch und Tier
Liebe und Haß
Freund und Feind
Schatten und Licht.

Menschen werden erschlagen wie Tiere
denn ich sah:
Fuhren zerhackter Menschen
die keiner jemals erlöst.

Begriffe sind nur Worte:
Tugend und Frevel
Wahrheit und Lüge
Schönheit und Häßlichkeit
Tapferkeit Feigheit.

Gleichviel wiegen Tugend und Frevel
ich sah:
den Menschen der zugleich
frevelnd und tugendhaft war.

Frage der Fragen für Różewicz: Wie kann die Stellung des Menschen, nach dem Ungeheuerlichen, das mit ihm und durch ihn geschah, und in welchem Wertsystem kann sie wieder befestigt werden? Wenn der Gottglaube verloren ist, wenn die in Gottes Namen erlassenen Gebote unwirksam waren – das Du sollst nicht töten millionenfach verhöhnt −, welches Gesetz kann den Menschen vor dem endgültigen Sturz in die Vernichtung bewahren? Różewicz glaubt nicht an einen mechanischen Fortschritt, an eine automatische Weiter- und Höherentwicklung. Er fürchtet, daß Wiederholungen nicht unmöglich sind.
Thomas Mann hat 1949 in Weimar von seiner Hoffnung gesprochen, „daß aus den Leiden und Nöten dieser Übergangszeit ein neues menschliches Solidaritätsgefühl, ein neuer Humanismus hervorgehen könnte, ein neues, tiefes, ja religiös getöntes Gefühl für das Hoch-Schwierige, Einmalige und Außerordentliche der Stellung des Menschen im All…“ Sergej Obraszow hat es in der Einleitung seines großen Dokumentarfilms lakonisch gesagt:

Ein Mensch ist nicht weniger als zwei Menschen.

Różewicz wirft sich mit seinem ganzen Werk der Entwertung des Menschen entgegen, die in einem kollektiven Unterbewußtsein schwört und in Abgründen lauert, die mit willigen, billigen Worten gewöhnlich bedeckt sind. So entwirft er seine Poetik.
Nicht allein lassen mit ihrer Leere dürfen wir die Leute. Wir müssen den Menschen wieder sehen, in ihn hineinsehen lernen, von Grund auf müssen wir ihn und unsere Bindungen neu suchen und bestimmen.
Różewicz ist nicht ohne Anfechtungen. Die selbstgegebenen Gesetze muß er gegen sich, gegen seine Zweifel und Verzweiflungen verteidigen. So im „Pathetischen Scherz“.

Nicht an die Nachkommen
es hat doch keinen Sinn
vielleicht werden sie Ungeheuer sein
die hohe Kommission
warnt die Staaten
Throne und Kanzleien
ausdrücklich
es würden hirnlose
Ungeheuer kommen

Also nicht an die Nachkommen
sondern an die
die sich soeben
vermehren
mit geschlossenen Augen

nicht an die Nachkommen
richte ich meine Worte

Ich spreche die Politiker an
die mich nicht lesen
die Bischöfe
die mich nicht lesen
die Generäle
die mich nicht lesen

die sogenannten „einfachen Leute“
die mich nicht lesen
ich spreche alle an

die mich nicht lesen
nicht hören nicht kennen
nicht brauchen

Sie brauchen mich nicht
ich aber

Dieser abgebrochene Satz, dieses „Ich aber…“ ist für mich ein Heldengedicht. Es umfaßt Różewicz’ Wissen um Abgründe, seine Illusionslosigkeit, sein Bedürfnis nach Bindung, seine Verteidigung des durchschnittlichen Menschen, um dessen würdiges, vernünftiges Dasein es ihm geht.
Ob in seiner Lyrik, seiner Prosa, seinen Stücken: Różewicz analysiert mit Radikalität die Zeitverhältnisse – die zeitlichen Verhältnisse des Ewigen, das es für ihn nicht gibt. Tröstliche Lügen lehnt er ab. Er will mit der Wahrheit leben, und er nimmt sich das Recht, seine Wahrheit, ohne Rücksicht auf Kunst- oder Lebenskonventionen, auszusprechen.
Sein Werk ist schon umfangreich. Fünfzehn Gedichtbände, ein Dutzend Stücke, mehrere Bände Erzählungen, Essays. Gewiß hat es im Weltbewußtsein vieler Menschen an vielen Orten etwas bewirkt:

MEINE LYRIK

übersetzt nichts
erklärt nichts
verzichtet auf nichts
umfängt nicht das Ganze
erfüllt keine Hoffnung

Schafft keine neuen Spielregeln
nimmt an keinem Vergnügen teil
sie hat einen bestimmten Platz
den sie ausfüllen muß

wenn sie kein Rätsel ist
wenn sie keine Originalität hat
wenn sie nicht Erstaunen erzeugt
dann muß es so sein offenbar

sie gehorcht eigner Notwendigkeit
eigenen Möglichkeiten
und Schranken
sie unterliegt sich selbst

braucht nicht den Platz einer andern
und kann von keiner andern ersetzt werden
offen für alle
geheimnislos

sie hat viele Aufgaben
die sie nie erfüllt.

Eva Strittmatter, aus Helmut Baldauf (Hrsg.): Schriftsteller über Weltliteratur. Ansichten und Erfahrungen, Aufbau Verlag, 1979

Begegnungen mit Różewicz

Die erste Begegnung war Lektüre, 1995 in einem Breslauer Studentenwohnheim. Es war eisig, der Winter war früh gekommen. Die Universität war mit ihren Zahlungen im Rückstand und bekam deshalb vorübergehend keine Fernwärme, die Professoren hielten ihre Vorlesungen im Mantel. Auch das Wohnheim blieb kalt, ich saß in der dunklen Küche, trank schwarzen Tee und las Die Kartothek, ein Stück über einen namenlosen Helden, der auf seinem Bett liegt, konsequent alles Handeln verweigert und an dem wie in einem Kaleidoskop Erinnerungsbilder vorbeiziehen: die Eltern, flüchtige Lieben, Kriegsgefährten, ein Besuch im stalinistischen Ungarn. Dazwischen der ohnmächtige „Chor der Greise“, der das Ganze vergeblich in die Bahnen klassischer Dramenpoetik zu lenken versucht. Ich wusste noch nicht, dass der 1921 in Radomsko geborene Autor zu den wichtigsten polnischen Dichtern nach dem Krieg gehörte, nicht, dass er mit seinen Nachkriegsgedichten die polnische Lyrik und Ende der fünfziger Jahre mit der Kartothek das polnische Theater revolutioniert hatte. Ich verstand längst nicht alles, dazu reichte mein Polnisch nicht, und die zeitgeschichtlichen und literarischen Hintergründe erschlossen sich mir erst später. Aber das Stück faszinierte mich. Es erinnerte an Draußen vor der Tür, hatte aber nichts von Borcherts Larmoyanz. Es erinnerte an Warten auf Godot und Kahle Sängerin, aber anders als bei Beckett und Ionesco war das Absurde nicht abstrakt, sondern greifbar und in der Geschichte verortet. Die Zertrümmerung der dramatischen Form, die Auflösung des Helden in eine Vielzahl von Personen, die in Gestammel oder Wörterbuchaufzählungen abgleitenden Dialoge, all das war kein Selbstzweck, sondern fügte sich – gerade, indem es sich nicht fügte – zum Porträt einer Generation, die nicht nur Krieg und Naziterror miterlebt hatte, sondern nach Kriegsende auch die Hoffnungen auf ein freies, unabhängiges Polen schnell begraben musste. In komprimierter Form, das fand ich später heraus, steckt in der Kartothek fast schon der ganze Różewicz: Das Kriegserlebnis und die Mühen, im stalinistischen Polen in ein ,normales‘ Leben zurückzufinden, die Skepsis gegen alle Ideologien, die das Leben als untergeordneten Wert einsehen, aber auch das tiefe Misstrauen gegen eine Literatur, die auf der Suche nach dem Schönen das Wahre und die Wirklichkeit übersieht oder ausblendet.
Dann, immer noch in Breslau, las ich Różewiczs Lyrik, zuerst natürlich die frühen Gedichte, in denen der ehemalige Heimatarmee-Partisan sein Kriegserlebnis zur Sprache bringt. Besonders frappierte mich aber – vielleicht durch den Kontrast zur Kriegslyrik – ein etwas späterer Text, ein kurzes Gedicht mit dem Titel „Udało się“ (Hat funktioniert):

Janek ist ein Jahr alt
er krabbelt auf allen vieren
eines Tages
schaue ich
und
steht auf zwei Beinen

„Na“, denke ich erleichtert
„er hat wieder funktioniert, der Trick
unserer alten Menschheit“

Auch hier scheint hinter der poetischen Momentaufnahme das Kriegstrauma durch; die Erleichterung des Ichs impliziert einen Zweifel, der im Verlust jeglicher Gewissheit wurzelt – nach diesem Krieg ist nichts mehr selbstverständlich, nicht einmal dass Kinder laufen lernen. Die Vaterperspektive verweist zudem auf ein weiteres großes Thema von Różewiczs Schaffen: die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben. In „Udało się“ steht dieses Thema noch nicht im Vordergrund, doch spätere autobiographisch grundierte Texte handeln offen von der Schwierigkeit, die Rollen des Familienvaters und des Dichters in Einklang zu bringen, ganz abgesehen von den Gedichten über die schwierigen Beziehungen zwischen Künstler-Vätern wie Goethe, Thomas Mann oder Rilke und ihren Kindern. In „Wecker“ schreibt Różewicz: „ich aber bin der der schreibt lebt / lebt und wieder schreibt“ – beides zugleich scheint unmöglich. Das Dilemma, das daraus erwächst, dass der Dichter, der „Hirte der Lebenden“, sich vom Leben abwenden muss, um Dichtung schaffen zu können, gestaltet Różewicz besonders eindrücklich in seinen Kafka-Stücken Der Hungerkünstler geht und Die Falle sowie im „Gleiwitzer Tagebuch“ (aus dem Band Mutter geht), das den Todeskampf und das Sterben der Mutter, aber auch Różewiczs damalige Schreibkrise und seine Verbitterung über seine Randstellung im poststalinistischen Literaturbetrieb dokumentiert. Im „Gleiwitzer Tagebuch“ findet sich außerdem eine Passage, die – 1957 geschrieben – das Wesen von Różewiczs gesamtem Werk treffend beschreibt:

Was meine ,Kritiker‘ und ,Kollegen vom Fach‘ ,sich wiederholen nennen‘ […] – das war und ist vielleicht noch das Wertvollste an meinem gesamten Schaffen. Das hartnäckige Überarbeiten, Wiederholen, Wiederaufnehmen immer desselben Materials […]. Andere Sachen muss jemand anderes schreiben. Anders geht es nicht. Oder man Verfällt in literarisches ,Geschwätz‘.

Die Hartnäckigkeit und Ernsthaftigkeit, mit der Różewicz sich an seinem „Material“ abarbeitet, bewirkt, dass nahezu jeder Text eine Tür zu einem Labyrinth öffnet, das den Leser auf mannigfaltigen Wegen ins Herz der Finsternisse des 20. Jahrhunderts führt und die Frage stellt, was in Zeiten wie diesen Kunst noch vermag, worin die Aufgabe und die Verantwortung des Dichters besteht.

Als Różewicz seine großen Nachkriegsgedichte schrieb, war er Anfang zwanzig – die erste Strophe seines wohl berühmtesten Gedichts lautet:

Ich bin vierundzwanzig Jahre
überlebte
zum Schlachten geführt

Die Kartothek schrieb er mit etwas über fünfunddreißig. Als ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnete, war er dreiundachtzig und hatte mit Bänden wie Zawsze fragment. Recycling (Immer Fragment. Recycling), Nożyk profesora (Das Messer des Professors) und Szara strefa (Grauzone) ein beeindruckendes Alterswerk begonnen. Er war in Berlin und ich sollte ihn für eine Theaterzeitschrift interviewen. Um den Termin zu vereinbaren, ging ich zu einer Lesung in der polnischen Botschaft, wo Różewicz im Duett mit seinem Ostberliner Übersetzer Henryk Bereska auftrat – ein munteres Improvisationstheater, dessen Hauptdarsteller zwischen Anekdoten, Sticheleien und selbstironischen Koketterien Gedichte anlas und verwarf, um nach neuen zu suchen. Diese unorthodoxe Art der Präsentation von Lyrik entsprach Różewiczs poetischem Programm. So wie er aus seinen Texten allen sprachlichen Zierat eliminiert und das Unfertige, Fragmentarische betont, indem er seine Texte stetig überarbeitet und immer wieder in neue Konstellationen und Kontexte stellt, um sein Werk in Bewegung und damit am Leben zu halten, so nimmt er auch bei seinen Lesungen der Lyrik den Nimbus des gleichsam Sakralen, dessen Hohepriester der Dichter wäre. Das Publikum soll nicht andächtig lauschen oder – wie Brecht gesagt hätte – romantisch glotzen, es soll am Geschehen teilnehmen. Bei der halböffentlichen Präsentation eines in Wien entstandenen Sammelbands mit Aufsätzen zu seinem Schaffen verblüffte Różewicz die Anwesenden mit der Feststellung, ihn kenne man wohl, aber auch er wolle gern wissen, mit wem er es zu tun habe – und ging zu jedem Einzelnen hin, um nach Namen und Tätigkeit zu fragen. Auch so etwas gehört zu einer Verfremdungsstrategie, die darauf abzielt, konventionelle Formen der Literaturrezeption aufzubrechen und bei den Zuhörern Spannung und neue Aufmerksamkeit für den poetischen Text zu wecken. Zugleich ist es Teil eines literarisch-erotischen Spiels mit dem Begehren des Publikums, dessen Befriedigung Różewicz hinauszögert, gelegentlich sogar verweigert, indem er etwa – wie bei besagter Buchpräsentation – bekundet, ihm sei nicht danach, Gedichte vorzutragen, und stattdessen von Begegnungen mit Dichterkollegen wie Ernst Jandl und Friederike Mayröcker oder von einem jugoslawischen Gemüsehändler erzählt, bei dem er in den sechziger Jahren Obst kaufte und dessen Stand er vierzig Jahre später vergeblich suchte. Auf diese Weise werden Różewiczs Lesungen zu Performances mit hohem Unterhaltungswert, die zugleich wesentliche Momente seiner Poetik konkreter als in der reinen Lektüre erfahrbar machen – etwa das Postulat, Poesie müsse „nicht immer / die Form / eines Gedichts“ annehmen.
Nach der Berliner Lesung an Różewicz heranzukommen, war nicht einfach – es gab eine lange Schlange von Freunden und Bewunderern, die alle ein paar Sätze mit ihm wechseln oder einen Band signiert bekommen wollten. Als ich als einer der letzten mein Anliegen vortrug, sagte er nur müde: „Besprechen Sie das mit Maria“ – Maria Dębicz, der langjährigen Chefdramaturgin des Teatr Polski in Breslau, die nebenbei auch Różewicz und sein Werk betreute und seine Termine koordinierte. Zwei Tage darauf machte ich mich mit gemischten Gefühlen auf nach Grunewald, wo Różewicz in einer Gastwohnung des DAAD wohnte. Ich wusste von Różewiczs Abneigung gegen Interviews und insbesondere gegen Journalisten und meine größte Sorge war, wie ich ihm zeigen könne, dass ich zwar mit einem journalistischen Auftrag zu ihm kam, mich aber auch gründlich mit seinem Schaffen befasst hatte. Das Problem löste sich von allein, weil Różewicz selbst meine Kenntnisse prüfte, indem er gleich zu Beginn unseres Gesprächs einige weniger bekannte Texte ansprach, deren Titel ihm scheinbar entfallen waren und die ich geflissentlich ergänzte. Nachdem dieser Test bestanden war, sprach Różewicz angeregt über erste literarische und theatralische Versuche im familiären Kreis, über seinen älteren, von der Gestapo ermordeten Bruder Janusz und die Geschwister Scholl, über ungeschriebene Stücke, modernes Theater und die postmoderne Architektur des Potsdamer Platzes. Aus der ursprünglich vereinbarten halben Stunde wurden fast zwei, und anschließend lud Różewicz mich ein, mit ihm zur Premiere seiner Weißen Ehe am Teatr Studio am Salzufer zu fahren. Dort amüsierte er sich prächtig über die Inszenierung und das unbekümmerte Spiel der jungen Schauspieler, allesamt Studenten der an das Theater angegliederten Schauspielschule.
Kurz nach dem Berliner Gespräch besuchte ich Różewicz in Breslau, knapp zehn Jahre nach meinem Studienaufenthalt dort. Schon damals hatte ein Freund, dem ich von meinen Lektüren erzählte, angeregt, ich solle ihn besuchen, er wohne ja in der Stadt, in der Januszowicka-Straße; bei einem Spaziergang zeigte er mir sogar ein Klingelschild mit dem Namen „Różewicz“. Ich hielt das für einen Scherz, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein solcher Dichter in einem Plattenbau nahe einer vielbefahrenen Ausfallstraße wohnt, und auch die Vorstellung, einfach so zu ihm zu gehen, schien mir recht abenteuerlich (davon, dass ,man‘ es doch tat, um etwa für Schularbeiten Gedichtinterpretationen aus erster Hand zu bekommen oder eigene Gedichte begutachten zu lassen, handeln Texte wie „Sie kamen den Dichter zu sehen“ oder „21. März – Welttag der Poesie“). Różewicz war inzwischen umgezogen, er wohnte in einem geräumigen Haus mit Garten, das ihm die Stadt Breslau im Austausch gegen seine alte Wohnung überschrieben und renoviert hatte – ein spätes Zeichen der öffentlichen Wertschätzung für einen Dichter, der in Polen nicht immer einen leichten Stand hatte. In den fünfziger Jahren hatte er Schwierigkeiten, seine Texte zu veröffentlichen, und auch später sorgten seine Werke immer wieder für ästhetische Kontroversen oder riefen die Wächter über Moral und kollektives Gedächtnis auf den Plan. Mit dem politischen Wandel verschoben sich aber die Koordinaten, und der lange als Nihilist verfemte Różewicz, der in den achtziger Jahren weitgehend verstummt war, wurde nicht zuletzt dank seines ab Mitte der neunziger Jahre entstehenden Spätwerks zu einer moralischen Instanz, zumal für ein junges Publikum, das die Konflikte der Nachkriegszeit und der Zeit des Kriegsrechts nicht bewusst miterlebt hatte und ihn als Verfechter von Werten entdeckte, die im wilden Kapitalismus der neunziger Jahre nicht en vogue waren.
Różewicz führte mich ins Besuchszimmer, wo auf sich auf einem großen Schreibtisch Briefe, Zeitungen, Belegexemplare und Zettel mit Notizen stapelten, und kam gleich zur Sache. Es ging um die Authorisierung der Druckfassung unseres Gesprächs, und er hatte einige Anmerkungen. Das Ganze war schnell erledigt – „Ach, wissen Sie, man könnte natürlich noch endlos korrigieren, aber…“ –, und ich rechnete damit, zügig wieder herauskomplimentiert zu werden. Stattdessen fragte Różewicz, ob ich noch etwas Zeit hätte, und bat mich ins Wohnzimmer, wo seine Frau Wiesława schon Gebäck und Tee bereitgestellt hatte. An den Wänden hingen Bilder befreundeter polnischer Maler. Różewicz sprach mit spürbarer Zuneigung von diesen Bildern, von seinen Malerfreunden, denen er sich seit seinem Studium der Kunstgeschichte in Krakau näher verbunden fühlte als den meisten Schriftstellerkollegen, und von seinen Museumsbesuchen in Europa und den USA – seinem, wie er sagte, eigentlichen Studium. Außerdem zeigte er mir einige Objekte, plastische Miniaturen, die er zusammen mit dem Breslauer Künstler Eugeniusz Get-Stankiewicz entworfen hatte und die später in einer eigenen Ausstellung im Breslauer Nationalmuseum zu sehen waren. Aber er war auch neugierig, fragte nach meiner Familie, nach meiner Meinung zu aktuellen politischen Fragen, nach dem Leben in Berlin, wo ich damals wohnte. Mitunter war ihm anzumerken, dass die alten Kränkungen und Anfeindungen nicht vergessen sind, dass manche Wunde noch immer schmerzt, aber auf Anflüge von Verbitterung folgte meist ein Scherz, begleitet von einem spitzbübischen, noch immer jungenhaften Lächeln.
Zum Abschied schenkte Różewicz mir ein Manuskript des damals noch unveröffentlichten, nach dem Tsunami von 2004 geschriebenen Gedichts „Cóż z tego że we śnie“ (Und sei’s auch nur im Traum), das auf eindrückliche Weise Zeit- und Medienkritik mit der Reflexion über das brüchige Fundament unserer Zivilisation verbindet und in ein berührendes poetisches Credo mündet:

ich schreibe auf Wasser
ich schreibe auf Sand
aus einer Handvoll geretteter Wörter
aus einigen Sätzen
einfacher Zimmermannsprosa
aus einigen nackten Versen
baue ich eine Arche
um etwas zu retten
aus der Sintflut
die uns überrascht
am hellichten Tag
oder tief in der Nacht
von der Erdoberfläche spült

ich baue meine Arche
ein trunkenes Schiff
ein Papierschiffchen
unter roten
schwarzen Segeln

Und sei’s auch nur im Traum

Ich übersetzte dieses Gedicht, Różewicz akzeptierte die Übersetzung. Weitere Übersetzungen folgten, und Różewicz zu besuchen wurde zum festen Bestandteil jeder Breslau-Reise. Weil die Zeit auch von Dichtern unerbittlich ihren Tribut fordert, hoffe ich immer, ihn in guter Verfassung anzutreffen. Denn obgleich Różewicz sich keineswegs als weiser Alter geriert – vielmehr verzeichnet er illusionslos die Verluste –, so spricht aus ihm doch die Erfahrung eines Menschen, der den Irrsinn des 20. Jahrhunderts miterlebte und die geistigen und literarischen Entwicklungen der letzten sechseinhalb Jahrzehnte kritisch verfolgte und mitprägte. Von dieser Erfahrung zeugt natürlich sein Werk, das gerade in den letzten Jahren in viele Sprachen übersetzt wurde – bei fast jedem Besuch zeigt Różewicz mir neue Ausgaben in Englisch, Italienisch, Norwegisch, Russisch, Chinesisch oder Arabisch – und in Polen durch eine zwölfbändige Gesamtausgabe und regelmäßige Neuauflagen der wichtigsten Texte präsent ist. Im persönlichen Kontakt wirkt diese Erfahrung aber um vieles eindrücklicher, zumal wenn man es mit einem Menschen zu tun hat, der das aktuelle Geschehen noch immer mit wachen Augen und wachem Geist, wiewohl mit wachsendem Pessimismus, verfolgt und kommentiert. Mich, der ich sein Enkel sein könnte, beeindruckt das jedes Mal aufs Neue, und jedes Mal verlasse ich Breslau in der Hoffnung auf weitere Begegnungen mit Różewicz.

Bernhard Hartmann, Akzente, Heft 5, Oktober 2011

 

ZUM TOD DES DICHTERS T. R.
24. April 2014

Nachhall zu sammeln
wie lang verbarg sich das Wort
entschwundener Zeit –

Hol es herauf Rief ich dem
zeitschattenfernen Freund nach

Partisan in den
Wäldern der Heimatarmee
Tadek Różewicz

Der Trost gespendet
dem in Schande lebenden
Sohn deutscher Väter

Manfred Peter Hein

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Doris Liebermann: Tadeusz Różewicz – die Stimme der polnischen Nachkriegsgeneration
Deutschlandfunk, 9.10.2021

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfG +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Tadeusz Różewicz: Der Tagesspiegel ✝ NZZ ✝ DR Kultur ✝
SZ ✝ Frankfurter Neue Presse ✝ junge Welt ✝ CULTurMAC

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Tadeusz Różewicz

 

Tadeusz Różewicz bei einer Lesung am 10.10.2007 in Wrocław.

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