DER NOBELPREIS
Ausweglos, Tier im Gehege,
Menschen sind wo, Freiheit, Licht,
Doch um mich der Lärm der Jäger,
Draußen gibt es für mich nicht.
Dunkler Wald und Hang am Teich hier,
Eine Fichte, quergelegt.
Werde, was will, es ist das Gleiche.
Allseits abgeschnittener Weg.
Welche Schuld, welch abgefeimte,
Lastet auf mir, Mord, Raub, Zwang,
Der die Welt ich machte weinen
Vor der Schönheit seines Lands?
Doch auch so, beinah am Grabe,
Glaube ich, es kommt die Zeit –
Über Niedertracht und Schaden
Triumphiert der gute Geist.
Immer enger drängt die Hetzjagd.
Eine Buße, die mich quält:
Daß die Freundin meines Herzens,
Meine rechte Hand mir fehlt.
Mit dem Hals schon in der Schlinge
Wünsche ich noch unverwandt,
Daß die Tränen mir wie immer
Trockne meine rechte Hand
Übersetzung Elke Erb
Der 1890 in Moskau geborene Sohn eines Malers und einer Pianistin fand den Weg zu einer sinnenwachen Natur- und Liebesdichtung aus weltoffener musischer Familie. Atemtausch und Klangrausch prägen diese Verse gänzlicher Hingabe an den zaubrisch erlebten Moment. Revolution, Kriege und Stalins Herrschaft erwiesen sich als Nadelöhre eigner Selbstbewahrung und der seiner Dichtergefährten: ihres Schicksals unterm Damoklesschwert von Verhaftung und Vernichtung, da selbst der ihm zuerkannte Nobelpreis dem Angefeindeten zur Last wurde.
Aus Christine Lavant: Poesiealbum 289, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010
In seinem Gesicht liegt etwas von einem Araber und seinem Pferd zugleich, überwach lauschend… Eindruck, als lauschte er immerzu, Aufmerksamkeit, ununterbrochen – plötzlich – Losbruch ins Wort – sehr häufig etwas Vorzeitliches: als spreche ein Fels, eine Eiche… Pasternak ist von allen Dichtern der durchdringbarste, folglich – der durchdringendste.
Marina Zwetajewa
Er hat ein Gespür für Bewegung, das Herrliche an seinen Gedichten ist ihre Zugkraft, die Zeilen brechen ab, sie wollen sich nicht einfügen lassen, wie Stahlruten, sie überrennen einander wie Wagen eines plötzlich gebremsten Eisenbahnzuges.
Viktor Schklowski
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010
Als Sohn eines Malers und einer Pianistin kostete der junge Dichter früh vom Baum der Schönheit. Überwachen Jugendversen folgte im Feuer von Krieg, Revolution und Stalins Terror eine ins Schlichte gereifte Natur- und Liebesdichtung. In der Nische wahrer Wunder und wunder Würde wuchs ein von Wortbrüchen und Widersprüchen bedrängtes Werk, das er noch im Kesseltreiben um den Nobelpreis verteidigte.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010
Volker Strebl: Eine unverzichtbare Stimme aus Russland
fixpoetry.com, 26.62014
1
Schon in den zwanziger Jahren habe ich mich nicht nur für die Poesie Boris Pasternaks, sondern auch für die Unabhängigkeit seiner Lebensposition sehr interessiert, die ihn deutlich heraushob aus dem literarischen Kreis. Einmal, als wir uns über die Position des Schriftstellers unterhielten – diese Frage stand damals zum erstenmal unausweichlich vor uns –, sagte ich zu I. Grusdjow, dem ältesten der Serapionsbrüder, daß ich leben würde wie Pasternak. Nur diesen Satz habe ich im Gedächtnis behalten. Behalten, das bedeutet, es ist kein beiläufiger, zufälliger Satz gewesen.
Das erste Mal habe ich ihn 1926 in Moskau gesehen, wohin ich zu einer Leitungsberatung des Verlags Krug, den Alexander Woronski leitete, gereist war. Ich war 25 Jahre alt. Mein erstes Buch Meister und Gesellen war erschienen, ich beschloß, es Boris Leonidowitsch zu schenken, und machte mich, ohne lange zu überlegen, auf den Weg zu ihm in die Wolchonka.
Mich empfing Jewgenija Wladimirowna, eine schöne, irgendwie bekümmert dreinschauende, freundliche (wenn auch nicht übermäßig), junge Frau. Bald kam auch Boris Leonidowitsch. Ich war wie besessen von der vermeintlichen Notwendigkeit, etwas Ungewöhnliches zu sagen über die Tiefe und Bedeutung seiner Gedichte, und zweifellos war es ebendiese Versessenheit, die mich völlig vergessen ließ, weshalb ich gekommen war, ja zeitweise sogar Pasternak selbst. Vor ihm stand ein unbekannter junger Mann, der ungebeten in seinem Haus erschienen war. Und obwohl Pasternak ganz gewiß zu tun hatte, hörte er mir aufmerksam und freundlich zu, er war sogar bemüht, mir weiterzuhelfen, wenn ich mich bei meinen ziemlich langen Sätzen verhaspelte. Auf einmal lud er mich zum Tee ein und begab sich, obgleich ich dankend ablehnte, mit der Teekanne in die Küche. Während er hantierte, beklagte Jewgenija Wladimirowna (möglich, daß ich das verwechsle, aber mir ist so, als sei es so gewesen), daß Boris Leonidowitsch den lieben langen Tag Tee trinkt, anstatt über die wichtigen Dinge nachzudenken, um die es zu jener Zeit sehr schlecht bestellt war. Ich erinnere mich nur deshalb daran, weil Pasternaks zweite Frau, Sinaida Nikolajewna, diesen Satz beinahe wortwörtlich wiederholte (im Beisein von Pogodin, in Peredelkino auf der Datsche), und auch das eine halbe Stunde, nachdem wir miteinander bekannt geworden waren.
Das Treffen in der Wolchonka kam aber auch deshalb nicht recht zustande, weil – kaum daß Boris Leonidowitsch mit der Teekanne zurückkam – mein großer Bruder anrief und sagte, meine zweijährige Tochter Natascha sei an Scharlach erkrankt. „Lida hat aus Leningrad angerufen und bittet dich zurückzukommen.“
Nicht nur dieser Nachricht wegen völlig verwirrt, sprang ich auf. Die Pasternaks hatten einen kleinen Sohn, und Natascha war offenbar schon krank gewesen, als ich mich von ihr verabschiedet hatte.
Boris Leonidowitsch tröstete mich.
Das ist doch nicht so schlimm, kein Grund zur Besorgnis, wir werden schon etwas machen, irgendein Desinfektionsmittel, es wird nichts passieren, Sie waren ja nicht lange hier, und überhaupt kann gar nichts passieren.
Ich bat um Entschuldigung, verabschiedete mich und fuhr zum Leningrader Bahnhof wegen der Fahrkarte.
Ich erinnere mich nicht, Pasternak bis zur Reise nach Tbilissi vor dem Ersten Schriftstellerkongreß wieder begegnet zu sein. In der Schriftstellergruppe waren viele, ich gehörte zu den unauffälligen; er aber zu den auffälligsten. Das muß nichts besagen, aber es ist durchaus möglich, daß wir uns auch in diesen drei Tagen so gut wie nicht begegnet sind. Ich weiß nur noch, daß Boris Leonidowitsch, als der Leiter unseres schmucken Expreßzuges (in dem schmucke Mädchen in blauen Kostümen bedienten) uns bat, unsere Eindrücke im Gästebuch zu vermerken, eine eigenartige Eintragung machte, in der sich das Dankeschön mit dem Erstaunen über die „Zauberkraft der Bewegung“ vermischte. Dann kam der Erste Kongreß, auf dem Pasternaks Poesie als neue und eigenständige Erscheinung hohe Anerkennung zuteil wurde. Dazu muß angemerkt werden, daß auch er erfüllt war vom Vertrauen in die gesellschaftliche Aufgabe, die dem Land oblag, und nicht von ungefähr und reinen Herzens von der „großen Wärme“ sprach, „mit der uns der Staat umgibt“.
In den Nachkriegsjahren begegneten wir uns in Peredelkino bei den Iwanows, manchmal auch auf Spaziergängen. Für mich ergab sich dabei die einzigartige Möglichkeit zu dem Versuch, ihn genauer kennenzulernen, mich in ihm auskennen zu lernen oder mir wenigstens über meine Eindrücke klar zu werden, aber ich muß sogleich eingestehen, daß das ein meine Kräfte übersteigendes Unterfangen war. In welchem Kreis auch immer – und bei den Iwanows kamen erstklassige Schriftsteller, Maler, Schauspieler zusammen – tat sich zwischen ihm und einem jeden anderen ein unübersehbarer Raum auf, so etwas wie eine hell erleuchtete Bühne, auf der er sich ohne die leiseste Anstrengung bewegte. Immerzu war er fröhlich, lebhaft, immer hatte er ein Lächeln parat, jeden beliebigen Gedanken vermochte er mühelos aufzugreifen, leicht ging er durch diesen Raum auf einen Gesprächspartner zu, wenn dieser sich gerade anschickte, die ersten zaghaften Schritte zu tun. Es war offensichtlich, daß jeder Tag ein Geschenk für ihn war und jede Minute, in der er nicht arbeitete, keine verlorene Zeit, sondern Labung der Seele. „Besserungen machten ihn rasend“ – schrieb Majakowski über ihn. Ich glaube, er hat das mehr auf sich selbst bezogen, Pasternak werden Verbesserungen gefreut haben, sie flogen ihm zu wie Vögel. Das Feiertägliche lag ihm im Blut, und deshalb war er auch mit niemand anderem zu vergleichen – dieses Feiertägliche besaß nur er, wenngleich er es gern mit allen teilte.
Ich schäme mich, es zu sagen, aber wenn ich ihn zufällig traf, unterwegs, und er ein vor längerer Zeit (oder erst kürzlich) unterbrochenes Gespräch wie selbstverständlich fortsetzte, konnte ich ihn nach fünfzehn Minuten schon beinahe nicht mehr verstehen – es überstieg meine Kraft, seinem Tempo zu folgen, die Klüfte zwischen den Assoziationen zu überspringen, den (für ihn) klaren und (für mich) kaum aufschimmernden Gedanken bald zu verlieren, bald wiederzufinden:
Er steckte immer mitten im Leben, das ihn jeden Tag, jede Minute fesselte, und gleichzeitig stand er über ihm, und in diesem „Über“ fühlte er sich ungebunden und frei. Das steht nicht im Widerspruch zu dem, was Anna Achmatowa über ihn sagte:
Weil er den Rauch Laokoon verglichen
Und weil die Friedhofsdistel er besang,
Weil er die Welt im Spiegel seiner Strophen
Im neuen Raum erfüllt mit neuem Klang,
Ist er belohnt mit Kindheit ohne Dauer,
Der Wachheit des Gestirns und seinem Glanz,
Und was sein Erbteil war, die Erde,
Das teilte er mit allen ganz.
(Nachdichtung: Heinz Czechowski)
Der Beginn dieser ewigen Kindheit ist dargestellt in einer Erzählung, die jenen Zug seiner Begabung aufzeigt, den er fast nie in der Prosa nutzte: die Fähigkeit der Verwandlung. Ich spreche von „Shenja Lüvers Kindheit“.
Erleben verband sich dort zum erstenmal mit Nachdenken über Erlebtes, und Erfahrung mit der Suche nach dem Platz im Leben. „Mitten“ und „über“ überschneiden sich im qualvollen Wachsen des kindlichen Bewußtseins. Dieses Überschneiden oder genauer: Kreuzen wurde in der Folgezeit, so scheint mir, zu einem Wesenszug Pasternaks. Das läßt sich nur schwer mit Beispiele belegen. Vielleicht ist die folgende Episode geeignet, meinen Gedanken zu bestätigen. Nach einem fröhlichen Abendessen bei den Iwanows mit Toasts und Scherzen, mit jener Ungezwungenheit einer Gesellschaft, in der alle einander achten und lieben, wurde Boris Leonidowitsch gebeten, Gedichte zu lesen. Gern kam er dem Verlangen nach – an diesem Abend war er besonders frohgestimmt. Ich weiß nicht mehr (es ist auch nicht so wichtig), was er las mit seiner urwüchsigen, etwas dumpfen Stimme, die wie alles, was mit ihm zusammenhing, einzig war in ihrer Art. Wichtig ist, daß er sein langes Gedicht in der Mitte vergessen hatte. Ohne eine Spur Verlegenheit begann er, das Gedicht weiterzuerzählen, in Prosa sozusagen. Das waren nun schon nicht mehr nur die Verse, sondern auch das, was er über sie dachte. Es war eine Kreuzung aus „über“ und „mitten“, eine besonders reizvolle, weil er es selbst lustig fand, daß er seine Verse vergessen hatte und sie nun mit ,eigenen Worten‘ nacherzählen mußte.
„Er ist zum Verlieben“, sagte ich zu der wunderschönen Nina Bashan neben mir.
Sie erwiderte in völligem Ernst:
Schon geschehen.
Was die Fähigkeit betrifft, einem Menschen mit Worten Leben zu verleihen. so kann man sagen, daß sie in „Shenja Lüvers Kindheit“, geschrieben 1918, eindringlicher zutage tritt als zum Beispiel im Roman Doktor Schiwago, an dem Boris Leonidowitsch in den fünfziger Jahren arbeitete. In seiner frühen Erzählung wurde er wie durch ein Wunder gleichsam selbst zu dem dreizehnjährigen Mädchen, das den komplizierten und qualvollen Übergang zum Backfischalter und zum ersten Aufschimmern des Lebens als Frau erlebt.
2
Als ich eines Tages an seiner Datsche vorüberkam, trat er gerade durch die Pforte. Wir begrüßten uns, und er sagte, sich gleichwie entschuldigend:
Ich kann nicht mit Ihnen spazieren, die Ärzte haben mir schnelleres Gehen verordnet.
Mir blieb nichts anderes übrig, als diesem weisen Rat beizupflichten und zurückzubleiben. Ich ging weiter, die sogenannte „Nejasnaja poljana“ entlang, und traf auf dem Rückweg erneut auf Boris Leonidowitsch. Offensichtlich hatte er längst wieder vergessen, was ihm die Ärzte anempfohlen hatten, denn er blieb stehen und unterhielt sich mit mir.
Ich weiß noch, ich sagte ihm, daß nach dem jahrelangen, unerklärlichen Schweigen wieder über Juri Tynjanow geschrieben würde und soeben drei Bände mit Werken von ihm erschienen seien. Er sagte begeistert:
Das ist ein Ereignis!
Dann kamen wir aus irgendeinem Grund auf Musik zu sprechen, wir waren lange unterwegs, nicht langsam und nicht schnell, und als wir uns verabschiedeten, fiel eine Sternschnuppe, und sofort fragte er mich:
„Haben Sie sich etwas gewünscht?“
„Nein, hab so schnell nichts gewußt.“
„Aber ich“, sagte er triumphierend. „Ich habe mir etwas gewünscht! Sie ist doch so lange zu sehen gewesen, wieso ist Ihnen da nichts eingefallen?“
Man erzählte über ihn, daß er einmal in seinem Garten beim Kartoffellegen war – sein Garten war beinahe ein einziges Kartoffelfeld –, als ein Unbekannter vorüberging, und er ihn laut fragte:
„Wollen Sie zu mir?“
„Nein.“
„Das ist gut, daß Sie nicht zu mir wollen. Das ist sehr, sehr gut.“
Und als der Unbekannte schon recht weit entfernt war, rief Pasternak ihm, über die Pforte gebeugt, nach:
„Wie heißen Sie?“
Er besaß das, was man „merkwürdige Unmittelbarkeit“ nennen könnte. Ihn drängte es stets zur augenblicklichen Erfüllung seiner Wünsche, und in diesen Fällen schien sein Verhalten unerklärlich. Ebenso wie er nicht ohne Mühe mit dem „Nichterfüllen eines Verlangens“ fertig wurde.
In seinem Buch Meine Diamantenkrone schreibt Valentin Katajew über seine persönlichen Beziehungen zu Pasternak. Unter dem Pseudonym „der Mulatte“, das mehr einem Spitznamen ähnelt, reiht er ihn wohlwollend in den Kreis der „Unsterblichen“ ein, die Katajew umkreisen wie auf einem Karussell. Wollte jemand einen Antipoden in moralischer Hinsicht für Pasternak finden, so käme dafür nur Valentin Katajew selbst in Frage.
3
Ein Porträt des großen Schriftstellers, der Tausende Seiten Poesie, Prosa und Briefe verfaßt hat, geht über meine Möglichkeiten. Solange diese zwanzig oder dreißig Bände nicht vollständig erschienen sind, ist es schwer, jemanden zu benennen, der dies könnte. Aber vielleicht finden diese Seiten ihren Platz in jener Flut von Erinnerungen und Überlegungen, die – davon bin ich überzeugt – über kurz oder lang über uns hereinbrechen wird. Es wird nicht nur wieder und wieder über seine Bücher geschrieben werden, sondern auch darüber, wie er gelebt hat, obgleich ich dann wohl von meiner Meinung werde abgehen müssen, daß das übertriebene Interesse für das Privatleben eines Schriftstellers nicht zu den größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zählt.
Pasternak hat jahrzehntelang fast ständig in Peredelkino gelebt, und er lebte so, als hätte er es nach eigenem Muster selbst geschaffen. Es war nicht daran zu denken, daß ihm jemals die Erlaubnis erteilt werden würde, irgendwohin ins Ausland zu reisen, als das eines Tages jedoch geschah – 1935 zum Weltkongroß „Zur Verteidigung der Kultur“ nach Paris –, benahm er sich, Ehrenburg zufolge, sehr sonderbar. „Er sagte mir, er leide an Schlaflosigkeit, der Arzt habe Neurasthenie festgestellt und er sei gerade im Erholungsheim gewesen, als man ihm mitteilte, er müsse nach Paris fahren. Er hatte eine Rede entworfen, die hauptsächlich seine Krankheit zum Gegenstand hatte. Mit Mühe ließ er sich überreden, ein paar Worte über die Poesie zu sagen. In aller Eile übersetzten wir eines seiner Gedichte ins Französische. Der Saal applaudierte enthusiastisch.“ („Menschen, Jahre, Leben“) Ilja Grigorewitsch hat mir ausführlicher über Pasternak in Paris erzählt. Boris Leonidowitsch war mit allem unzufrieden, sogar mit dem für einen Franzosen üblichen Tagesablauf. Begeisterten Beifall gab es nicht nur nach, sondern auch vor seiner Rede, kaum daß er nach ein paar dumpfen, unverständlichen Lauten den Mund geöffnet hatte; ich kannte diesen dumpfen Ton, mit dem er sich unterbrach, wenn er in irgendeins Verlegenheit geriet. „Das hat genügt“, sagte Ilja Grigorewitsch, „Um den Dichter zu spüren.“
Pasternak sagte:
Die Poesie wird, die berühmtesten Alpengipfel überragend, immer das sein, was im Grase liegt, unter den Füßen, so daß man sich nur zu bücken braucht, um es sehen und aufheben zu können; sie wird immer einfacher sein, damit sie auf Versammlungen erörtert werden kann; sie wird immer eine organische Glücksfunktion des mit der wundervollen Gabe verständiger Sprache ausgestatteten Menschen sein, und deshalb wird es um so leichter werden, Künstler zu sein, je größer das Glück auf Erden ist.
Das erinnert an die Strophen von Anna Achmatowa:
Und wüßten Sie, wie ohne jede Scham
Gedichte wachsen, und aus welchem Müll!
Wie durch das Zaunloch gelber Löwenzahn,
Wie Melde und Dill.
(Nachdichtung: Rainer Kirsch)
Er hat sich nicht „einschreiben lassen“ – weder auf dem Kongreß noch in Paris.
„Er benahm sich so, als wollte er sein Paris zunächst schaffen, um danach auf seine Art dort zu leben, jedenfalls nicht so wie die Franzosen“, schloß Ehrenburg.
4
1937, als der Prozeß in Sachen Jakir, Tuchatschewski und andere stattfand, wurden unter den Schriftstellern Unterschriften gesammelt, die das Todesurteil guthießen. Pasternak unterschrieb nicht. „Sehen Sie, wenn ich das tue, werde ich auch unterschreiben müssen, wenn Sie dann erschossen werden“ – etwas in dieser Art sagte er zu seinem Besucher.
Die Leitung des Schriftstellerverbands mit Stawski an der Spitze kam nach Peredelkino, Pasternak wurde auf eine andere Datsche gebeten. Stawski drohte Boris Leonidowitsch, und er antwortete auf die Drohungen mit einer Absage und ging nach Hause.
Wer jene Periode des Terrors erlebt hat, weiß, welch unvergleichlicher Mut zu solch einem Schritt gehörte.
„Widerstand, den ich nicht verheimlicht habe“ – gewollt oder nicht: das wurde zur Herausforderung.
Ich habe Periode des Terrors gesagt. Das ist ungenau, aber für Boris Leonidowitsch hatte das Wort „Periode“ offensichtlich eine besondere Bedeutung. Ihm gefiel der erste Teil meines Offenen Buchs, er rief mich sogar an und lobte es: „Es ist lebendig und frei.“ Als der Roman verdammt wurde und mein Telefon für zwei Jahre schwieg, traf ich ihn zufällig einmal auf der Lawruschinski-Gasse, und er begann mich mit einem guten, Hoffnung machenden Lächeln zu trösten:
Das macht nichts, wissen Sie, das geht vorbei. So etwas kommt vor, aber es geht vorüber. Das ist so eine Periode. So eine Periode kommt einfach, aber dann geht alles vorüber.
5
Mit Kasakewitsch ging ich zu Boris Leonidowitsch, um etwas für den Almanach Das literarische Moskau zu erbitten – es wurde ein Fiasko. Ein wütender Schrei drang zu uns aus den Tiefen des Hauses, uns wurde klar, daß Sinaida Nikolajewna, die uns empfangen hatte, das Arbeitszimmer Pasternaks betreten und ihn offenbar gestört haben mußte. Wir sahen uns an: Vielleicht ist es besser zu gehen? Doch auch das wäre peinlich gewesen, und so saßen wir fünfzehn Minuten wie auf Kohlen, so lange dauerte der heftige, nach und nach abebbende Wortwechsel. Mir scheint, Pasternak hätte sich kaum zu uns herausbemüht, wäre nicht die freundliche, schöne Nina Alexandrowna Tabidse gewesen. Sie erschien zuerst, und als sie unsere Verwirrung bemerkte, schenkte sie uns ein beruhigendes Lächeln, ihr folgte der immer noch zornige Pasternak. Mich begrüßte er zurückhaltend, zu Kasakewitsch aber sagte er, sich besänftigend:
„Sie sind älter geworden.“
„Ja“, erwiderte Emmalluil Genrichowitsch bekümmert.
Wir entschuldigten uns, daß wir ungelegen kamen. Kasakewitsch begann vom Literarischen Moskau zu reden, aber Pasternak fiel ihm sofort ins Wort: „Nein, nein, nein“, sagte er. „Ich kenne es, ja, Ich habe es gelesen, aber es taugt überhaupt nichts.“
Kasakewitsch fragte, ob er den zweiten Band habe.
„Ja, habe ich gelesen. Aber es taugt nichts. Es ist genauso.
Genau das gleiche. Es kommt Ihnen nur so vor, daß es etwas anderes ist, weil Sie das sehr wünschen, aber es ist genau das gleiche. Oder fast, aber das ist nicht von Belang.“
Ich redete auf ihn ein und sagte, ganz und gar nicht im Gesprächston, etwas Hochtrabendes, etwa, das Literarische Moskau sei für uns eine Art Feiertag und wir schätzten uns glücklich, wenn er an diesem Feiertag Anteil hätte. Kasakewitsch verzog das Gesicht, Boris Leonidowitsch aber wiederholte immerzu: „Ja, ja, ja“, und dann sagte er: „Nein.“
„Aber warum denn nur? Im ersten Band haben wir doch Ihre Bemerkungen über Shakespeare gedruckt“, meinte Kasakewitsch.
„Ja, obwohl ich gedacht hatte, sie würden niemals gedruckt werden. Ich war ganz sicher, niemand würde sie drucken, und war erstaunt, daß sie sie gedruckt haben. Jetzt aber kann ich nicht, weil ich nichts habe.“
„Borjenka, geben Sie ihnen etwas“, sagte Nina Alexandrowna schmeichelnd, als sie unsere betrübten Mienen sah.
Pasternak sagte wieder: „Nein“, doch dann, als er uns hinausgeleitete, schlug er überraschend den Doktor Schiwago vor.
„Da, bitte, drucken Sie den!“
Damals hatte den Doktor Schiwago noch niemand gelesen, bekannt war lange Zeit nur, daß Pasternak einen großen Roman schrieb. Kasakewitsch fragte, wann wir wegen des Manuskripts kommen sollten, dann verabschiedeten wir uns.
Der Roman Doktor Schiwago umfaßt etwa 40 Druckbogen, allein deshalb konnte er nicht in unserem Sammelband erscheinen, für den wir vom Goslit mit Ach und Krach höchstenfalls 50 erhandelt hatten. Doch es gab einen weit gewichtigeren Grund: der Roman gefiel Kasakewitsch nicht; er äußerte sich sehr schroff über ihn.
„Können Sie sich vorstellen, daß Pasternak über die Kolchosen schreibt?“ fragte er mich erregt.
„Nur schwer.“
„Sehen Sie. Er aber schreibt darüber und sehr schlecht. Hilflos. Es gibt wunderbare Kapitel, aber die wird er uns nicht geben.“
„Was meinen Sie, weshalb hat er uns so unwirsch empfangen?“
„Weil Das literarische Moskau in seinen Augen ein Kompromiß ist. Er möchte, daß gleich morgen Pressefreiheit verkündet wird.“ Später, als ich den Doktor Schiwago gelesen hatte, war mir klar, daß Kasakewitsch den Roman oberflächlich beurteilte, was allerdings nicht zu ihm paßte. Tatsächlich gibt es im Roman eine Vielzahl von ungeschickten, ja sogar naiven Passagen, die gleichsam gezwungen, nicht mit der Pasternak eigenen Freiheit geschrieben sind. Es gibt viel Sonderbares und Übertriebenes – die Helden erscheinen bisweilen auf der Szene, wann es dem Autor gefällt, unabhängig von der inneren Logik des Sujets. So fällt Lara gegen Ende des Romans geradezu vom Himmel – natürlich nur, weil es unvorstellbar ist, daß sie zur Beerdigung Schiwagos nicht erscheint. Vieles ist über Nichtselbstgesehenes, nur dem Hörensagen nach Bekanntes oder Vermutetes geschrieben. Und doch spürt man bei der Lektüre, daß Boris Leonidowitsch sich durch sein ganzes Leben das Recht erkämpft hat, all diese Peinlichkeiten, dieses Unausgesprochene abzuschreiten. Man kann Graham Greene verstehen, der Tschukowski zufolge nicht begriff, weshalb um diesen ungelenken, wie ein Kartenspiel zerpflückten Roman ein derartiges Spektakel entstehen konnte. Und doch – für uns ist Doktor Schiwago eine Beichte, die gebieterisch dazu aufruft, über uns selbst nachzudenken. Das Leben Pasternaks, das das Buch weit aufgetan durchzieht, hat den Roman in die Geschichte einer Generation verwandelt. Ein anderes solches Buch über die russische Intelligenz gibt es bislang nicht.
7
Die Jahre vergehen, die peinliche Geschichte um den Doktor Schiwago, die Ende der fünfziger Jahre Gesprächsstoff war in der ganzen Welt, beginnt in Vergessenheit zu geraten, und es ist notwendig, an sie zu erinnern und von ihr zu wissen, weil sie ohne jeden Zweifel eine wichtige Etappe in der Entwicklung der Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft bezeichnet. Einer Notiz von A. Gladkow zufolge wurde Boris Leonidowitsch durch objektive Ursachen dazu veranlaßt, die Arbeit am Roman wieder aufzunehmen. Hier ist diese Notiz. Sie ist verbunden mit der Erinnerung an den vergangenen Krieg:
Ich habe die Arbeit am Roman wieder begonnen, als ich sah, daß sich unsere Hoffnungen auf Veränderungen, die der Krieg Rußland bringen mußte, nicht erfüllen. Er ist vorübergebraust wie ein reinigender Sturm, wie ein Luftzug in einem geschlossenen Raum.
Unter anderem wird hier der Gedanke wiederholt, „der Krieg war… Rückkehr des Gefühls der Zusammengehörigkeit mit allen“. Von eben diesem Gefühl waren die besten Werke der Nachkriegszeit durchdrungen: Die Wolokolamsker Chaussee von Alexander Bek, Zwei in der Steppe von Emmanuil Kasakewitsch, die Novellen von Wassil Bykau und viele andere. Die Möglichkeit, die Wahrheit zu schreiben, tat sich auf. Vielleicht bewerten Historiker diese Tatsache dereinst als eine Art Wasserscheide, hinter der eine neue Etappe in der Entwicklung unserer Literatur begann. Diese aufscheinende Möglichkeit, die Wahrheit darzustellen, bewog Pasternak zum Weiterschreiben, obwohl er kaum an Veröffentlichung dachte: 1956 beendete er den Doktor Schiwago und bot ihn Nowy mir an. Die Redaktion schickte das Manuskript zurück mit einem Brief, der zwei Jahre später in der Literaturnaja gaseta veröffentlicht wurde, als Pasternak den Nobelpreis erhalten hatte und der weltweite Skandal schon zu voller Blüte gelangt war. Ich werde diesen langen Brief, der von B. Agapow, B. Lawrenjow, K. Fedin, K. Simonow und A. Kriwizki unterzeichnet wurde, nicht wiedergeben. Letzten Endes läuft er auf die Beschuldigung hinaus, Pasternak habe in der Meinung, die Revolution sei mißlungen, das Volk verleumdet und verraten und den Marxismus der „Unwissenschaftlichkeit“ bezichtigt. Auf das Wesen dieser Beschuldigungen, die das Recht auf eigenständiges Denken verneinen, werde ich nicht eingehen.
8
Als Pasternak das Manuskript des Doktor Schiwago zur Veröffentlichung nach Italien gab, sagte er zu Sergio d’Angelo:
Sie haben mich zu meiner eigenen Hinrichtung aufgefordert.
Die ganze Tragweite dieses Schritts zu beurteilen ist schwer. Seine unerhörte Kühnheit überdeckte die Furcht vor allem Ausländischen, die vom persönlichen Umgang bis zur Literatur reichte. „Warum willst du dir deine Biographie verderben?“ fragte mich mein älterer Bruder, als er 1956 erfuhr, daß ich nach Italien zur Olympiade fahre. Die psychologische Mauer zwischen uns und dem Westen war hoch und dick – Pasternak durchbrach sie mit einem einzigen Schlag. Das war eine Tat, die nicht nur Prophezeiung, die ihrem Wesen nach auch mit der Vergangenheit verbunden war. Das war eine Erneuerung der jahrhundertelangen Kontakte, eine Erinnerung an den historischen Weg Rußlands, und – das ist besonders wichtig – es war die freie Willensäußerung eines Menschen.
Natürlich haben bei der Verleihung des Nobelpreises politische Überlegungen ihre Rolle gespielt. Doch im Grunde war sie gerechtfertigt – Pasternak hat unschätzbar viel für die Entwicklung der russischen Literatur getan. Und der Preis wurde für das Gesamtwerk verliehen, nicht für den Roman Doktor Schiwago allein. Was aber setzte ein, als das geschah? Pasternak wurde geächtet, landesweit, ungeachtet der Tatsache, daß niemand (außer der Redaktion Nowy mir) den Roman gelesen hatte und demzufolge nicht objektiv über ihn urteilen konnte. Die Worte „landesweit geächtet“ mögen etwas rhetorisch klingen. In Wirklichkeit aber hatte es mit Rhetorik nicht das geringste zu tun. Auf Tausenden von Versammlungen, nicht nur unter Schriftstellern, in Hunderten von Städten wurde er zum Judas erklärt, zum Menschenhasser, Zyniker, Pasquillanten, Verleumder, Verräter, Renegaten, inneren Emigranten. Man nannte ihn einen bösartigen Kläffer, eine Kröte im Sumpf.
In Moskau fand am 31. Oktober eine Vollversammlung der Mitglieder des Schriftstellerverbands unter dem Vorsitz von S.S. Smirnow statt. Die Resolution – „Stimme der Moskauer Schriftsteller“ – wurde in der Literaturnaja gaseta vom 1. November abgedruckt. Ich führe ihren Wortlaut an:
Die Versammlung der Moskauer Schriftsteller unterstützt nach einer Diskussion über die Handlungsweise des Literaten B. Pasternak, die mit der Bezeichnung eines sowjetischen Schriftstellers und Sowjetbürgers unvereinbar ist, einmütig den Beschluß der leitenden Organe des Schriftstellerverbandes. B. Pasternak den Rang eines sowjetischen Schriftstellers abzuerkennen und ihn aus den Reihen der Mitglieder des Schriftstellerverbands der UdSSR auszuschließen.
Der selbstverliebte Ästhet und Dekadent B. Pasternak, der sich seit langem schon vom Leben und vom Volk abwandte, hat sich nun endgültig als Feind des Heiligsten eines jeden von uns, eines jeden sowjetischen Menschen – der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und ihrer unsterblichen Ideen – entlarvt.
Nachdem B. Pasternak den antisowjetischen verleumderischen Roman Doktor Schiwago geschrieben hatte, gab er ihn zur Publikation ins Ausland und beging damit Verrat an der sowjetischen Literatur, am Sowjetland und an allen sowjetischen Menschen.
Doch auch damit war das moralisch-politische Abgleiten des Verleumders nicht zu Ende. Als die internationale Reaktion die schmutzige Schmähschrift, den Roman Doktor Schiwago, in das Instrumentarium des ,kalten Krieges‘ gegen die Sowjetunion und das gesamte sozialistische Lager einreihte und B. Pasternak in ihrem Auftrag der Nobelpreis verliehen wurde, wies er ihn nicht zurück, sondern geriet über diese Wertschätzung seines Verrats in Entzücken. Endgültig zum Renegaten und Verräter geworden, sandte er ein Danktelegramm für dieses Almosen der Feinde und streckte die Hand nach den dreißig Silberlingen aus.
Mit Empörung und Zorn haben wir von der schändlichen, eines sowjetischen Schriftstellers unwürdigen Handlungsweise B. Pasternaks erfahren.
Was hat Pasternak im Sowjetland zu suchen? Wer braucht ihn, wessen Gedankengut bietet er feil? Hieße es nicht, diesen inneren Emigranten zum wirklichen Emigranten zu machen?
Möge das nicht zu beneidende Schicksal eines kosmopolitischen Emigranten, der die Interessen der Heimat verraten hat, sein Schicksal werden!
Die Versammlung wendet sich an die Regierung mit der Bitte, dem Verräter B. Pasternak die sowjetische Staatsbürgerschaft abzuerkennen.
Kein einziger ehrlicher Mensch, kein einziger Schriftsteller, keiner, dem die Ideale des Fortschritts und des Friedens teuer sind, wird ihm, der Heimat und Volk verkauft hat, mehr die Hand reichen!
Die Schriftsteller von Moskau sind immer und in allem mit ihrem Volk, mit der Kommunistischen Partei gewesen und sie werden es immer sein. Wir, die Schriftsteller der Hauptstadt unserer Heimat, werden unsere Reihen noch enger zusammenschließen, werden unsere unzerstörbaren Kontakte zum Leben noch aktiver pflegen, werden Partei, Regierung und Volk bei ihrer großen schöpferischen Arbeit unterstützen.
Die an der Debatte beteiligten Schriftsteller, heißt es im Kommentar der Literaturnaja gaseta, „stimmten überein, daß B. Pasternak mit seinem antisowjetischen verleumderischen Werk außerhalb der sowjetischen Literatur und der sowjetischen Gesellschaft steht, und billigten den Beschluß über seinen Ausschluß aus dem Schriftstellerverband der UdSSR einmütig.“
Ich bin nicht zu dieser Versammlung gegangen, habe vorgegeben, krank zu sein, meine Frau sprach mit dem Orgsekretär Woronkow, der zweimal anrief und mein Kommen verlangte. Nicht zum erstenmal habe ich mich „tapfer“ versteckt. Heute empfinde ich, wenn ich daran denke, Scham. Ich hätte hingehen und dagegen stimmen müssen. Am Tag der Versammlung aber war ich mit mir zufrieden: trotz der Drohungen Woronkows war ich nicht erschienen.
9
Die „landesweite Ächtung“ fand nicht nur in Zeitungsartikeln, Resolutionen und „Briefen von Werktätigen“ ihren Ausdruck. In der Prawda erschien ein Aufsatz von D. Saslawski unter der Überschrift „Rummel der reaktionären Propaganda um literarisches Unkraut“. Semitschastny, damals Sekretär des ZK des Komsomol, sagte in seiner Rede: „… ein räudiges Schaf haben wir in der Person Pasternaks“, der „genommen und dem Volk ins Gesicht gespuckt hat. Kein Schwein tut das, was er getan hat… Er hat geschissen, wo er aß…“
Boris Leonidowitsch erklärte der Schwedischen Akademie den Verzicht auf den Preis:
Im Zusammenhang mit der Wertschätzung, die die Gesellschaft, der ich angehöre, Ihrem Preis entgegenbringt, muß ich von der mir verliehenen unverdienten Auszeichnung Abstand nehmen. Ich bitte Sie, meinen freiwilligen Verzicht nicht als Beleidigung zu verstehen…
Freiwillig?
10
Wjatscheslaw Wsewolodowitsch Iwanow, der mit eigenen Augen sah, wovon ich (in gebotener Kürze) erzählt habe, ist überzeugt davon, daß Krankheit und Tod Pasternaks eng mit jener letzten schweren Prüfung zusammenhingen, die er 1958 hat über sich ergehen lassen müssen. Seine Buße war erzwungen – und das hat er in keiner Weise verheimlicht. Am klarsten sprechen davon seine Gedichte, darunter das großartige „Der Nobelpreis“.
Ich bin verloren, ein Tier in der Enge,
Irgendwo Menschen, Freiheit, Licht.
Hinter mir der Lärm der Menge,
Einen Ausweg sehe ich nicht.
Dunkler Wald, gefallne Bäume,
Tannen. Ein Ufer, ein Teich.
Hier wie da, versperrte Räume.
Komme, was wolle, alles ist gleich.
Was nur habe ich verbrochen,
Bin ich Mörder, bin ich Feind?
Der Welt hab ich vom Schicksal gesprochen
Meines Lands, das sie nun beweint.
Doch auch so, beinah am Ende,
Bin ich gewiß, es kommt die Zeit –
Der Geist des Guten überwindet
Die Macht von Zwietracht und Gehässigkeit.
Immer enger wird die Weite,
Schuld trag ich an andrem schwer –
Niemand steht auf meiner Seite,
Des Freundes Herz ist nicht mit mir!
Auch mit solchem Strick gefangen
Wünsch ich dennoch unverwandt –
Meine tränennassen Wangen
Abgewischt durch meine Hand.
(Nachdichtung: Jürgen Schlenker)
An all dem Erlebten hätte Boris Leonidowitsch eigentlich zerbrechen müssen. Tatsächlich aber ließ Pasternak die ganze Welt wissen, daß er ungebrochen ist. Daß die Buße nicht aus Furcht um sich, sondern um das Schicksal seiner Nächsten geschah. Daß ihn selbst der Tod nicht schreckte.
Am Tag nach der Beerdigung Boris Leonidowitschs brachte ich meine Eindrücke zu Papier. Viele taten es mir gleich, darunter A. Gladkow und anscheinend auch K. Paustowski. Meine Aufzeichnungen sind sehr unvollständig, ihre psychologische Genauigkeit steht über der der Tatsachen. Aber vielleicht verdienen sie gerade deshalb Beachtung. Ich nannte sie „Abschied“.
Bei Brjussow las ich über Tolstois Beerdigung, und mich beeindruckte die Ähnlichkeit mit der Pasternaks. Die gleiche anrührende Schlichtheit, nichts im vorhinein Bedachtes, nichts vorher Bestimmtes, alles geschieht wie in der Poesie, mit dem immer stärker hervortretenden Bewußtsein der Größe. „Auf Händen getragen wird der einfache Eichensarg ohne Leichentuch“, schrieb Brjussow, „etwas zurück drei Wagen mit Kränzen, deren Bänder im Schmutz schleifen… Alle gehen schweigend, niemand verspürt den Wunsch zu reden.“ Und weiter: „Wie wenige sind hier zusammengekommen. Alles in allem wahrscheinlich nicht mehr als drei- bis viertausend. Für ganz Rußland, für die Beerdigung Tolstois eine verschwindend kleine Zahl. Aber es ist auch alles getan worden, um der Beerdigung Tolstois ihre gesamtrussische Bedeutung zu nehmen.“ In gleicher Weise verfuhr man mit Pasternak. Damals war das mit Bitterkeit empfunden worden, jetzt aber mit dem Gefühl der Erleichterung, mit dem Bewußtsein, daß der Dichter genau so zu Grabe getragen werden mußte. Viele, darunter auch ich, waren entrüstet über die in der Wetschernaja Moskwa gedruckte Notiz mit der Mitteilung über den Tod des „Mitglieds des Litfonds B. Pasternak“. Manch einer bedauerte, daß kein offizieller Trauerakt stattfand, weil halb Moskau gekommen wäre, Boris Leonidowitsch das letzte Geleit zu geben. Aber wie sich in seinem Leben alles in etwas Neues, noch nicht Dagewesenes verwandelt hatte, so wurde auch diese seit vierzig Jahren erste nicht offizielle Beerdigung zu etwas noch nicht Dagewesenem. Nie zuvor hatten sich die dunklen und die lichten Seiten des Lebens in derartiger Schärfe vermischt. Viele, die sich für bedeutende Menschen hielten, erwiesen Pasternak – aus Angst um ihre Reputation – nicht die letzte Ehre. Und die Feiglinge, die auf die Meinung der bedeutenden Leute – aus Berechnung – viel gaben, zogen es vor, sich klammheimlich von dem Dichter zu verabschieden, damit niemand außer seinen Nächsten und den engsten Freunden Boris Leonidowitschs etwas davon erfuhr. Aus Angst, gesehen zu werden, gingen sie über die Datsche der Iwanows, über die Höfe zu den Pasternaks, „wie Diebe“, meinte die alte Kinderfrau, die lange Jahre im Hause Wsewolods gedient hatte. Wie jedes große Ereignis „offenbarte“ dieser Tod gleich einem Negativ Haltung und Zustand von Geist und Gefühl.
Lidia Nikolajewna und ich kamen am nächsten Morgen, aber Jewgenija sagte, es sei „noch nicht möglich“, und wir setzten uns in den Garten zu den Freunden. Der Iwinskaja begegneten wir am Tor, sie war völlig verzweifelt. In der Tiefe des Gartens, nicht weit vom Grab des kleinen Adrian Neuhaus, saßen Paustowski, Arseni Tarkowski und noch jemand auf einer Bank, alle waren niedergeschlagen, aber gefaßt. Am Tag der Beerdigung kamen wir zeitig, gegen ein Uhr, es war fast noch niemand da, und gingen sofort zu Boris Leonidowitsch. Er lag inmitten von Blumen, den Kopf im Nacken, mit eingefallenen Zügen, scharf traten die Augenbrauenbögen hervor, Stolz und Versöhnung trug sein Gesicht. Mir schien, in seinem linken Mundwinkel war ein kaum merkliches Lächeln. Sinaida Nikolajewna trat heraus, ruhig und gefaßt, sie hielt sich bewundernswert. Ich küßte ihre Hand.
Jemand meinte, Boris Leonidowitsch habe sich kein bißchen verändert. Das war nicht wahr: in seinem Gesicht hatte stets etwas Jungenhaftes aufgeblitzt, begleitet von schnellen, ebenfalls jungenhaften Bewegungen, wenn er einen schon beim ersten Wort verstand, wenn er einen mit Gedanken, Mutmaßungen, Vergleichen überhäufte, mit dem ganzen Wunder seiner Persönlichkeit und Poesie. Jetzt war das Gesicht das einer Skulptur, bleich und unbeweglich. Sinaida Nikolajewna sagte nur, daß er während der Krankheit abgemagert sei.
Immer mehr Menschen versammelten sich. Ich sah Paustowski, D. Shurawljowa. Alle, die einander liebten, waren gleichsam bemüht, sich zusammenzuschließen, wohl deshalb, weil dies ein Teil war der allgemeinen Liebe, die Pasternak entgegengebracht wurde. Lange standen wir im Garten, hier und dort verstreut, es wurden immer mehr. Gesprochen wurde davon, daß der schwedische König an Sinaida Nikolajewna ein Telegramm geschickt hatte, und Nehru an Chrustschow. Gesprochen auch über die Krankheit Boris Leonidowitschs, über die Hoffnung, er könne gesund werden, die in der dritten Woche aufgekeimt war. Immer noch war die ungewöhnlich natürliche Empfindung dieser Hoffnung, die man sich zu erhalten, die man zu verlängern trachtete, gegenwärtig und machte sich undeutlich bemerkbar in diesem langsamen Gehen durch den Garten, in der Sorge um die Frauen, die müde zu werden begannen, eine Empfindung, die von Minute zu Minute stärker wurde. Klavierspiel erklang. Der junge Wolkonski spielte Bach, dann Stanislaw Neuhaus, Judin. Dann sprach sich herum, Richter spiele, und alle versammelten sich vor einem Fenster hinter dem Haus. Er spielte lange, wunderschön. Shenja Pasternak, der am Fenster saß, beugte sich zurück, sagte etwas zu seiner schlanken, mädchenhaften Frau, die hinzugetreten war. Auch ihr Gesicht ruhig und gefaßt, ganz anders als am Abend, sie sagte etwas zu ihm, lächelte. Es war alles möglich: lächeln, sprechen, worüber auch immer, über das Allergewöhnlichste – es gab nichts, was die spontane, natürliche Abschiedszeremonie gestört hätte, die unmerklich, ohne großen Aufwand und ohne besondere Mühe, begonnen hatte.
Die Tür wurde geöffnet, und die Menschen begannen sich zu reihen zum Gang vorbei am Sarg. Die festgesetzte Zeit war um, war lange um, sie gingen und gingen. Schließlich, um die fünfte Stunde, zerstreute sich die Menge, die Kränze wurden sichtbar, und hinter den Kränzen wurde der Sargdeckel gebracht. Dann standen wir wieder lange in der Sonne, sahen zu den jungen Leuten, die nicht weit von der Außentreppe stehengeblieben waren. Endlich wurde er herausgetragen und – wie auf Verabredung – hochgehoben auf ausgestreckten Armen. Der Sarg schwebte über den Köpfen, und da, zum erstenmal, hörte ich Schluchzen, lautes Schluchzen, das aber sofort wieder verstummte. Pasternak wurde getragen wie Hamlet in dem bekannten englischen Stück, und es war, als beginne die Prozession sich bergan zu bewegen, immer höher, einem wolkenverhüllten Gipfel zu. Die Menge folgte dem Sarg langsam, und augenblicklich verloren sich alle aus den Augen. Die Fotokorrespondenten ließen ihre Apparate von Zeit zu Zeit klicken (sie richteten sie viele Male auf Paustowski). Beinahe alle waren sie Ausländer.
Das Tor wurde passiert. Voran schwebte schwankend der Sarg mit dem toten Pasternak, Sein „August“, den in diesen Tagen viele wieder lasen, mit seiner erstaunlichen prophetischen Kraft kam in Erinnerung. In diesem Gedicht hat er nicht nur sich, sondern auch uns beschrieben.
Viele, kaum daß sie das Tor hinter sich hatten, wandten sich nach links, gingen übers Feld, langgereiht, und hinterließen im Gras eine glänzende Spur.
Wir gingen hinter dem Sarg, auf der Straße. Zwei alte Frauen sprachen über die Schwester Pasternaks, die in Oxford lebte, ihr wurde das Visum zum Abschied verwehrt. Diese Frauen, so schien mir, waren Verwandte von Boris Leonidowitsch, sie ähnelten ihm mit ihren schmalen klugen Gesichtern.
Die Miliz hatte sich an der Straßengabelung postiert und stoppte die Autos. In der Menge erschienen noch einige Schriftsteller. Auch die Frauen derer, die sich nicht hatten überwinden können, selbst zu kommen, und sie geschickt hatten, ohne die beinahe komische Schmach für sich selbst zu bemerken oder zu begreifen.
Die Grenze des Friedhofs war erreicht, über bröcklige Erde ging es zu der Anhöhe mit den drei Fichten, wo das Grab ausgehoben war. Es waren noch mehr Menschen geworden, junge Leute waren mit Zügen gekommen, jemand erzählte, über dem Fahrkartenschalter hänge eine von Hand geschriebene Nachricht: „Der große russische Dichter Boris Pasternak ist tot. Die Beerdigung findet in Peredelkino dann und dann statt.“ Diese Nachricht wurde abgerissen, und sie wurde erneut angebracht.
Verwirrt und bedrückt stand ich weitab vom Grab und hörte fast nichts von der Rede V.F. Asmus’, nur vereinzelte Worte konnte ich verstehen. Seine Witwe Ariadna Borissowna hat mir später Teile dieser Rede zur Verfügung gestellt, die sich im Nachlaß von Valentin Ferdinandowitsch fanden. Es sind nur Splitter, aber sie vermitteln Geist und Bedeutung seiner Worte:
„Boris Leonidowitsch Pasternak, einer der größten russischen Schriftsteller, ist von uns gegangen. Er besaß eine gewaltige poetische Begabung, er war ein Meister der russischen poetischen Sprache, ihn zeichnete eine – nicht nur der Weite seines Gesichtskreises, sondern auch der Genauigkeit und des Scharfblicks wegen – seltene künstlerische Aufnahmefähigkeit für Musik, Bildhauerei, Malerei und darstellende Künste aus.
Zu einem großen Schriftsteller ließ ihn nicht nur diese Begabung werden. Zu einem großen Schriftsteller hat ihn das Bestreben und Können gemacht, mit den Mitteln seiner Kunst davon zu sprechen, was er als das Wichtigste für einen Menschen und Künstler erachtete: er forderte von sich und von seinen Künstlerkollegen, Kunst nicht als kurzweilige, ergötzliche, geschliffene Meisterschaft um der Meisterschaft willen zu begreifen, sondern als eine erklärende Meisterschaft, als eine, die das von ihm als Schriftsteller entdeckte besondere Verständnis der Lebenserscheinungen – für ihn selbst und durch seine Kunst für andere Menschen – verdeutlicht. Seine Begabung, sein Können unterwarf er mit unbeugsamem Willen dieser Aufgabe. Von anderen verlangte er nichts, was er nicht von sich selbst verlangt hätte. Wer aber an die Kunst nicht solche hohen Anforderungen stellte, blieb ihm gleichgültig. Das war nicht Hochmut, nicht Arroganz einer Dichterkoryphäe, sondern die Überzeugung davon, daß den Menschen nur der Künstler etwas geben kann, der etwas über das Leben zu sagen weiß und der dies kann, ohne andere zu wiederholen, und seien es noch so wahre Dinge, der es mit Worten zu sagen weiß, die geboren wurden in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten, im Arbeitsprozeß, im Feuer des eigenen Verstands, des eigenen Herzens.
Dieser Wesenszug stellt Pasternak in eine Reihe mit den bedeutendsten russischen Schriftstellern, mit Lermontow, Dostojewski, Lew Tolstoi. Das heißt keineswegs, daß alles, was Pasternak über Leben, Geschichte, die Wege der Kunst dachte, frei von Irrtümern gewesen wäre. Schriftsteller, die einzig und allein die Wahrheit verkünden und ohne Fehler sind, gibt es nicht. Pasternak lag mit der Gegenwart im Streit. Doch dieser Streit war zu keiner Zeit der eines erbitterten Konservativen. Natürlich war es kein Streit mit unserer Macht, es war nicht einmal ein Streit mit unserer Epoche. Es war ein Streit mit einer ganzen Reihe von Epochen, in denen die Menschen und die führenden Persönlichkeiten meinten, die Menschheit könne nur durch Kampf und Gewalt zu einer besseren Zukunft gelangen. Dieser Meinung konnte Pasternak nicht beipflichten. Er gehörte zu den Utopisten unter den Schriftstellern, zu den Verneinern der Gewalt, zu denen auch Lew Tolstoi zählte. Man mag diese Haltung für grundfalsch erachten, aber es war der Irrtum eines Menschen, in dem ein großes heißes Herz schlug, der die leidende Menschheit tätig liebte und der – zu seinem Unglück – nicht verstehen konnte, wie aus einer Verschärfung des Kampfes, aus einem Meer von Blut, aus moralischer Verwahrlosung, Verrohung und Abstumpfung, die bis heute große historische Umwälzungen begleitet haben, ein harmonischer, die Widersprüche überwindender, hoher Standard humaner Sittlichkeit, ein Aufblühen der Kultur erwachsen soll.
Drei Tage vor seinem Tod sagte er, daß es seine Berufung sei, gegen das Triviale in der Weltliteratur zu kämpfen. Alles Triviale in der Kunst, jede plumpe, seelenlose Nachahmung ohne Einfühlungsvermögen, ohne Offenherzigkeit, jede Selbstzufriedenheit von Literaten, die über nichts ernsthaft nachdenken und nichts wagen, war ihm verhaßt.
Er war Demokrat im besten Sinne des Wortes, Er liebte und achtete die werktätigen Menschen: Bauern, Handwerker, Intellektuelle. Müßiggang war ihm fremd, und er verzieh ihn auch niemand anderem, ebensowenig wie oberflächliches Herangehen an die Aufgaben der Kunst, wie Kapitulieren vor auftauchenden Schwierigkeiten oder Flucht vor der Kunst auf bereits vorhandenen, ausgetretenen und ebendeshalb zur Sackgasse geratenden Wegen. Und er wurde geliebt, von allen, ohne Ausnahme, von allen, die ihn in seinem Alltag, in seiner Lebensauffassung kennenlernten.
Er liebte seine Heimat – ihre Natur, ihre hohe geistige Kultur, ihre großen Künstler: Maler, Schriftsteller, Musiker. In autobiographischen Werken schrieb er – wie immer gedrängt, knapp, zielgerichtet, nur wenige Seiten – über Lew Tolstoi, Skrjabin, Block. Nicht sofort treten die Gestalten dieser Künstler hervor, die der Pasternaks, was die Einprägsamkeit betrifft, gleich sind. Dieses Verstehen, dieses Sehen sollte verletzen, sollte das Gefühl von Mißverhältnis, von Mißlingen in dem hervorrufen, was so unmittelbar nicht nur ihn persönlich, sondern – über ihn – die Kunst betraf. Um so erstaunlicher sind der Mut, die Bescheidenheit, Würde und Geduld, mit denen er sein nicht leichtes Schicksal in der Literatur hinnahm und trug. Er drängte sich der Gegenwart nicht auf, weil er sie achtete und genau wußte, daß die Gegenwart in einer kommenden Zeit sich ihm wieder zuwenden wird. Diese Zeit ist nicht allzu fern.“
Diese Rede bescherte Asmus viele Unannehmlichkeiten, er sollte von der Universität, an der er Professor der Philosophischen Fakultät war, gewiesen werden.
Noch jemand wollte sprechen, doch irgendein anderer, offenbar vom Litfond, schrie:
„Das Trauermeeting ist beendet!!!“
Aus der Menge wurde verlangt: „Laßt ihn sprechen!“, „So eine Schande!“, „So ein berühmter Dichter!“. Ein junger blasser Mann las stockend Pasternaks „Hamlet“.
Wieder schrie der vom Litfond:
„Das Meeting ist beendet! Das Meeting ist beendet!“
Und doch begann jemand zu reden – die in der Nähe des Grabs Stehenden sagten, es sei die religiöse Rede eines Sektierers gewesen, möglicherweise eines Baptisten. Der vom Litfond unterbrach ihn, er verstummte und zog sich zurück.
Der Sarg war schon hinabgesenkt worden, die Versammelten begannen Blumen ins Grab zu werfen. Das dumpfe Geräusch der auf den Sargdeckel fallenden Erde war zu hören – das ist immer bedrückend, an diesem Tage war es besonders schlimm. Alle waren verstummt. Ich spürte einen durchdringenden Blick auf mich gerichtet und sah, als ich mich umwandte, Woronkow, den Orgsekretär des Schriftstellerverbands, der auf das Gitter eines fremden Grabs gestützt dastand, mit gleichgültigem, unangenehmem, weibischem Gesicht. Die „staatliche Landvermesserin“ aus „August“ kam mir in den Sinn.
Niemand ging. Ich begann meine Leute zu suchen und fand sie in der Menge. Alexander Jaschin empfing mich mit verweinten Augen. Er sagte: „Der Sektierer hat alles verdorben.“
Doch etwas zu verderben war unmöglich.
Paustowski stand mit den Freunden abseits, alle sahen müde aus. Ljubow Michailowna Ehrenburg, blaß, ja sogar grauer geworden, wie stets aber ungewöhnlich natürlich, aufmunternd, fuhr uns mit dem Auto nach Hause. (Ilja Grigorjewitsch weilte im Ausland.) Die jüngeren Leute blieben bis zum Abend beisammen und lasen Gedichte. Auch am nächsten Tag versammelten sich viele Menschen. Kolja, mein Sohn, sagte, als er zurückkam, daß zwischen den Blumen ein Zettel lag: „Dem Edelmütigen“.
Wenjamin Kawerin, Sinn und Form, Heft 2, März/April 1988
(Aus dem Russischen von Jürgen Schlenker)
Am 31. Mai 1960 morgens um acht Uhr wurde ich in meinem kalten, kleinen Zimmer, in dem ich zwanzig Jahre fror, durch ein Klopfen an die schiefe Tür geweckt. Ich öffnete und erblickte eine alte Frau, die mir einen kleinen, hastig abgerissenen Zeitungsfetzen übergab. Auf ihm stand in nervöser, flüchtiger Schrift:
Gestern starb Pasternak. Komm.
Es folgte die Unterschrift meines Bekannten, meines Arztes, der mit mir in derselben Straße wohnte. Ich warf mir etwas über, wohl ein zerlumptes Hemd, das mir jemand wegen meiner Armut geschenkt hatte, und lief, vermutlich barfuß, hinunter zu meinem Bekannten. Der sagte mir, daß er etwa vor einer halben Stunde BBC gehört habe. Die Sendung sei programmgemäß gewesen, aber der Sprecher habe sie für eine Sondermeldung unterbrochen und in russischer Sprache mitgeteilt, daß gestern in oder bei Moskau der Dichter Pasternak gestorben sei. Im weiteren habe man kurz seine Biographie wiedergegeben, auf das schlechte Verhältnis unseres Staates zu ihm verwiesen und Trauermusik gespielt. – Als Pasternak lebte, bin ich ihm nicht begegnet. Ich scheute mich, zu ihm zu gehen. Ich wußte nicht, was ich einem so großen Dichter hätte sagen können. Aber jetzt, da ich von seinem Tod erfuhr, nahm ich mir vor, sein Haus ausfindig zu machen. Ich lief zu einem Kiosk und kaufte die neuesten Zeitungen. Mir war klar, daß in der sowjetischen Presse nichts über den Tod Pasternaks stehen würde. Aber ich kaufte sie in der Hoffnung, in ihnen die Adressen und Telefonnummern der Redaktionen zu finden. Mit ihrer Hilfe gedachte ich zu erfahren, wo Pasternak gestorben war und wie ich von ihm Abschied nehmen könnte. Danach ging ich in ein Geschäft und kaufte reine, einfache, aber neue Kleidung, um nicht ungepflegt vor die Verwandten Pasternaks zu treten. Dann fuhr ich von dem ländlichen Ort, in dem ich damals lebte, nach Moskau und rief die Redaktionen der Moskauer Zeitungen und sogar die Leitung des sowjetischen Schriftstellerverbandes an. Ich fragte nach dem Wahrheitsgehalt der Verlautbarungen westlicher Radiosender. Sowie man meine Frage hörte, legte man in einigen Redaktionen auf. In anderen sagte man, daß man es nicht wisse und nicht wissen wolle. Und nur eine Redaktion, die der Moskauer Literaturnaja Gaseta, behandelte mich besser. Eine Frau, der Stimme und der Intonation nach eine alte, gebildete Russin, sagte, es könne nicht sein. Wäre er gestorben, hätte unsere Presse es gemeldet. Ich beharrte: „Bitte fragen Sie Ihre Kollegen.“ Die Frau ging, es zu tun. Dann kam sie nochmals ans Telefon und sagte, schon kälter, unfreundlicher: „Ja, er ist gestorben.“ Ich fragte: „Und wo?“ Sie sagte: „Wenn Sie solch ein Verehrer der Poesie sind, sollten Sie es wissen: sicher dort in Peredelkino.“ Ich wollte sie nicht enttäuschen, aber ich wußte nicht, wo sich dieser Ort befindet. Da kam mir der Gedanke, zu allen neun großen Moskauer Bahnhöfen zu fahren und die Fahrpläne oder die Aushänge auf den Bahnsteigen zu studieren, um möglicherweise so das Wort „Peredelkino“ zu finden. Ich klapperte mehr als die Hälfte dieser Bahnhöfe ab, und auf dem Kiewer Bahnhof fand ich Peredelkino im Fahrplan der Vorortzüge. Und es stellte sich heraus, daß es dorthin nur 25 Minuten sind. Ich setzte mich in einen Zug und begann noch vor der Ankunft die Leute nach Pasternaks Haus zu fragen. Niemand wußte Bescheid. Ich mutmaßte, daß den Einwohnern nahegelegt worden war, sich über Pasternak auszuschweigen. Später erkannte ich, daß es sich nicht so verhielt, sondern die Leute seinen Namen einfach nicht kannten, weil nur wenige Menschen die Namen der großen Dichter kennen, die mit ihnen leben. Ich verließ den Bahnhof und fragte weiter. Ich traf einen jungen Mann, der wie ein Student oder Aspirant aussah. Er sagte: „Vermutlich dort in der Schriftstellersiedlung“ und zeigte mir die Richtung. Nach ein paar Schritten erblickte ich einen Mann neben seinem Auto. Ich fragte ihn, in welchen Teil Peredelkinos er fahre. Er sagte, in die Schriftstellersiedlung, und lud mich ein zuzusteigen. Er fragte, welchen Pasternak ich meine, doch nicht etwa den, der den antisowjetischen Roman geschrieben habe. Ich entgegnete, genau den und daß sein Roman nicht antisowjetisch sei und die Zeit komme, da man ihn drucken werde. Übrigens bestünde das Hauptwerk dieses genialen, gestern verstorbenen Dichters, nicht in seinem Roman, sondern in den Gedichten. Meine Worte entsetzten den Mann. Er forderte mich auf auszusteigen, hielt mich dann aber doch zurück und sagte, womöglich, weil sich sein Gewissen regte: „Hier gibt es das ,Haus des Schaffens‘, ein Schriftstellerheim, fragen Sie dort.“ Ich ging zu diesem Haus, einer Art Hotel für Schriftsteller. Vom Grundstück kam ein Auto. Am Steuer saß ein Mann mit einem sehr klugen, kalten, geradezu jesuitischen Gesicht. Ich folgerte, dies müsse ein Schriftsteller, ein berühmter Schriftsteller, einer der Feinde Pasternaks sein: Konstantin Fedin. Ich liebe Fedin nicht. Ich verstehe, daß er ein guter Stilist ist und seine Romane eine gute Komposition aufweisen. Aber ich denke, daß es ihm an Tiefe fehlt und daß er, obwohl er die Dichtung Pasternaks verstand, sich ihm gegenüber schlecht verhielt. Dann aber sah ich, daß es sich nicht um Fedin handelte. Ich fragte: „Wo ist die Datsche Pasternaks?“ Und ohne mich anzusehen, sagte jener feindselig und kalt: „Die dritte Datsche.“ Aber er verriet mir nicht die Straße. Ich ging einfach weiter und fragte vor der nächsten Nummer 3: „Ist dies das Haus Pasternaks?“ „Nein.“ Ich erwiderte: „Aber man sagte mir: Nummer 3.“ „Ja, Nummer 3, aber eine andere Straße. Man hat Sie genarrt.“ Schließlich fand ich die richtige, es war die Pawlenkostraße. Auf ihr sah ich ein schönes, schwarzlackiertes, offensichtlich ausländisches Auto hin und her fahren. Ich erriet, daß in ihm ein Ausländer saß, der wie ich von Pasternak Abschied nehmen wollte. Als der Wagen hielt, trat ich näher und sah, wie ein elegant gekleideter Fremder in teurem blauem Anzug und schneeweißem Hemd, behängt mit allen möglichen Film- und Radioapparaten, ausstieg. Ich hielt ihn für einen westlichen Korrespondenten und fragte, ob dies das Haus Pasternaks sei. Er bejahte. Mich musternd, fragte er zurück: „Und Sie, wie konnten Sie in diesem Land davon erfahren?“ Ich entgegnete: „Nur dank des englischen Rundfunks.“ Wir gingen vom Gartentor zur Haustür. Der Fremde sagte: „Wir werden ihn kaum zu sehen bekommen. Wahrscheinlich bringt man ihn gerade ins Leichenhaus.“ Ich dachte, schlecht denkt er von unserem Land. Aus dem Haus kamen uns zwei Männer entgegen, ein alter und ein junger. Als sie uns erreicht hatten, entspann sich zwischen dem Alten und dem Fremden auf französisch und russisch ein Gespräch. Ein paar Meter abseits stehend, verstand ich einige russische Fetzen: daß der Alte ein Bruder Pasternaks, der junge Mann hingegen ein Sohn dieses Bruders, also ein Neffe Pasternaks war und der Fremde der Korrespondent einer der auflagenstärksten französischen Zeitungen oder Zeitschriften. Der Fremde bat um Verzeihung dafür, daß er erst jetzt komme konnte, weil er in Moskau nichts vom Tod Pasternaks gehört habe. Von diese Tod erfuhr er von seinem Pariser Chef, der ihn tadelte, daß er nicht meldete, was die ganze Welt wisse. Ich hatte Hemmungen, auf Pasternaks Bruder zuzugehen. Ich war ärmlich gekleidet, besonders im Kontrast zu dem exklusiven Fremden. So näherte ich mich dem Neffen. Ich sagte, daß ich gern von Pasternak Abschied nehmen möchte und daß ich einen großen Teil seines Werkes auswendig kenne. Ich fragte, wann, woran und wo Pasternak gestorben sei. Der Neffe antwortete: „Gestern, am 30. Mai spätabends gegen 23.35 Uhr. Und nicht an einem Infarkt, auf den hin man ihn fälschlicherweise behandelt hatte, sondern an einem Streukrebs mit Ursprung in der Lunge und Metastasen in der Kehle, den großen und kleinen Gefäßen der Bauchhöhle und um den Herzmuskel.“ Ich fragte, ob man ins Haus dürfe. Man bat mich zu warten, weil drinnen gerade Bildhauer die Totenmaske abnähmen… Eine Frau, die eine sehr gute Beziehung zu Pasternak hatte und über dreißig Jahre seine Freundin war – nicht erotisch, sondern in Seelenfreundschaft –, war Jelena Jefimowna Taiger. Sie war Kunstwissenschaftlerin, Autorin wissenschaftlicher Arbeiten über Plastik und Malerei. Als sie erfuhr, daß Pasternaks Tod sehr bald bevorstand – die Diagnose „Krebs“ wurde erst vier Tage vor dem Ende gestellt –, rief sie alle namhaften Moskauer Bildhauer an, die sie persönlich kannte, und bat sie, sich darauf vorzubereiten, innerhalb weniger Stunden nach dem Ableben Pasternaks die Totenmaske abzunehmen. Da Pasternak noch lebte, fiel ihr das natürlich schwer. Doch hielt sie es für ihre Pflicht vor der Weltkultur, rechtzeitig einen Bildhauer zu finden, der sich nicht vor möglichen Repressalien fürchtete. Aber die berühmten Bildhauer weigerten sich. Jelena Jefimowna kannte Charaktere und Lebensumstände aller Moskauer Bildhauer und wandte sich nun an einen mittelmäßigen namens Wilemski, weil sie wußte, daß der niemals Zeitung las und so vermutlich nichts von Pasternaks geringem Ansehen wußte. Sie sagte ihm, ein guter Dichter sei gestorben, ein Freund, zudem Jude. Der Bildhauer war auch Jude, und deshalb willigte er ein…
Ich saß im Garten und wartete darauf, ins Haus zu gelangen. Zu mir gesellte sich ein Unbekannter und begann mich darüber auszufragen, welche Werke Pasternaks ich gelesen habe. Offenbar sollte er dienstgemäß herausfinden, was für einer ich sei. Als er begriff, daß ich kein Antikommunist, kein Sowjetgegner, sondern ein Liebhaber der Poesie bin, ließ er mich in Ruhe. Hatte er mich zunächst ausgefragt wie einer, der nichts von Pasternak weiß, so sagte er mir jetzt sogar, daß da die zweite oder erste Frau Pasternaks komme. Ich wußte weder, wie viele Frauen Pasternak hatte, noch sonst etwas über sein Privatleben. Ich kannte nur sein Werk. Ich ging die erste Frau begrüßen und fragte sie: „Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen an solch einem Tag behilflich sein?“ Sie sagte: „Vermutlich nicht“ und ging weinend weiter. An der niedrigen Treppe standen vier schöne ältere Russinnen. Obwohl ich schon das Einverständnis von Pasternaks Neffen besaß, fragte ich anstandshalber: „Darf man hinein?“ Eine antwortete: „Ich bin hier auch nicht die Hausherrin.“ Als ich später Freunden Pasternaks diese vier Frauen beschrieb, sagten sie, daß eine wahrscheinlich Olga Wsewolodowna Iwinskaja war, jene Frau, die Pasternak in den letzten vierzehn Jahren seines Lebens geliebt hatte. Eine andere war, wie ich vermute, die Witwe des Komponisten Sergej Prokofjew. Ich wartete noch ein paar Minuten, dann ging ich ins Haus. Drinnen erblickte ich zur Rechten ein sehr kleines Bad, zur Linken eine winzige, ärmliche Küche, die winzigste, die ich in meinem Leben gesehen habe. Danach ging ich in das einzige große Zimmer der ersten Etage dieser zweigeschossigen Datsche. Das Zimmer war geräumig, aber sparsam eingerichtet. An den Wänden standen schöne, wiewohl alte und nicht wertvolle Büffets, Anrichten und Schränke, in einigen von ihnen befand sich Porzellan. Da waren ein kleiner, schon älterer Fernseher und ein häßlicher mittelgroßer Kühlschrank. An den Wänden hingen Pastelle, Gouachen, Aquarelle und Ölbilder. Ich nehme an, daß es sich um Arbeiten Leonid Pasternaks, des Vaters von Boris Pasternak, handelte. Der Neffe führte eine ältere, noch schöne Frau, ich vermute, die Frau Pasternaks, zu mir und sagte: „Hier ist jemand gekommen, der von Onkel Borja Abschied nehmen möchte.“ Die Frau fragte: „Kannte er Sie?“ Ich verneinte, erwähnte aber, daß ich schon mehr als ein Dutzend Jahre zweihundert, dreihundert seiner ungefähr sechshundert Gedichte auswendig kenne. Und ich fragte: „Entschuldigen Sie, sind Sie ein Mitglied der Familie?“ Und sie, angeregt durch meine Worte, erwiderte humorvoll: „Ich bin seit mehr als einem Dutzend Jahren seine Frau.“ Ich fragte: „Darf man hinein?“ Sie sagte: „Warten Sie, wir schreiben gerade die Todesanzeige für die Zeitung.“ Später erfuhr ich, daß in den großen Städten wie Moskau, Leningrad und Kiew Anzeigen über den Tod eines Menschen nicht von der Familie des Verstorbenen oder von Freunden angenommen werden, sondern von einer der Organisationen, welchen der Verstorbene angehörte. Aber Pasternak war aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden. Da erinnerte sich jemand, daß man vergessen hatte, ihn aus dem Litfonds zu werfen. Und er gab der Familie den Rat die Todesanzeige vom Litfonds unterzeichnen zu lassen. Diese formulierte jetzt die Frau Pasternaks, unterstützt von einem mitfühlenden Schriftsteller, vermutlich Kawerin. Ich wartete noch eine Weile und betrat dann das Zimmer, in welchem Pasternak gestorben und nun aufgebahrt worden war. Es war ein kleines Zimmer von etwa zehn, elf Quadratmetern und mit zwei kleinen Fenstern, von denen eins verhängt war. Die Decke war niedrig, die Wände mit billigen grauen Tapeten beklebt. Möbel gab es nur wenige: zwei oder drei Stühle, einen Schemel. An den Wänden hingen Gemälde, wohl von Leonid Pasternak. Der einzige kostbare Gegenstand im Zimmer war ein Lüster an der Decke. Und unter diesem Lüster, in der Mitte des kleinen Zimmers, lag der tote Pasternak. Er ruhte auf einer Art Feldbett, bei uns in Rußland Raskladuschka genannt. Sein Kopf war auf zwei mittelgroße Kissen gebettet. Das Gesicht war bleich, aber noch nicht gelb, angenehm matt, noch beseelt, mit geschlossenen Augen, wahrscheinlich in den Todesqualen zerbissener Unterlippe und spitz gewordener Nase. Sein Ausdruck war erhaben, entrückt, beinahe religiös. Und als ich später die Zeichnung „Pasternak auf dem Totenbett“ von Magdalena Sisowa sah, empfand ich, daß sie Pasternaks Totengesicht wahrhaftig wiedergibt. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, den er, wie ich später hörte, selten angehabt hatte. Gewöhnlich ging er sehr einfach gekleidet. Unter der Jacke Hemd und Halstuch. Die untere Körperhälfte war in ein weißes Laken gehüllt. Pasternak umstanden, ich zählte sie, achtzehn Menschen. Eine der Frauen, die ihm zu Füßen stand, weinte. Sie trug keine Strümpfe, und ihre Füße steckten in einfachen Hausschuhen. Ich vermute, daß dies die Haushälterin Tanja war, von der Pasternak manchmal Geld lieh, weil dieses bei ihm selten reichte. Er brauchte es für den Unterhalt seiner Angehörigen, seiner ersten und zweiten Familie, für die Frau, die er liebte, und für viele Opfer der Stalinschen Willkür… Möglicherweise war keine unserer Berühmtheiten bei dem toten Pasternak. Mit der ihnen eigenen Feigheit und Dummheit, ihrem Unverständnis für die Poesie unserer Dichter, verdorben vom idiotischen Stalinschen Regime, wollten oder konnten sie nicht kommen. Und so hatte ich unbekannter, kleiner Mann und gewöhnlicher Liebhaber der Dichtung die einmalige Möglichkeit, zwei Stunden am Totenbett des großen Dichters zu stehen. Im Weggehen fragte ich den Neffen Pasternaks, wann und wo die Beisetzung sein werde. Er sagte mir, daß das Begräbnis am 2. Juni auf dem hiesigen Friedhof stattfinde. Ich fragte, ob es nicht womöglich an einem anderen Ort sein werde und spielte damit darauf an, daß die Macht es so einrichten könnte, um die Öffentlichkeit von der Teilnahme am Begräbnis auszuschließen. Der Neffe erwiderte, dies sei nicht zu befürchten. Wie ich später erfuhr, fand zwischen dem 31. Mai und dem 2. Juni die Aussegnung Pasternaks nach dem russisch-orthodoxen Kirchenritual statt. Dieses Totenamt wurde nicht in der Kirche (es gibt Legenden, daß man Pasternak dorthin trug), sondern in der Datsche gehalten. Zelebriert wurde das Totenamt auf Anregung einer Freundin Pasternaks, der Bildhauerin Soja Afanassjewna Maslenikowa, die den Geistlichen der Kirche von Peredelkino, den Archimandriten Jossif sowie den Diakon und einen kleinen Frauenkirchenchor auf die Datsche einlud. In den Nächten vor dem Begräbnis las eine Gläubige die Psalmen Davids.
Am 1. Juni fand im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums ein Konzert mit dem „Requiem“ Mozarts statt. Weil es sich um ein Requiem handelte, gestand ich mir das Recht zu, ungeachtet des bevorstehenden Begräbnisses Pasternaks hinzugehen. Ich besaß ein Abonnement. Außerdem hatte ich den Gedanken, bei dieser Gelegenheit den Leuten von Pasternaks Tod zu berichten. Ich ging zum Konzert, durchquerte das Parkett und beide Ränge, und immer wenn ich Bekannte traf, erzählte ich ihnen, absichtlich sehr laut, daß die ganze Reihe es hören konnte, vom Tod Pasternaks und dem am 2. Juni stattfindenden Begräbnis. So gingen dank meiner Aktion viele Musikliebhaber zu der Beerdigung. Am Morgen des Begräbnistages flickte ich den abgetragenen Anzug, den mir jemand geschenkt hatte, an sechs Stellen. Dann ging ich Blumen kaufen… Ich fuhr nach Moskau zum Kiewer Bahnhof. Vorm Umsteigen in den Vorortzug fielen mir drei Menschen auf, die sich englisch unterhielten und fröhlich russisches Eis aßen. Das, dachte ich, sind bestimmt amerikanische und englische Korrespondenten auf dem Weg zum Begräbnis Pasternaks. Ich wollte mit diesen Menschen nicht in einem Wagen sitzen. Ich setzte mich in einen anderen und überlegte, ob hier jemand zur Beisetzung fahre. Niemand hatte Blumen. Schon dachte ich, allein zu fahren und womöglich verhaftet zu werden. In Peredelkino machte ich mich allein auf den Weg zum Haus Pasternaks. Da sah ich vor mir drei Menschen, von denen einer Blumen trug. Und hinter mir entdeckte ich jene drei von vorhin, die auch jetzt wieder englisch sprachen… Ich näherte mich dem Haus und sah auf der Straße etwa siebzig Menschen stehen oder sitzen, die sich nicht entschließen konnten, durchs offene Tor zu gehen. Ich tats und erblickte vielleicht tausend, vielleicht anderthalbtausend Menschen. Es waren sehr unterschiedliche Leute. Einige hatten hochintelligente Gesichter, aber da waren auch ganz einfache Leute, alte, ungebildete Frauen und neugierig herumlaufende Kinder. Es waren so viele Menschen und so wenig Platz, daß die Leute unbeabsichtigt die Blume und verschiedenen Anpflanzungen Pasternaks beschädigten und von anderen deswegen beschimpft wurden. Vor der Tür zum Haus standen, ich zählte, zweiundvierzig Menschen, offenbar die letzten in der Reihe zum Sarg. Ich erriet, daß man schon geschlossen hatte. Trotzdem trat ich hinzu. Neben mir stand eine Frau in Trauerkleidung. In ihren Händen hielt sie die neueste Nummer der Prawda. Ich sah die Überschrift „Zauberer der Poesie“. Ich dachte: „Haben sie trotzdem über Pasternak geschrieben und ihn einen Zauberer der Poesie genannt?“ Doch war dieser Aufsatz nicht über Pasternak, sondern über den tschechischen Dichter Nezval, den Pasternak unter anderem nachgedichtet hatte. Das Veröffentlichungsdatum dieses ArtikeIs hatte keine Beziehung zu Nezval, war weder Geburts- noch Todestag. Die Prawda hatte vermutlich aus reiner Bosheit am Tag der Beisetzung Pasternaks einen Artikel über einen anderen Dichter gedruckt. Verfasser des Aufsatzes war der achtbare Dichter Kirsanow. Und die Frau mit der Prawda sagte, daß sie Kirsanow persönlich kenne und er sich zu solch einer Gemeinheit nicht hergegeben hätte. Vor dem Haus erschien eine schöne junge Frau, sicher ein Mitglied der Familie. Und ich fragte: „Darf man ins Haus? Wird noch ein Einlaß sein?“ Sie verneinte. Da nahm ich allen Mut und alle Dreistigkeit zusammen und zwängte mich gewaltsam ins Haus. Pasternak lag nicht mehr in jenem kleinen Zimmer, in welchem ich ihn am Tag nach seinem Tod gesehen hatte, sondern in dem größeren, von mir bereits beschriebenen, und nun im Sarg. Sein Gesicht war wenig verändert, aber in den Händen hielt er nach russisch-orthodoxem Brauch ein kleines weißes Tuch. Ihn umstanden ungefähr zwanzig Menschen. Ich konnte nicht gleich hinzutreten, weil ein kahler Greis lange dort verweilte. Ich nehme an, daß dies Pasternaks Freund Viktor Schklowski war. Als er zurücktrat, näherte ich mich dem Sarg. Ich legte einen Teil der Blumen meines großen Straußes nieder und erlaubte mir, Pasternaks Hand zu küssen. Ich wollte auch die Stirn küssen, fand aber, kein Recht dazu zu haben. Ich trat zurück und kniete vor dem Sarg nieder. Dann erhob ich mich und küßte doch die Stirn des Toten. Auf der anderen Seite des Sarges stand die letzte Frau Pasternaks, Sinaida Nikolajewna, und hinter ihr ihr Sohn, der damalige Student Leonid Borissowitsch Pasternak. Er schaute über die Schulter seiner Mutter, als wolle er ihr zu verstehen geben, daß sie nicht allein, daß ihr ein Sohn geblieben sei. Etwas abseits stand ein Mann in den Vierzigern. Ich nehme an, daß dies Pasternaks älterer Sohn Jewgeni Borissowitsch war. Ich hörte, wie er zu jemandem sagte, daß man acht Männer finden müsse, den Sarg hinauszutragen. Ich trat zu ihm und sagte: „Dürfte ich einer dieser acht sein?“ Jewgeni Borissowitsch musterte mich. Vielleicht erinnerte er sich meiner als desjenigen, der sich schon am Tage nach dem Tod Pasternaks erkühnt hatte, hierher zu kommen, und stimmte zu. Dann sagte er: „Bitte gehen Sie nun aus dem Zimmer, um den Verwandten die Möglichkeit zu geben, Abschied zu nehmen.“ Aber niemand verließ den Raum. Von irgendwoher ertönten Trauerklänge Bachs. Ich fragte mich, wo der Flügel stand. Später begriff ich, daß selbst dies größte Zimmer in der ersten Etage viel zu klein für einen Flügel war. Man hatte ihn auf die Terrasse gestellt. Ehe man den Leichnam Pasternaks hinaustrug, spielten dort nacheinander fünf Pianisten, unter ihnen drei bedeutende: der enge Freund Pasternaks, der große sowjetische Klavierpädagoge und Lehrer Swjatoslaw Richters, Heinrich Neuhaus, Swjatoslaw Richter selbst und die beste russische Pianistin und Professorin von vier Konservatorien Maria Judina. Außer ihnen noch der Sohn von Heinrich Neuhaus, Stanislaw Heinrichowitsch Neuhaus, und der Pianist und Komponist Wolkonski, der entfernte Verwandte Lew Tolstois und Sohn eines weißrussischen Emigranten, der, in der Schweiz geboren, in jenen Jahren in der Sowjetunion lebte und später in die Schweiz zurückkehrte… Es vergingen einige Minuten, dann sah ich, wie sich die Träger dem Sarg näherten. Es waren ihrer nicht acht, sondern zwölf. Wir hoben den Sarg und schickten uns an, ihn hinauszutragen. Mir war rätselhaft, wieso ich mich bei meiner Körpergröße auf die Zehenspitzen stellen mußte, um zu spüren, daß ich den Sarg nicht nur symbolisch, sondern leibhaftig trage. Erst später begriff ich, daß sich jeder von uns bemühte, den Sarg so hoch wie möglich zu heben. Und wir trugen ihn hoch, trugen ihn wie eine Fahne. Während wir so die engen Türen durchquerten, erinnerte ich mich an den gemeinen Artikel des Journalisten David Soslawski, der früher dem Zionismus nahestand und den Lenin einen gemeinen, dummen Lumpen genannt hatte. Um seine Vergangenheit vergessen zu machen, fing er an, einige Jahre lang verleumderische, üble Aufsätze gegen zwei große russische Dichter jüdischer Herkunft zu schreiben: Pasternak und Mandelstam. Und in den ersten Novembertagen des Jahres 1958, auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen Pasternak, hatte Soslawski in der Prawda unter der Überschrift „Lärm der reaktionären Propaganda um einen literarischen Kosakenhauptmann“ ein Pamphlet gegen Pasternak veröffentlicht. In dieser Schmähschrift, die ich seit dreißig Jahren aufbewahre, zählte ich fünfzig Beschimpfungen. Und in jenem Aufsatz schrieb Soslawski, daß man Pasternak eine schöne große Datsche gegeben habe, er sich aber schlecht benehme. Das ging mir durch den Kopf, als wir den Sarg hinaustrugen… Als wir in den Vorgarten traten, hob ich den Blick und bemerkte, daß man uns fotografierte, von links, von rechts, und um uns herum stand die sich teilende Menge. Auf mich kamen Leute zu und baten mich beiseite zu treten; sicher waren es Freunde und Verwandte Pasternaks, die mehr Recht als ich hatten, den Sarg zu tragen. Deshalb trat ich zurück und betrachtete den Trauerzug. Den Sargdeckel trugen die Schriftsteller Sinjawski und Daniel, die später für ihre angeblich antisowjetischen Werke zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Kränze waren es nur wenige. Ich war bei den Begräbnissen zweier Genies der russischen Kunst, dem von Pasternak und fünfzehn Jahre später dem von Schostakowitsch in Moskau auf dem Friedhof Nowodewitschi. Auf dem einen wie auf dem andern waren dreitausend Menschen. Aber während ich auf dem Begräbnis von Schostakowitsch zweihundert Kränze zählte, waren es auf dem von Pasternak nur fünf – weil die Leute Angst hatten. Einer der Kränze war anonym… Über die übrigen vier kann ich sagen, daß einer von dem Schriftsteller Kornej Tschukowski stammte, einer von Lydia Kornejewna Tschukowskaja (der Tochter Tschukowskis), einer vom Schriftsteller Wsewolod Iwanow und einer vom Professor der Philosophie Asmus, dem einzigen Redner auf dem Begräbnis Pasternaks. Es versteht sich, daß Vertreter der Macht nicht zugegen waren. Den Zeitungen entnahm ich, daß am Tag der Beerdigung Pasternaks die sowjetische Regierung, Chrustschow und seine Helfer, damit beschäftigt waren, im Moskauer Polytechnischen Museum eine Ausstellung englischer Kunststofferzeugnisse zu besichtigen…
Manchmal kommen zu den Begräbnissen großer Dichter nur wenige Leute. So war es bei Puschkin. Und auch bei Block. Dem nicht so großen Majakowski hingegen folgten 150.000 Menschen zum Krematorium, nachdem Stalin verboten hatte, ihn am Roten Platz beizusetzen, denn: „Sowjetmenschen enden nicht durch Selbstmord.“ … Die meisten der berühmten Schriftsteller nahmen am Begräbnis Pasternaks nicht teil. So fehlten beispielsweise Scholochow, Leonow und andere bekannte offizielle Prosaisten. Nicht gekommen war der Freund und Nachbar Pasternaks, Wsewolod Iwanow, der sich zu dieser Zeit auf der Krim befand. Nicht kommen konnte der Pasternak gleichfalls verbundene Nachbar, der Schriftsteller, Philologe und Psychologe Kornej Tschukowski, der ins 79. Jahr ging und krank zu Bett lag. Auch nicht die große russische Dichterin und Freundin Pasternaks Anna Achmatowa, die sich im Krankenhaus befand. Ilja Ehrenburg, der eine gute Beziehung zu Pasternak hatte, war zu dieser Zeit Mitglied der sowjetischen Delegation auf einem Friedenskongreß in Stockholm…
Nun will ich diejenigen nennen, die dem Sarg folgten. Zunächst die Mitglieder der Familie und die Frauen, die Pasternak liebten und von ihm geliebt wurden… Aus meiner Sicht, eines Menschen also, der das Werk des Dichters kennt und weiß, welchen Frauen er seine Gedichte widmete, waren es nicht weniger als fünf Frauen, denen er schöne Liebesgedichte zueignete. Das waren seine erste Frau, Jewgenija Wladimirowna, die zweite Frau Sinaida Nikolajewna, drittens eine Frau, die er liebte, obwohl sie nicht seine Frau war, Olga Wsewolodowna Iwinskaja, und zwei Frauen, denen er in seiner Jugend einen Heiratsantrag machte, die sich ihm aber verweigerten. Das waren Ida Wyssozkaja und eine Frau mit dem Doppelnamen Winograd-Dorodnowo. Und es freut mich, daß von diesen fünf Frauen drei dem Sarg folgten… Von den Verwandten war auf dem Begräbnis zudem der Bruder, der bedeutende Moskauer Architekt Alexander Leonidowitsch Pasternak. Boris Pasternak hatte zwei Schwestern, die, wie ich zu wissen glaube, noch heute in Oxford leben. Ihre Namen sind Josefina und Lydia. Pasternak dachte in den Stunden vor dem Tod an seine Schwester Lydia und bat sehr, sie aus England herbeizurufen, damit er sie noch einmal sehen könnte. Lydia erfuhr erst Stunden nach dem Tod durch ein Telegramm aus Moskau, daß ihr Bruder gestorben war. Sie wandte sich an die sowjetische Botschaft in England, aber die Chrustschow-Regierung verweigerte ihr die Einreise. Erst zehn oder zwanzig Tage später erhielt sie die Erlaubnis… Jetzt folgen die Namen jener Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Gelehrten, die hinter dem Sarg einhergingen. Von den bekannten Dichtern waren dies Arseni Tarkowski, Maria Petrowych, Alexander Jaschin… Verbreitet ist das Gerücht, daß Wosnessenski nicht auf dem Begräbnis war. Wosnessenski, ein Freund und Schüler Pasternaks, war bestimmt da. Ich sah ihn. Später hörte ich von Jelena Jefimowna Taiger, daß er hinter dem Sarg gehend flüsterte: „Sie tragen ihn nicht zu Grabe, sie tragen ihn zur Krönung.“ Später änderte er diese Wendung; er setzte sie in die Vergangenheit und veröffentlichte die Verse so. Denn er fürchtete, daß man ihn zur Verantwortung ziehen würde. Und er verbreitete das Gerücht, daß dieses Gedicht nicht über den Tod Pasternaks sei, über den man nicht schreiben durfte, sondern über den Tolstois, dies um so mehr, da gerade fünfzig Jahre seit dessen Tod vergangen waren. – Pasternaks Sarg folgten die Dichter Robert Roshdestwenski, Bulat Okudshawa, Viktor Bokow, Naum Korschawin und einige Dutzend andere. Von den Prosaikern waren da Paustowski, ein Freund Pasternaks, Schklowski, Kawerin, die schon genannten Sinjawski und Daniel, die tapfere Lydia Tschukowskaja. Sie ist noch am Leben, erinnert sich oft an Pasternak und die Achmatowa und schreibt weiter über sie, obwohl sie fast erblindet ist. Zu Pasternaks Begräbnis kamen viele der besten Übersetzer, der besten Musiker. Dem Sarg folgte der große, in aller Welt bekannte Pianist und Freund Pasternaks Swjatoslaw Richter. Er trug Noten mit den großen lateinischen Buchstaben B-A-C-H. Hand in Hand ging er mit seiner Frau Nina Derliag, einer der besten Kammersängerinnen. Wie sie folgten dem Sarg die Pianistin Maria Judina, der Komponist Koretnikow und zahlreiche Schauspieler verschiedener Moskauer Theater. Unter ihnen befand sich der enge Freund Pasternaks und SchauspieIer des Moskauer Künstlertheaters Boris Liwanow, der oft bei Pasternak zu Gast war und es liebte, sich mit ihm zu unterhalten und Wein zu trinken. Seinerzeit, als Pasternak Hamlet übersetzte, als das Künstlertheater unter der Leitung des großen Regisseurs Nemirowitsch an der Aufführung des Stückes arbeitete und Liwanow sieben Jahre die Rolle Hamlets einstudierte, sagte Stalin, daß ein Sowjetmensch nicht den Hamlet spielen soll. Und so war die siebenjährige Arbeit Liwanows vertan. Aber das vergrößerte noch die Liebe Liwanows zu Pasternak und verstärkte ihre Freundschaft… Dem Sarg folgten auch eine der berühmtesten Schauspielerinnen des Künstlertheaters und Freundin Pasternaks, Tarassowa, die nervös rauchte, und der Schauspieler Stonizin. Vom Wachtangowtheater kamen Schauspieler, unter ihnen Ruben Simonow und der mit Pasternak befreundete Ljubimow, der sich später sein eigenes Theater schuf…
Ich versuche mich nun einiger Einzelheiten des Weges zu erinnern. Wir verließen das Pasternaksche Grundstück und traten auf die Pawlenkostraße. Pawlenko war ein mittelmäßiger stalinistischer Schriftsteller, ein Feind der großen sowjetischen Dichter. Die Straße, in der Pasternak lebte und starb, heißt bis heute Pawlenkostraße. Im Haus Nummer 1 leben noch heute die Nachkommen Trenjows und Pawlenkos. Trenjow war ein bekannter Dramatiker und großer Lump, der wesentlich zum Selbstmord Marina Zwetajewas beitrug. Nummer 2 ist das Haus Fedins, der viele Gedichte Pasternaks liebte und auswendig wußte, sich aber an der Hetze gegen ihn beteiligte. Und als Pasternak 1958 den Nobelpreis erhielt, kamen in schwarzlackierten Autos Leute vom Komitee für Staatssicherheit zu Fedin und befahlen ihm, auf der Stelle zu Pasternak zu gehen und ihm zu sagen, daß er den Preis ablehnen soll. Und Fedin lief wie ein Hündchen zu Pasternak und legte ihm dies nahe. Als wir jetzt den Sarg Pasternaks an Fedins Haus vorübertrugen, entstand in der Menge die Frage, ob Fedin wirklich krank sei oder nur simuliere. Wir passierten das Transformatorenhäuschen, die Häuser Fedins und Pawlenkos und bogen in die Pogodinstraße ein, in der sich jenes schon genannte „Haus des Schaffens“ befindet. Schriftsteller waren dort nicht zu sehen, aber drei, vier Menschen standen hinter dem Zaun. Wir gingen weiter, und ich hörte die Rufe vieler Leute, daß man den Sarg weiter auf den Schultern tragen wolle. Hinter dem Sarg fuhr ein Auto, und die Friedhofsarbeiter baten inständig, den Sarg in das Auto zu heben. Doch viele Alte schrien, daß sie das nicht tun würden. Ich hörte, wie jemand rief: „Nicht nötig, wir tragen den Sarg Pasternaks bis Moskau!“ Und wir trugen ihn, natürlich nicht bis Moskau, trugen ihn auf erhobenen Händen einen oder anderthalb Kilometer, bis zum Friedhof. Unterwegs sah ich einfache Leute, die einander fragten, wen man da zu Grabe trage. Augenscheinlich wußten die Leute nicht, wessen Begräbnis dies war. Dann kamen wir an die kleine Brücke über den Fluß Setun, über die Pasternak oft gegangen war. Und eine Frau neben mir sagte: „Dies sind sicher die Brücke und der Fluß, wie sie in Pasternaks Gedicht ,Und wieder Frühling‘ beschrieben sind, wo er aus Moskau zurückkehrt, den Frühling sieht und hört und ihm hier ein Mädchen begegnet, ein einfaches Mädchen – vielleicht Stuckateur oder Maler –, das sich in ihn verliebte und ihm nun an der Brücke auflauerte, um ihn zu sehen.“ Wie mir später ein bekannter Maler erzählte, hatte Pasternak mit so einem Mädchen eine Romanze… Wir überquerten diese Brücke und schwenkten nach links, zum Westhang des Dorffriedhofs von Peredelkino, auf welchem siebentausend Menschen ruhen. Wir kamen an der Stelle vorbei, wo später die Dichterin Swjaginzewa, eine Freundin Pasternaks, Majakowskis und Jessenins, begraben wurde, und dem Ort, wo sechzehn Jahre nach dem Tod Pasternaks der Übersetzer Konstantin Bogatyrjow, ein von Leuten des Komitees für Staatssicherheit hinterhältig getöteter Freund, seine Ruhestätte fand, passierten noch einige Gräber, bogen nach rechts ab und erstiegen jene Höhe, an der die Beerdigung stattfinden sollte. Es gibt eine Legende, derzufolge Pasternak darum gebeten hatte, ihn unter drei Kiefern zu begraben. Und so geschah es wirklich, wenn auch nicht auf seinen ausdrücklichen Wunsch. Jahre später befragte ich die Söhne, und sie sagten mir, daß sie ihren Vater zurückgehend auf das Gedicht „Blinder Alarm“ an dieser Stelle begruben: „Lesen Sie in diesem Gedicht, und Sie werden sehen, daß darin klar steht, daß Pasternak, als er an den Tod dachte, eben diese Stelle vor sich gesehen hat. Dieses Gedicht“, sagte mir Jewgeni Borissowitsch, „war der Leitstern, dessen Strahl uns an diesen Platz führte…“ Ausgehoben hat Pasternaks Grab der Invalide und Teilnehmer des Vaterländischen Krieges Onkel Wassja, Wassili Wassiljewitsch Plonkin. Ich habe ihn gekannt, weil ich oft an Pasternaks Grab verweilte. Dieser einfache Russe, der sich in der Poesie natürlich nicht auskannte und wahrscheinlich die Gedichte Pasternaks nie gelesen hatte, liebte den Dichter, für den er das Grab schachtete, liebte ihn, wie manche einfachen Leute in Peredelkino ihn als gütigen Menschen verehrten, den sie oft auf den Straßen sahen. Onkel Wassja erzählte mir, wie Pasternak durch den Ort streifte und an keinem Bettler, keinem Trinker vorüberging. Jedem gab er Geld für einen viertel oder halben Liter.
Mit der Menge näherte ich mich dem Grab. Es waren so viele Leute, daß ich nicht wußte, wo genau die Grube ausgehoben war… Dann sah ich, wie man einige Meter von mir entfernt einen schönen älteren Mann emporhob und dieser eine Rede zu halten begann. Keiner sagte, wer er war, aber ich hörte, wie man ihn ansprach: Valentin Fernandowitsch. Später erfuhr ich, daß es sich um Professor Asmus, einen Freund Pasternaks, handelte. Manche sagen, daß Asmus eine Rede ausgearbeitet hatte, dann aber Angst bekam, der Text könnte ihm ein schlechtes Verhältnis zur Macht eintragen, worauf er ihn vernichtete oder tief in seinen Taschen vergrub und ihn dann nicht wiederfinden konnte. So begann er jetzt vorsichtig, frei zu sprechen… Asmus sagte unter anderem, daß viele zu Unrecht meinten, Pasternak sei ein Gegner der Sowjetunion gewesen. Das träfe nicht zu, denn er hätte an die Ideale des Sowjetstaates und der Kommunistischen Partei geglaubt, aber leider, meinte Asmus (ich weiß nicht, ob aufrichtig oder nicht), den betrüblichen Fehler eines anderen Genies der russischen Literatur geteilt, den Lew Tolstois. Er sagte, daß Tolstoi gegen die Gewalt war, für Gewaltlosigkeit eintrat, und Pasternak, der in einer Familie aufwuchs, in welcher Tolstoi verkehrte, darin in gewisser Hinsicht Tolstoianer gewesen sei, daß auch er die Gewalt ablehnte. Und dies, nur dies habe ihn von Zeit zu Zeit in ungewollten Konflikt mit der bestehenden sowjetischen Rechtsordnung gebracht. Daran anschließend wechselte Asmus zum Vergleich Pasternaks mit Blok über. Er sagte, daß bei Beginn der Revolution viele der besten russischen Kulturschaffenden entweder schwiegen und sich nicht über ihr Verhältnis zur Sowjetmacht äußerten oder aber umgekehrt viel und schönfärberisch über ihre Ergebenheit gegenüber den Idealen des Kommunismus und der Sowjetunion schwadronierten. Einige von ihnen wären durch ihr ganzes Leben und Schaffen nicht darauf vorbereitet und deshalb nicht sehr glaubwürdig gewesen. Doch habe es zwei große russische Dichter gegeben, Blok und Pasternak, die entweder schwiegen oder sich aufrichtig zugunsten der Revolution äußerten. Im weiteren sprach Asmus, leider sehr kurz, über Pasternaks Schaffen… Er schloß damit, daß Pasternak keine überflüssigen Worte liebte. Und deshalb sollten auch wir die Reden beenden. Nach der Ansprache von Asmus verging einige Zeit. Niemand gab bekannt, wer gesprochen hatte und wer sprechen würde. Plötzlich trat ein mir Unbekannter auf – von den neben mir Stehenden erfuhr ich, daß dies der bekannte Rezitator Golubenzow war. Er sprach nur ein Gedicht Pasternaks, das einzige, das von einem professionellen Rezitator vorgetragen wurde. In diesem Gedicht sagt Pasternak, daß sein Wahrheitsdurst seinen Tod herbeiführe. Wahrscheinlich nahm er darin jene Jahre vorweg, in denen er Doktor Shiwago schrieb, das Werk, das ihm so viele Leiden eintrug. Nach dem Auftritt von Asmus und Golubenzow trug jemand das Gedicht „Hamlet“ vor. Dann kamen aus der Menge einzelne kurze Rufe, kurze Sätze, es gab Versuche, das Wort zu ergreifen… Jemand sagte, daß das Hauptwerk von Pasternak Doktor Shiwago sei, der Roman, der die Macht vom Volk scheide. Dieser für das Volk geschriebene Roman müsse herausgegeben werden. Den Sprecher dieser Worte sah ich nicht. Die einen sagten, es habe sich um einen Matrosen gehandelt. Andere meinten, es sei ein Arbeiter gewesen. Wieder andere hielten ihn für einen Provokateur… Danach trat eine Pause ein, und ich hörte ein Klopfen. Ich erriet, daß man den Sarg zunagelte. Und ich drängte dreist die Leute auseinander und schob mich nach vorn, um die Bestattung zu sehen. Ich erreichte das Grab in dem Moment, da sechs oder acht Männer ungeschickt, denn es waren keine Friedhofsarbeiter, eher Verwandte und Freunde Pasternaks, den schwankenden Sarg hinabließen. Mir gelang es, mit zuzufassen und mich an der Absenkung zu beteiligen. Dann warf ich meine übrigen Blumen in das Grab. Einige Leute taten dasselbe, dann warfen wir Erde. Danach sah ich, wie unweit zwei Männer, wahrscheinlich Friedhofsangestellte, Schaufeln auf den Boden legten und sich schnell entfernten, weil ihnen klar war, daß man sie nicht arbeiten lassen würde. Ich ergatterte eine der Schaufeln, und wir begannen zu acht, das Grab zuzuschippen… Dann legten wir die Blumen auf das frische Grab. Jemand sagte, daß man erst die Kränze ablegen müsse. Wir nahmen die Blumen herunter und taten es… Dann sagte eine ärmlich gekleidete Frau, ich meine, es war Pasternaks Haushälterin Tanja: „Aber jetzt sagt seine Gedichte auf.“ Und man begann damit. Einige Meter vom Grab entfernt bildete sich eine Gruppe von fünf bis acht Menschen, alle Ende Zwanzig. Ich nehme an, das waren junge Dichter. Sie fingen an, leise, damit es die anderen nicht hörten, darüber zu streiten, welches Gedicht man jetzt vortragen könne. Und eine Frau wandte ein: „jetzt kann man alles lesen.“ Und sie begannen mit der Lesung. Zuerst wurde das Gedicht „August“ vorgetragen. Pasternak, als gläubiger Christ, träumte, daß man ihn am Tag von „Christi Verklärung“ begraben würde. In diesem Gedicht beschreibt er die Vision seines Begräbnisses, verabschiedet sich ohne Zorn von unserer Epoche, die ihn nicht anerkannte, und, ohne den Namen Iwinskaja zu nennen, von der Frau, die er liebte, und glaubt an die Unsterblichkeit seines Schaffens:
AUGUST
Frühmorgens kam, wie sie versprochen,
Die Sonne in mein stilles Zimmer,
In schrägen, safrangelben Streifen
Glitt sie vom Vorhang bis zum Diwan.
Sie tauchte in ihr warmes Ocker
Den nahen Wald, des Dorfes Hütten,
Mein Bett, die naß geschwitzten Kissen
Und die Wand mit meinen Büchern.
Da fiel mir ein, aus welchem Grunde
Mein Kissen so durchfeuchtet war:
Mir träumte, daß in langem Zuge
Ihr schrittet hinter meinem Sarg.
Ihr folgtet einzeln und in Paaren.
Da kam mirs wieder in den Sinn,
Daß, alten Stils, der sechste Achte
Das Fest Christi Verklärung ist.
Gewöhnlich strahlt an diesem Tage
Der Taborberg, ganz ohne Flammen.
Der Herbst, so klar wie Leuchtsignale,
Hält aller Blicke eingefangen.
Ihr gingt durchs kleine, schmächtige,
Durchs zitternackte Erlenholz
Zum ingwerroten Friedhofswäldchen,
Rot wie Pfefferkuchenguß.
Der Himmel war erhabener Nachbar
Der endlich still gewordenen Wipfel,
Und mit gedehnten Hahnenschreien
Grüßten sich die fernsten Winkel.
Auf dem Kirchhof, unter Bäumen
Stand der Tod, ein Landvermesser.
Er schätzte mich mit Ellenblicken,
Um das Grab mir auszustechen.
Für alle deutlich hörbar, war
Eine Stimme zu vernehmen:
Meine Stimme, völlig klar,
Sprach im Tone des Propheten:
„Leb wohl, azurene Verklärung,
Vergoldeter sechster August.
Verstreicheie durch Frauenhände
Die Schmerzen dem, der scheiden muß.
Lebt wohl, ihr kummervollen Jahre.
Und du, mein unglückliches Weib,
Das so viel Niedertracht erfahren.
Hör, daß ich dein Schlachtfeld bleib.
Leb wohl, du Wucht gespreizter Schwingen,
Des Fluges freie Willensmacht,
Und Bild der Welt, im Wort erschienen,
Und Schöpfertum und Wunderkraft.
Das Gedicht „August“ wurde drei-, viermal vorgetragen, einige Male das Gedicht „Hamlet“. Noch einige andere wurden mehrfach gelesen. Insgesamt hörten wir an die hundert Gedichte, etwa fünfzehn trug ich vor. Wir rezitierten natürlich aus dem Gedächtnis. Es war eine improvisierte Lesung von Liebhabern der Poesie. Man störte uns, indem man einige von uns zu fotografieren versuchte. Manche wehrten sich dagegen. Andere bemühten sich, daß das Fotografieren gelang. Sehr störte uns ein alter Mann, ein charakteristisches Produkt des Stalinismus. Dieser Mann hatte, wie ich später erfuhr, im Jahre 1910 bereits am Begräbnis Tolstois in Jasnaja Poljana teilgenommen. Zu Tolstois Zeiten war er begeistert von dessen Werk, dessen Lehre und Leben. Als Lehrer einer Schule nahe dem Gut Tolstois versuchte er sich mit ihm zu treffen und propagierte sein Werk. Einmal führte er siebenhundert Schüler zu Tolstoi. Doch später, seit den ersten Jahren der Sowjetmacht, arbeitete er im Litfonds und erfüllte alle geistlosen Vorschriften, all das, wozu ihn die stalinistische Obrigkeit verpflichtete. Und nun versuchte er als Vertreter des Litfonds diese Begräbnis so schnell wie möglich zu beenden. Er ging zur Witwe Pasternaks, Sinaida Nikolajewna, und sagte, daß es nötig sei abzukürzen, daß dies alles zum Schaden Pasternaks sei. Einige, die auf dem Begräbnis waren, meinten, daß ich gut vortrage, und baten mich um das eine oder andere Gedicht. Aber dieser Greis kam auf mich zu und sagte, es sei Zeit aufzuhören. Zum Schluß bat mich jemand um „Die Kiefern“ und ein anderer um „In den Frühzügen“. Doch jener Alte störte mich derart, daß ich mich nicht erinnere, welches dieser Gedichte mir noch vorzutragen gelang. Das Begräbnis Pasternaks hatte etwa um sechs Uhr abends begonnen. Gegen neun beendeten wir unsere Lesung und entfernten uns. Wie ich hörte, kamen spätabends andere Menschen, lasen bis Mitternacht und legten neue Kränze nieder.
Emmanuel Lifschitz, Sinn und Form Heft 2, März/April 1991
Aus dem Russischen von Richard Pietraß.
(Bei diesem Beitrag handelt es sich um die gekürzte Fassung eines vom Übersetzer im Dezember 1988 auf Tonband aufgezeichneten Erinnerungsberichts.)
Bevor ich mit Pasternak unmittelbar in Kontakt kam und seine nähere Bekanntschaft machte, sah ich ihn ein paarmal auf dem Nikitski Boulevard im Haus der Presse (Nr. 8).
Das war bereits im Jahre 1922.
Er hatte sich damals wohl gerade erst verheiratet und brachte seine Frau mit. Beide waren noch sehr jung. Ständig umringten sie nahe Freunde. Ich hörte, daß man ihn einfach Boris und sie Shenetschka nannte. […]
23. November 1923
Am Abend versammelten wir uns bei den Anissimows in der Mjortwy-Gasse, im Obergeschoß eines kleinen, im Hof stehenden Holzhauses. Eingeladen hatte mich der Lyriker Pjotr Saizew.1 Ich betrat das Zimmer. Auf dem Fußboden lag eine Matratze, aus der die Sprungfedern herausspießten. Hier saßen, ganz am Rand auf dem Holzrahmen, Boris Leonidowitsch Pasternak und Pjotr Nikanorowitsch Saizew. Julian Pawlowitsch Anissimow hockte im Schneidersitz ihnen gegenüber auf dem Fußboden. Auf einem Stuhl hatte der Schriftsteller Sergej Sergejewitsch Sajaizki2 Platz genommen, auf den zweiten, dreibeinigen, setzte ich mich, ständig in Gefahr herunterzufallen.
Anderes Mobiliar gab es in dem Zimmer nicht. An der Wand hingen alte Bilder, in einer Ecke lagen Bücher.
Es war die Zeit, als die Moskauer Intelligenz, nachdem die Oktoberrevolution wie ein Sturmwind über das Land gebraust war und alle aus ihrer gewohnten Bahn geworfen hatte, weiterlebte, ohne sich um die Lage und die Bedingungen des Alltags zu scheren. Deshalb fiel es den Dichtern und Malern, die eigentlich der Boheme zuneigen, bis zu einem gewissen Grade leichter, sich auf die Mißlichkeiten des Daseins einzustellen.
Vera Oskarowna Stanewitsch, Julian Anissimows Frau, eine bekannte Übersetzerin aus europäischen Sprachen, kam herein und schlug uns vor, in das andere, größere Zimmer zu gehen. Hier stand ein Klavier, ein Bett, ein Tisch und mehrere Stühle.
Julian Anissimow trug eigene Morgenstern-Übertragungen vor. Man lobte ihre Genauigkeit. Nach dem Tee rezitierte Boris Pasternak sein Poem „Die hohe Krankheit“, das wir alle sehr gut fanden. Anissimow und Sajaizki machten ein paar Bemerkungen.
5. Dezember 1923
In unserem Lyrikzirkel in Pjotr Nikanorowitsch Saizews Wohnung bestritt den heutigen Abend Sergej Sajaizki. Er trug sein Poem „Moskauer Schneesturm“ und zahlreiche schöne Gedichte vor. Unter den Anwesenden war auch Boris Pasternak, der den Lyriker Dmitri Petrowski3 bei uns einführte. Zu dem Vortrag äußerten sich Pasternak, Petrowski u.a.
12. März 1924
Heute las Boris Pasternak in unserem „Saizew-Zirkel“ seine neue Erzählung „Luftwege“. Wir lauschten mit großem Interesse und dankten ihm. Unter den Anwesenden waren Sofja Parnok,4 Alexander Romm,5(1898–1943), Dichter, Übersetzer; Bruder des Filmregisseurs Michail Romm; war im Krieg Korrespondent bei der Schwarzmeerflotte. Beging Selbstmord. Sergej Sajaizki und ich mit meinem Bruder Boris.
21. März 1924
Den heutigen Abend im Literaturzirkel bei Pjotr Saizew bestritt Maximilian Woloschin.6 Er las aus seinen noch unveröffentlichten Gedichten der letzten Jahre. Nach 1917 ist er zum erstenmal wieder in Moskau. Unter den Anwesenden war auch Boris Pasternak, zu dem ich inzwischen ein recht enges, von gegenseitiger Sympathie getragenes Verhältnis herstellen konnte. Jede Begegnung mit ihm bereitet Freude, sie verleiht unser aller Zusammensein jedesmal Licht und Leben.
[…]
17. Mai 1925
Heute erfuhr ich, daß Majakowski, Pasternak und Assejew beschlossen haben, einen Abend zugunsten Anna Achmatowas7 zu veranstalten.
[…]
2. Januar 1926
Bevor ich heute zur Arbeit ging, brachte ich Boris Pasternak Rukonog, den von ihm erbetenen ersten Sammelband des Verlages Zentrifuga.
Wir sprachen über die Ausstellung revolutionärer Gegenwartskunst des Westens, mit deren Vorbereitung ich beschäftigt war (seit dem 21. November 1925 war ich in der Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften, abgekürzt GACHN, als Sekretär des Ausstellungskomitees tätig). Ich berichtete, daß wir zahlreiche Bücher zeitgenössischer revolutionärer deutscher Dichter (Johannes R. Becher, Erich Mühsam und viele andere) erhalten hätten. Boris Leonidowitsch bat, ihm Gedichte dieser Autoren zu bringen, da Nikolai Tichonow8 bei ihm Nachdichtungen für den Sammelband Ost und West in Auftrag gegeben habe. Ich versprach es.
[…]
21. Januar 1926
Heute war ich wieder bei Pasternak und brachte ihm die Bücher deutscher Lyriker, die er nach meiner Liste ausgewählt hatte. Er machte mich mit seinem Gast bekannt – dem Amerikaner Lanz, Professor für russische Literatur. Mit dem Russischen ging es bei ihm recht mühsam.
Unerwartet erschien Alexej Krutschonych,9 holte sogleich aus seiner Tasche ein paar Exemplare seiner neuen Broschüre über Jessenin und gab jedem eine.
Dann rezitierte er mit durchdringender metallischer Stimme eigene Gedichte.
Boris Leonidowitsch, der Krutschonych gegenüber keine Hemmungen hatte, lachte herzhaft, während Lanz, da er ihn zum erstenmal erlebte, sich alle Mühe gab, den Vortrag ernst zu nehmen und die Theorie seiner ausgefallenen Dichtkunst zu erfassen.
Als wir bereits im Aufbruch waren, klopfte ein unverhoffter Gast an die Tür – der Lyriker Dmitri Petrowski. Obwohl er sah, daß wir gerade gehen wollten, zog er mehrere zusammengerollte Seiten aus der Tasche und begann, in der Tür stehend, mit für ihn typischer Besessenheit seine neuesten Gedichte vorzutragen. Lanz war von alledem ganz hingerissen, aber der arme Pasternak tat mir leid.
Seinem weichen, gastfreundlichen Charakter hatte er es zu verdanken, daß ständig alle möglichen jungen Dichter bei ihm aufkreuzten, die manchmal hartnäckig und ermüdend waren.
Noch lange mußten wir in der Diele stehen, da Krutschonych mit seiner hohen Stimme hastig zu einem neuen Redestrom ansetzte. Ihm war das Jahr 1913 eingefallen, die Herausgabe der Anthologie Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Er erzählte, welche Überzeugungs- und Überredungsgabe David Burljuk10 besessen hatte. Sein Organisationstalent galt geradezu als eine diplomatische Funktion innerhalb der „Futuristengilde“, und in der „Ohrfeige“ hatte hauptsächlich er die Initiative ergriffen, „Puschkin über den Bord der Jetztzeit zu werfen“.
„Wie man hört, richtet er jetzt in Amerika seine Energie auf alles, was ihm gerade unter die Finger kommt“, sagte Krutschonych.
Als der Maler Sudejkin11 hinkam, wußte er angeblich nicht, wie er es bewerkstelligen sollte, daß seine Bilder ausgestellt würden. Burljuk nahm die Sache in die Hand, und in einer Woche kannte ganz Amerika Sudejkin, eine Reklame machte er, daß die Leute nur so angeströmt kamen.
22. Januar 1926
Von der Baltschug- zur Kropotkinstraße in die GACHN ging ich immer über die Wolchonka. Auf dem Rückweg schaute ich deshalb oft bei Pasternak vorbei, um ihm ein Buch zu bringen oder etwas mitzuteilen. So auch heute. Wie ich von ihm erfuhr, hatte er gerade bei mir auf der Arbeit angerufen, mich aber nicht mehr angetroffen. Er erzählte mir, er habe von Marina Zwetajewa aus Paris einen Brief erhalten. Sie bitte ihn, ihr alles zu schicken, was an Gedrucktem über Sergej Jessenin aufzutreiben sei, vor allem über seine letzten Tage. Ich versprach ihm meine Unterstützung. Die Moskauer Zeitschriften und andere hiesige Publikationen aufzutreiben sollte mir nicht schwerfallen, und alles, was in Leningrader Zeitschriften und Zeitungen erschienen war, hoffte ich über den Dichter Pawel Luknizki12 beschaffen zu können.
[…]
1. Februar 1926
Heute früh kam mit der Post von Pawel Luknizki ein Packen Material über Jessenin. Ich hatte es eilig, zur Arbeit zu kommen, und nahm es mit. Am Abend ging ich bei Pasternak vorbei.
Wir lasen zusammen die eingetroffenen Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte, die Artikel von Nikolai Tichonow und Boris Lawrenjow sowie Luknizkis Brief über Jessenins letzte Tage. Pasternak interessierte sich sehr für dieses Material. Erstaunlich viel Wertvolles ist darunter. Wir sprachen darüber, wie man die Ausschnitte Marina Zwetajewa zukommen lassen könnte. Pasternak will sich mit Professor P.S. Kogan oder mit noch jemandem beraten. Er sagte zu mir:
Jessenin hat sich mir gegenüber so feindselig verhalten, daß sich das zwangsläufig auf mein Verhältnis zu ihm auswirken mußte.
Nach diesen nachdenklich gesprochenen Worten fiel ihm vermutlich seine letzte Kontroverse mit Jessenin ein, und er fuhr fort:
Dennoch hat mir sein Tod einen Schlag versetzt, ich fühle eine Erstarrung, als hätte ich selbst die Schlinge um den Hals.
Schließlich fügte er hinzu:
Gestern war Mandelstam hier. Wir haben über Jessenin gesprochen. Seine Empfindungen decken sich mit dem, was Tichonow in diesen Ausschnitten sagt.
12. Februar 1926
Auch heute war ich bei Pasternak. Ich fand ihn völlig konfus vor. Er empfing mich mit dem Ausruf:
Na, das wird vielleicht eine Posse!
Im Säulensaal des Gewerkschaftshauses werde heute eine Podiumsdiskussion veranstaltet, „Das Rußland der Gegenwart“, dabei solle es um die Literatur von heute gehen, um das brisante Problem, daß der Literatur die Leser fehlen: was zu tun sei, um den Kontakt zu ihnen herzustellen, was man schreiben müsse, was lesen usw.
Boris Leonidowitsch ging kurz hinaus, um eine Entschuldigung zu schreiben, er sei krank – für den Fall, daß die Organisatoren jemanden herschickten. Doch seine Aufregung legte sich nicht, er sagte, es sei ihm peinlich und wenn man nicht lockerlasse, werde er nicht festbleiben und nachgeben. Hinzufahren aber hatte er gar keine Lust. „Natürlich ist das ein sehr interessantes und wichtiges Thema, wir beide haben gestern ja auch darüber gesprochen. Aber wie kann man dazu vom Podium herab, einfach aus dem Stegreif, vor versammeltem Publikum Reden halten wollen“, meinte er.
Heute machte er mich mit seinem Bruder Alexander Leonidowitsch bekannt, er ist Architekt und war kürzlich bei ihrem Vater in Berlin. Seine schöne und sympathische Frau Irina Nikolajewna13 hatte er mitgebracht. Alexander Leonidowitsch sagte:
Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Borja hat mir schon von Ihnen erzählt.
Wir tranken zusammen Tee, Boris Leonidowitsch faßte sich immer wieder an den Kopf und sagte:
Wie kann man ruhig dasitzen und Tee trinken, selbst wenn er kalt ist wie der hier, wo sie mich jeden Moment holen können.
Neben uns an der Wand hing das unselige Plakat mit den Namen der Diskussionsteilnehmer.
Beim Tee kam das Gespräch auf die soeben im GACHN eröffnete Ausstellung des Tierbildhauers Wassili Alexejewitsch Watagin.14 Jewgenija Wladimirowna fragte Boris Leonidowitsch, ob er sich nicht ihre „Ausstellung junger Künstler“ (OBMOCH) ansehen wolle, und als er sagte, er habe nicht die Absicht, warf sie ihm wie gekränkt, aber lächelnd „Schlawiner!“ an den Kopf. Pasternak lachte.
Ich blieb mit Boris Leonidowitsch allein im Speisezimmer, weil sein Bruder und Irina Nikolajewna ins Nebenzimmer gegangen waren, um Schach zu spielen. Nach einer Weile kam aus der Küche die Nachricht, da sei jemand, der nach Pasternak frage. Boris Leonidowitsch lief zu seinem Bruder und bat ihn, die Entschuldigung abzugeben, er wollte es auf keinen Fall selbst tun, obwohl der Bote ihn kaum persönlich kannte.
Ich hatte ein paar meiner Gumiljow-Ausgaben15 mitgebracht. Begierig machte er sich über die Vergiftete Tunika (Tragödie in Versen über ein antikes Thema) und den Gedichtband An den blauen Stern her.
„Das erinnert mich an meine Kindheit. Ich selbst gehöre der Geschichte an. Die Lyrik ist jetzt zur Fabeldichtung geworden. Wenn ich das hier lese, wird mir bewußt, daß es mit mir vorbei ist“, sagte er.
Nein , das sehe ich nicht so. Im Gegenteil, ich erhoffe mir noch sehr viel von Ihnen.
Er brachte mir seinen „Spektorski“ und las die Fortsetzung vor, an die hundert Verse, die den Schluß des ersten Teils bilden: Gespräch mit der zu Besuch gekommenen Schwester und ihre Verabschiedung. Er sagte, er wolle weiter daran arbeiten.
So saßen und redeten wir bis ein Uhr nachts. Ich hatte bereits den Mantel angezogen, setzte mich wieder hin, stand abermals auf, aber das Gespräch nahm und nahm kein Ende. Wir sprachen über Mandelstam, über die Achmatowa, über Kusmin16 und überhaupt über Petersburg. Ich erzählte von mir.
„Spektorski“ war für Pasternak wahrscheinlich der Anknüpfungspunkt, die Rede auf die Rolle der Biographie in der Literatur zu bringen, in der Annahme, ich werde Gumiljows lebensabgewandte Auffassung von Lyrik verfechten und ihm widersprechen. Ich erklärte, auch bei Gumiljow sei das mehr in Worten so gewesen, nannte Beispiele und gab ihm in bezug auf den „Werther“ recht. „Die besten Werke haben immer eine biographische Grundlage, all das ist für ihre Intention von Belang, wir aber haben das Fertige so zu nehmen, wie es ist, ohne Nachforschungen anzustellen und die Ursachen herausfinden zu wollen.“ – „Nun ja, nun ja“, pflichtete mir Pasternak bei.
Dann kam er wieder auf seine Situation zu sprechen und meinte, er werde jetzt nicht gebraucht, nicht eine Besprechung habe er hier gefunden, weder des „Spektorski“ noch seiner Erzählungen, und das sei bezeichnend. Im Ausland hingegen sei einiges über ihn erschienen.
Mein Vater schreibt mir und beklagt sich, er bekomme keine Antwort von mir, auf Umwegen erreichten ihn Gerüchte über besagten ,Spektorski‘, aber ich kann nicht…
Und er machte eine wegwerfende Handbewegung.
[…]
19. Februar 1926
Heute gab mir Boris Leonidowitsch mein kleines schwarzgebundenes Album zurück. Ich fand darin vier Gedichte aus seinen Büchern Meine Schwester – das Leben und Themen und Variationen: „Meine Schwester – das Leben, mit schwellenden Wassern “, „Frühling, von der Straße, wo verwundert die Pappel “, „Schweiften Sterne, Kaps im Meer beim Seifen…“, „Mephistopheles“.
Pasternak bat mich um Gumiljow-Artikel und sagte, er wolle, angeregt durch unsere Gespräche, über Gumiljows Lyrik schreiben.
1. März 1926
Heute fand im GACHN eine literarisch-künstlerische Benifizveranstaltung zugunsten des Dichters Maximilian Woloschin statt.
Michail Bulgakow las aus seinem Manuskript „Die Abenteuer Tschitschikows“, einer Art Nachtrag zu den „Toten Seelen“. Der Schriftsteller Juri Sljoskin trug seine Erzählung „Der Bandit“ vor. Boris Pasternak rezitierte zwei Auszüge aus dem Poem „Das Jahr 1905“: „Im Atelier des Vaters“ und „Panzerkreuzer Potjomkin“.
Der Lyriker Sergej Scherwinski las vier Gedichte aus dem Zyklus „Kimmerische Sonette“.
Pawel Antokolski rezitierte einige seiner Gedichte.
Der Pianist und Komponist Samuil Feinberg spielte eigene Klavierkompositionen.
Alexander Rumnew, Schauspieler am Moskauer Kammertheater, tanzte in einer eigenen Ballettchoreographie Prokofjews „Gavotte“.
Der Schriftsteller Wikenti Weressajew las Auszüge aus einer autobiographischen Novelle.
[…]
4. April 1926
Aus Leningrad zurück, ging ich am Abend bei Boris Leonidowitsch in der Wolchonka 14 vorbei. Er war nicht zu Hause, ich ließ ihm ein Foto der Achmatowa da, auf dem sie in der Pose einer Sphinx auf einem Postament liegt. Sie hatte es mir in Leningrad mit einer Widmung für Pasternak mitgegeben.
5. April 1926
Heute abend suchte ich wieder Boris Pasternak auf, gab ihm die versprochenen Bücher und erzählte von meiner Reise nach Leningrad und meinen Gesprächen mit der Achmatowa.
Boris Leonidowitsch sagte, er wolle Anna Andrejewna über das Erscheinen der Anthologie Neues Moskau schreiben.
In Berlin sind bei Petropolis drei Gumiljow-Bändchen herausgekommen: Der Köcher, An den blauen Stern und Französische Volkslieder. Ich bat Boris Leonidowitsch, sie mir zu besorgen, eventuell über seine Schwestern.
Als der Lyriker Sergej Pawlowitsch Bobrow erschien, verabschiedete ich mich.
[…]
18. Februar 1929
Auf Pasternaks Empfehlung fuhr ich heute wegen des „Unveröffentlichten Chlebnikow“ zu Alexej Krutschonych. Ich stieg zum siebenten Stockwerk seines Hauses im Hof der Höheren Staatlichen künstlerisch-technischen Werkstätten (WCHUTEMAS) hinauf und klingelte. Lange regte sich nichts. Dann hörte ich Schritte. Dann die Stimme Krutschonychs. Endlich öffnete er die Tür und präsentierte sich mir in Unterwäsche – und das, obwohl es auf fünf Uhr nachmittags ging. Er führte mich ins Zimmer und bot mir Platz auf dem mit Büchern überhäuften Sofa an. Während er sich in einen akzeptablen Zustand brachte, unterhielten wir uns. Er bemerkte die Zeitung in meiner Hand und wollte wissen, ob darin nicht etwas Interessantes eingewickelt sei. Dann suchte er unter Papierstößen die von mir benötigten Chebnikow-Ausgaben hervor, gab mir blätternd Erläuterungen und fügte, zum gleichen Preis, noch Turnier der Dichter und Literarische Scherze hinzu. Schließlich vermachte er mir das Notizbuch Welimir Chlebnikows und 15 Jahre Futurismus. Ich ließ mir für Luknizki ein überzähliges Exemplar des Testaments von Chlebnikow geben, bezahlte und wandte mich zum Gehen. Er verabschiedete mich gesprächiger, als er mich empfangen hatte. Ich war ihm bisher nicht oft begegnet, zumal allein, und in seiner häuslichen Umgebung sah ich ihn überhaupt das erstemal. In seiner Gegenwart wurde ich nie eine gewisse Peinlichkeit los, deshalb fühlte ich mich erleichtert, als seine metallische Stimme verstummte, die Tür ins Schloß fiel und ich in die Tiefe des Treppenhauses hinabstieg. Der Fahrstuhl ging nicht. Doch die Chlebnikow-Bücher hatte ich, und das war ein angenehmes Gefühl.
21. April 1929
Pasternaks „Schutzbrief“ ist erschienen. Ich las ihn zum erstenmal. Sehr gut.
30. Oktober 1929
Ich war bei Pasternak, und er trug mir den Schluß seines Poems „Spektorski“ vor.
2. Dezember 1929
Nach der Arbeit suchte ich Pasternak auf. Ich erfuhr von ihm, daß das Manuskript von „Spektorski“ an Lengis gegangen sei, von Medwedew17 jedoch die Antwort kam, wegen Unstimmigkeiten in der Redaktion gebe es Probleme mit der Drucklegung. Boris Leonidowitsch ist irritiert:
Umschreiben kommt nicht in Frage…
Außerdem hat er fest mit dem Honorar gerechnet.
Mit Boris Leonidowitsch zu sprechen ist ungemein interessant, leicht und angenehm, doch sind die Gespräche stets in einem Maße impressionistisch, daß einem hinterher Einzelheiten nur mit Mühe einfallen, wenn man sie nicht gleich aufschreibt.
Er sagte, als er nach Fertigstellung der ersten Kapitel das Manuskript noch einmal gelesen habe, sei ihm „Spektorski“ als ein Werk mit realer Fabel erschienen. Doch dann sei alles komplizierter geworden. Bis zum Abschluß des Poems, habe er gemeint, werde alles ins Lot kommen. „Jetzt aber hat das Ganze eine Wendung genommen, daß sich nichts mehr zusammenfügen läßt.“ Seinerzeit, im Jahre dreizehn, habe er sich Gewalt angetan mit der Überarbeitung und nicht gedacht, daß alles umsonst sei. Auch jetzt bei „Spektorski“ habe er gedacht, daß der Schluß mit dem Konzept in Einklang zu bringen wäre, zum Beispiel wenn er den Helden eine Dienststellung antreten ließe usw., doch „das widerspricht allem“.
Manchen bereitet das Schreiben Freude, aber doch nicht allen. Für Gogol war das Schreiben überhaupt eine Tragödie. Mein Motiv zu schreiben ist ausschließlich Unglücklichsein. Und so war das immer. Ich verstehe ja, wenn man die Sache vom Standpunkt der heutigen Anforderungen absolut nüchtern und rational beurteilt, ist mein ganzes Geschreibe reiner Fieberwahn. Meine frühen Sachen sind verständlicher.
Und weiter sagte er:
Ich würde mich gern für längere Zeit von allem zurückziehen, wenn ich nur die Mittel dazu hätte. Am liebsten wäre mir, den Schluß von „Spektorski“ nicht gleich zu drucken, sondern etwas liegenzulassen und dann zu überarbeiten. Als ich für die Neuauflage der „Zwei Bücher“ die Korrektur meiner Gedichte las, war ich entsetzt. Der Futurismus hat sich überlebt. Gültigkeit behalten für mich allein die später überarbeiteten Gedichte. Majakowski und Assejew sind anders geworden, und auch ich kann nicht der alte bleiben. Als ich meine Gedichte gedruckt vor mir sah, habe ich mich allerdings beruhigt.
Das ist kein Leben, was ich jetzt führe. Wenn ich Besuch habe, bin ich verstört, weil ich mich nicht wie zu Hause fühle, alles ist ohne Bestand. Viele Bilder meines Vaters habe ich von den Wänden genommen. Ruhiger wird es in mir nur, wenn ich woanders bin…
[…]
14. April 1930
Sergej Scherwinski berichtete mir von Majakowskis Selbstmord. Diese Nachricht traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich konnte es kaum glauben.
Nach der Arbeit ging ich von der Pretschistenka 32 gleich in die Wolchonka zu Boris Leonidowitsch.
Er ist wie erschlagen von der Nachricht. Ein Gespräch fiel ihm ein, das er mit der Achmatowa über Majakowski hatte.
Er sagte, er schreibe bereits an einem Zeitungsartikel über Majakowski, wahrscheinlich für die Iswestija. Er habe Majakowski im Schriftstellerverband in seinem Sarg gesehen.
Liegt ganz jung da, schön, wie zweiundzwanzig.
(Übrigens hat mir Pasternak in den ersten Jahren unserer Bekanntschaft, 1925/26, als wir uns bei ihm Hause sahen, zwei-, dreimal gesagt: „Wie Sie mich an den jungen Majakowski erinnern.“)
15. Januar 1931
Heute wurde im Großen Saal des Konservatoriums ein Konzert mit Wladimir Sofronizki gegeben. Unter den Besuchern sah ich auch Pasternak und Jewgenija Wladimirowna.18 Boris Leonidowitsch sagte, bald werde „Spektorski“ in einer Extraausgabe erscheinen.
28. März 1931
Heute trägt Boris Pasternak im FOSP (Föderative sowjetische Schriftstellervereinigung) sein Poem „Spektorski“ und Gedichte vor.
18. August 1931
Zusammen mit Alexander Leonidowitsch fotografierte ich aus dem Fenster der Pasternakschen Wohnung in der Wolchonka die zur Sprengung vorbereitete Erlöserkirche.
Das Gold ist bereits von der Kuppel entfernt, geblieben ist nur noch das riesige Metallgerippe.
[…]
10. Mai 1932
Auf dem Weg zu Alexander Solomonowitsch Schor (Chefstimmer des Moskauer Konservatoriums und Behüter aller Musikinstrumente, außerdem ein fabelhafter und sympathischer Mensch) traf ich heute hinter dem Museum der bildenden Künste kurz vor seinem Hause Boris Pasternak. Schon lange hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er war in schlechter Verfassung und verfiel sofort in Klagen über die Schwierigkeiten des Lebens. „Es wird Zeit, zu sterben“, meinte er.
Alles ist so schwierig: in materieller wie in moralischer Hinsicht, mit der Wohnung und der Familie.
Auslöser seiner Scheidungsaffäre sei ein großes Gefühl, doch alles zerschelle an den Lebensumständen von heute. Er schreibe auch kaum noch. Um das zu schreiben, was zur Zeit üblich sei, brauche es etwas mehr schöpferischen Elan als zum Beispiel für dieses Gespräch mit mir. Und er wiederholte, er könne daraus nur den Schluß ziehen, daß es Zeit werde, zu sterben.
Ich gab mir alle Mühe, ihn zu trösten und aufzumuntern.
Seine „Wellen“,19 sagte ich, gefielen mir und überhaupt allen sehr. Ich riet ihm, für eine Weile wegzufahren und Ablenkung zu suchen.
Pasternak sagte, sein Junge habe Scharlach.
[…]
Winter 1936/37
An welchem Tag genau es war, erinnere ich mich nicht mehr. Sergej Wassiljewitsch Scherwinski rief an und bat um meinen Besuch. Als ich die mir seit langem vertraute große Wohnung in dem altertümlichen Haus betrat, das die Sowjetregierung ihrem früheren Eigentümer, dem verdienstvollen Professor der Medizin Wassili Dmitrijewitsch Scherwinski, zurückgegeben hatte, sagte man mir, Sergej Wassiljewitsch sei im Arbeitszimmer des Professors. […] Sergej Wassiljewitsch saß mit seinen Gästen – Boris Pasternak, Irakli Andronikow und Konstantin Lipskerow – am Eßtisch des riesigen Raumes. Man trank Tee und unterhielt sich. Die Rede kam auf Andronikows neueste Arbeiten, und Scherwinski sagte zu Irakli: „Wen Sie in Ihren mündlichen Erzählungen noch nicht dargestellt haben, das ist Pasternak.“ – „Das stimmt, aber ich kann es ja versuchen.“ Andronikow erhob sich, trat zur Wand, an der er saß, nahm einen fiktiven Telefonhörer zur Hand, wählte, gegen die Wand gelehnt, an der sich der angebliche Apparat befand, eine Nummer, und wir vernahmen die Stimme des telefonierenden Pasternak. Andronikow ahmte sie so täuschend nach, mit allen Nuancen der Intonation, daß man tatsächlich glaubte, Pasternak zu hören. Den Inhalt des Gesprächs kann ich nicht mehr wiedergeben. Andronikow-Pasternak verhandelte über irgend etwas, gab eine Zusage, brummte, machte Einwürfe. Alle lachten, am meisten Boris Leonidowitsch selbst.
[…]
27. April 1940
Heute haben wir Ostersonnabend. Bei den Scherwinskis ist Anna Achmatowa zu Besuch. Ich brachte ihr einen ganzen Packen Fotos, die ich im Sommer 1936 von ihr gemacht hatte.
Anna Andrejewna war diesmal sehr nett und gesprächig, viel mehr als sonst. Ich bat sie, ein Foto mit einer Widmung für Boris Pasternak zu versehen.
28. April 1940
Auf dem Leningrader Bahnhof verabschiedete ich Anna Achmatowa. Sie befand sich bereits in ihrem Waggon, als ich ankam. Unter den zu ihrer Verabschiedung Erschienenen traf ich auch den Maler Alexander Osmjorkin, der Anna Achmatowa porträtiert hat. Es ist lange her, daß ich ihn zum letztenmal gesehen habe.
Anschließend fuhr ich zu Pasternak, um ihm das Foto der Achmatowa mit ihrer Widmung zu bringen.
6. Mai 1940
Ich ließ mir von Nikolai Wjatscheslawowitsch Jakuschin (Dekabristenenkel) Bücher für Boris Leonidowitsch geben und brachte sie ihm. Wir verließen dann zusammen das Haus.
Unterwegs sagte er, der Frühling wirke sehr auf sein Gemüt. Ringsum sei Leben, überall Pärchen – Offiziere mit ihren Mädchen.
Man ist versucht, nach der Uhr zu greifen und nachzusehen, wie lange einem noch zu leben bleibt.
[…]
17. Juni 1948
Pasternak sagte mir, es sei ihm gelungen, beim Literaturfonds für die Achmatowa ein Darlehen von dreitausend Rubel zu erwirken. Man verlange jedoch einen Antrag von ihr und sie weigere sich, ihn zu schreiben.
23. Juni 1948
Heute brachte ich Boris Leonidowitsch eine ganze Anzahl Fotos. Während er sie durchsah, sagte er:
Keiner hat mich so gut fotografiert.
Er erzählte, er habe wegen der schwierigen Lage Anna Achmatowas beim ZK und beim Schriftstellerverband angerufen. Schließlich sei beschlossen worden, ihr das Darlehen ohne Antrag zu gewähren und Übersetzungen an sie zu vergeben.
Pasternak sagte, vor fünf Jahren habe er sich bereits alt gefühlt, jetzt aber, da er an seinem Roman arbeite, fühle er sich verjüngt. Ihm ströme so viel Energie zu, daß er etwas ganz Großes hervorbringen möchte.
[…]
31. Dezember 1949
Am Silvesterabend gegen neun Uhr brach ich mit Anastassija Wassiljewna zu einem Spaziergang auf. Das Wetter war mild, es schneite leicht. Wir wohnten Ecke Baltschug-Straße und Sadownitscheskaja-Kai an der Eisernen Brücke. Als wir an der Lawruschinski-Gasse vorbeikamen, beschlossen wir, die Pasternaks zum neuen Jahr zu beglückwünschen. Wir stiegen hinauf und klingelten. Boris Leonidowitsch öffnete und begrüßte uns freudig und mit gewohnter Herzlichkeit. Wir wechselten ein paar kurze Worte in der Tür und verabschiedeten uns. Boris Leonidowitsch sagte, Sinaida Nikolajewna20 sei noch in der unteren Wohnung. Wir waren bereits eine halbe Treppe tiefer, als er, in der offenen Tür stehend, rief: „Halt, wartet! Solange Sina nicht da ist, säble ich euch ein Stück von der Wertuta ab“ und lief in die Wohnung zurück. Als er wiederkam, wickelte er im Gehen den als Wertuta bezeichneten Kuchen in einen großen knisternden Bogen Papier. Auf dem unteren Treppenabsatz steckte er mir das Paket zu, drehte sich nach der geöffneten Tür um und rief:
Ljomtschka, bring doch mal die Schale mit den Mandarinen.
Sogleich erschien in der Tür der kleine Ljonja21 und brachte die Schale. Pasternak griff ein paar Mandarinen und stopfte sie in die Taschen meines Pelzmantels. Protestierend bedankte ich mich und hatte dabei die leise Befürchtung, aus der unteren Wohnung könnte Sinaida Nikolajewna auftauchen und uns „in flagranti“ ertappen. Boris Leonidowitsch beeilte sich aus dem gleichen Grund, konnte jedoch einer plötzlichen Aufwallung seiner Zuneigung nicht widerstehen. In diesem Moment war er ganz natürlich, so, wie nur er sein konnte, von einem bezwingenden Charme. Endlich, nachdem wir uns alle drei Glück und Freude im neuen Jahr gewünscht hatten, trennten wir uns. Die Tür oben ging zu, und meine Frau sagte:
Wie reizend er ist, wie er mir gefällt, was für ein wunderbarer Mensch.
Wir waren beide tief beeindruckt.
Zu Hause aber stand unser Tannenbaum, und wir waren leichten, frohen Sinnes.
Lew Gornung, aus Erinnerungen an Boris Pasternak, herausgegeben von Franziska Thun, Aufbau Verlag, 1994
Übersetzung Alfred Frank
Die ganze Welt weiß, daß der Verband der Sowjetschriftsteller es lieber gesehen hätte, wenn Scholochow anstelle von Pasternak preisgekrönt worden wäre. Aber die schwedische Akademie konnte sich von dieser internen Bevorzugung keine Rechenschaft geben. Sie konnte nur von außen die literarischen Verdienste der beiden Schriftsteller abschätzen. Dieser großartige Liebesroman ist nicht antisowjetisch, er hat mit keiner Partei zu tun, er ist allumfassend.
Albert Camus, Nobelpreisträger
Es gibt echte und unechte Asyle für Menschen, die aus dem Land des Sozialismus kommen. Ich halte für Boris Pasternak ein echtes bereit. Ich verstehe weder Chruschtschow noch die sowjetischen Kollegen. Toleranz ist eine wichtige Voraussetzung, um wahre Verdienste eines großen Schriftstellers, wie Boris Pasternak es ist, würdigen zu können.
Halldor Laxness, Nobelpreisträger
Ich werde ihm ein Haus schenken und ihm das Einleben im Westen erleichtern. Ich will ihm die Atmosphäre geben, die für die Fortsetzung seines Schaffens nötig ist. Die seelische Zerrissenheit, in der Boris sich jetzt befinden muß, kann ich nachfühlen. Ich weiß, wie tief verwurzelt in seinem Herzen Rußland ist. Für ein Genie vom Format Pasternaks wäre es ein tragischer Beschluß, wenn er seiner Heimat den Rücken kehren müßte. Kommt er aber zu uns, dann dürfen wir ihn nicht enttäuschen. Was in meiner bescheidenen Kraft liegt, will ich tun, der Welt diesen schöpferischen Geist zu erhalten. Ich denke jeden Tag an Pasternak.
Ernest Hemingway, Nobelpreisträger
Beim Gespräch über den Fall Pasternak war sich jeder von uns bewußt, daß wir uns keine eigenmächtige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes zuschulden kommen ließen. Pasternak ist einer der unsern. Er gehört uns ebenso wie den Russen: Er ist ein Teil von dem, was Goethe „Weltliteratur“ genannt hat…
Ignazio Silone
PASTERNAK
Nicht von Lemuren und ihren Claqueurs, von der niemals verletzten
Würde red ich, von ihr, für die dein Name nun steht.
Ob selbst die Mörder und Narren betroffen machte dein Tod, das
fragen wir nicht, weil wir nicht fragen nach ihnen, nie mehr.
Johannes Bobrowski
PASTERNAK
Du läßt den Regen vor dem Fenster singen
Und läßt den Schnee, der fällt, ein Grab beweinen.
Du weißt, daß im Gedicht wir uns verjüngen,
Wir spielen gern darin mit bunten Steinen.
Wenn Bauern mähen, oder wenn sie düngen,
Läßt den Geruch du im Gedicht erscheinen.
Du läßt die Worte in die Menschen dringen,
Bis sie sich mit dem Menschen ganz vereinen.
Du ordnest sorgsam Deine Wortfiguren
Und zählst die Verse ab nach ihrem Takt.
Und manchmal ist’s, verwischend alle Spuren
Aus deinem Leben, bricht ein Katarakt
Aus dir hervor, ein wildes Wortgefälle…
Dann wieder Stille, Nacht und Mondeshelle.
Johannes R. Becher
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Boris Pasternak
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
Flg.: Ein Dichter in der Sjetsch
Die Tat, 10.2.1960
Heinz Schewe: Boris Pasternaks 70. Geburtstag
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 2/2.
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