Wolfgang Schneider: Zu Gottfried Benns Gedicht „Nasse Zäune“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Nasse Zäune“ aus Gottfried Benn: Werkausgabe I. –

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Nasse Zäune

Nasse Zäune
über Land geweht,
dunkelgrüne Stakete,
Krähenunruhe und Pappelentblätterung
als Umwelt.

Nasse Zäune,
Gartenabgrenzung,
doch nicht für Abkömmlinge
der berühmten Tulpe Semper Augustus,
die Paris im 17. Jahrhundert mit unerhörten Preisen
bezahlte,
oder die Hyazinthe „Bleu Passe“
(1600 fl. Anno 1734),
man trug seinen Namen in ein Buch ein,
erst mehrere Tage später
führte einen ein Gartendirektor vorbei –,
vielmehr für die alten bewährten Ranunkeln Ostades.

Nasse Zäune,
Holzfäulnis und Moosansatz
in der Stille der Dörfer,
kleine Ordnungszeile
über Land geweht,
doch Schnee und Salze sammeln sich,
rinnen Verfall –
die alten Laute.

 

Idyll vor düsterem Hintergrund

Dieses Gedicht entstand in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs: Benn erwähnt es erstmals im Januar 1945. Er lebte damals als Militärarzt in Landsberg an der Warthe, verstand sich als innerer Emigrant und fühlte sich gar nicht schlecht dabei. Aber er war verfemt und mit „Schreibverbot“ belegt. Er war ein Provokateur ohne Publikum. Nicht anders als sein Antipode Brecht war er auf Wirkung aus und scheute zu diesem Zweck kein krasses Mittel wie ein Blick auf seine frühen, skandalmachenden Sektionsgedichte zeigt.
In „Nasse Zäune“ nimmt Benn dagegen Effekt und Artistik zurück: kein Rausch von Reim und Klang, keine weiten Perspektiven über dreitausend Jahre Abendland, keine pathetische Selbsterforschung. Bloß ein melancholisches Stilleben mit der Stimmung verschiedener Jahreszeiten, angesiedelt in jener östlich-provinziellen Landschaft, bei der dem Großstadt-Dichter weich ums Herz wurde. Er hat diese stillen Eindrücke und sogar die nassen, moosigen Zäune auch zu Beginn von „Block II, Zimmer 66“ beschrieben; dort verdichtet er das Landsberger Kasernenleben zu einem Stück Autobiographie, das zugleich ein sehr beeindruckendes Stimmungsbild aus der letzten Phase des „Dritten Reiches“ ist.
„Nasse Zäune“ ist eine Idylle vor düsterem Hintergrund. Die „kleine Ordnungszeile / über Land geweht“ erscheint als allzu biedermeierliche, allzu unzulängliche Barriere gegen das Inferno der Weltkriegs-Gegenwart. Bei aller Schlichtheit des Parlandos glücken Formulierungen wie „Krähenunruhe und Pappelentblätterung als Umwelt“, eine schöne Auffrischung altgedienter lyrischer Herbst-Attribute. Von beiläufiger Perfektion ist die dritte Strophe, die in ihrer Leichtigkeit selbst etwas Hingewehtes hat. Die Vergänglichkeitsthematik, die Benns Werk vom ersten Morgue-Gedicht an durchzieht, wird am Ende als lakonische Formel aufgerufen: „rinnen Verfall – / die alten Laute“. Frühere, härtere Verse klingen an, etwa die Schlußzeile des berühmten Krebsbarackengedichts:

Saft schickt sich an zu rinnen.

Die trotzige Kleinbürgerattitüde, in der sich Benn gefiel, wird originell abgewandelt. Bekanntlich trank der Dichter sein Bier am liebsten in der Eckkneipe; sympathisch waren ihm die einfachen, anständigen Menschen mit dem „amusischen Gedankenleben“. Kurzum:

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs.

Hier nun wird das Motiv ins Botanische gewendet: In meinem Garten wächst keine „Semper Augustus“. Damit stellen sich Assoziationen zum siebzehnten Jahrhundert ein; nicht nur das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, sondern auch das des Tulpenwahns. Für manche Edelzüchtung wurde ein Vermögen hingelegt. Man spekulierte mit Blumenzwiebeln wie heute mit Internet-Werten. Auch die Hyazinthe, bei deren Erwerb so viele Umstände gemacht werden, ist mit „1600 fl.“ durchaus kostspielig – ein stattliches Bürgerhaus bekam man damals für siebentausend Florin, das sind holländische Gulden.
Gegen diese Blumenaristokratie wird nun die „bewahrte“ Ranunkel ins Recht gesetzt, ein genügsames Gewächs; einfaches Leben in erdhafter Stilisierung. Adriaen van Ostade war ein niederländischer Bauernmaler jener Epoche, beeinflußt von Rembrandt. So kam Oelze, der Freund und erste Leser, auf den Gedanken, es müsse sich auch bei dem unscheinbaren Zaun um ein kunsthistorisches Zitat handeln. Der Dichter widersprach:

Kein Altendorfer oder Breughel!… Der Zaun steht vor meinem Fenster in der Lehmannstraße, und ich betrachte ihn täglich.

Ringsum Weltuntergang, und Benn vertieft sich in den Anblick eines Gartenzauns. Die Welt vor meinem Fenster ist mir genug, sagt der Weise. „Alle Leiden des Menschen kommen daher, daß er nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben kann“ – den bekannten Satz Pascals zitiert Benn im „Roman des Phänotyp“, der ebenfalls in den produktiven Landsberger Monaten entstand.
„Statik“ wurde in diesen Jahren zu Benns Schlüsselwort womit er nach seinem verfehlten Aufbruchspathos von 1933 den erneuten Rückzug auf Maß und Form meinte, und vor allem die Weigerung, die „geschichtliche Dynamik“ fürderhin mitzuvollziehen. Auch wenn er „Nasse Zäune“ dann doch nicht in die Sammlung Statische Gedichte aufgenommen hat, mit deren Veröffentlichung 1948 seine triumphale Rückkehr ins literarische Leben begann.

Wolfgang Schneideraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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