Raissa Orlowa • Lew Kopelew: Boris Pasternak

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Raissa Orlowa • Lew Kopelew: Boris Pasternak

Orlowa • Kopelew-Boris Pasternak

„BILD DER WELT IM WORT“

Hombre, árbol de imágenes,
palabras que son flores que son frutos que son actos.

(Octavio Paz)

Boris Pasternak (1890–1960) wurde nach dem Erscheinen seines Romans Doktor Schiwago (1957) und der Verleihung des Nobelpreises (1958) weltberühmt. Seitdem kann man vielleicht nur den Archipel Gulag von Solschenizyn mit der einzigartigen internationalen Popularität von Pasternak vergleichen. Auch heute, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode, werden sein Roman Doktor Schiwago, seine Gedichte und Briefe in vielen Ländern übersetzt und verlegt. In Rußland erscheinen jährlich neue Ausgaben seiner Lyrik und Epik (bis auf Doktor Schiwago) in großen Auflagen und sind in wenigen Stunden vergriffen, werden später zu zehnfachen Preisen auf dem „Schwarzmarkt“ verkauft.
Zu seinem Grab in dem Dorf Peredelkino bei Moskau kommen fast täglich Menschen aus Moskau und anderen Städten. An seinem Todestag (30. Mai) versammeln sich dort von morgens bis abends größere Gruppen, die diskutieren, lesen und seine Gedichte rezitieren.
Literaten, Philosophen und Historiker streiten immer noch darüber, was dieser Dichter für Rußland und die Welt bedeutet. Einst galt er für viele Kritiker als einsamer, weltfremder Sonderling, als ein „hermetischer Lyriker“, nur für Auserwählte, für Feinschmecker zugänglich. Warum aber ließ der allmächtige Sowjetstaat selbst in der Zeit des „wärmsten Tauwetters“ ganze ideologische Heere gegen Pasternak aufmarschieren, als ihm der Nobelpreis verliehen wurde? Was macht die Eigenart seines Schicksals aus?

 

„Schaffenskraft und Wunderstiften“


Laß dich in Schlaf nicht gleiten,
Wach, Künstler, bleib bereit:
Du bist der Ewigkeiten Geisel
im Griff der Zeit.

Boris Pasternak wuchs in einer Atmosphäre von Kunst, Musik und Poesie auf. Sein Vater Leonid Pasternak war ein bekannter Maler, unter anderem illustrierte er Lew Tolstojs Roman Auferstehung und porträtierte ihn auch selbst, besuchte ihn oft und empfing ihn mehrmals in seinem Haus. Die Mutter von Boris war eine sehr begabte Pianistin. Die Familie wohnte im selben Haus, in dem sich die Schule für Bildhauerei und Baukunst befand, in der Leonid Pasternak unterrichtete. Boris wollte zunächst Musiker werden; er lernte, studierte, komponierte, und der große Meister Skrjabin schätzte die Kompositionen seines zwanzigjährigen Schülers sehr hoch ein. Er selbst jedoch war mit sich nicht zufrieden, er stellte fest, daß er kein absolutes Gehör hatte, gab die Musik auf und studierte Philosophie, zuletzt an der Marburger Universität (1912). Die Äußerungen des wißbegierigen Studenten imponierten Professor Cohen, dem Leiter der Marburger Neokantianer, und er war bereit, Pasternaks Doktorvater zu werden. Aber der gab auch seine philosophischen Studien auf, weil er Dichter werden wollte.
Pasternaks frühe Gedichte fanden wenige, aber begeisterte Leser. Sein erstes Gedicht-Büchlein, ein Lyrik-Sammelband Zwilling in Wolken erschien 1914. In den nachfolgenden Jahren, als die meisten seiner literarischen Zeitgenossen über den Welt- und den Bürgerkrieg, über politische Leidenschaften und revolutionäre Kämpfe schrieben, dichtete er über die Natur, über geheimnisvolle Gewalten der Liebe und der Poesie. Seine Worte gestalteten eine absolute, pantheistisch fromme Naturverbundenheit. Seine Gedanken und Gefühle – ja seine gesamte Persönlichkeit – gingen auf in einem Morgenregen oder in einem Schneesturm, in Stimmen von Bächen, Vögeln, Meereswellen, aber auch im Weichbild einer Großstadt, in irgendeinem plötzlich bemerkten Gegenstand. Sowohl Menschen wie auch die von Menschenhänden erzeugten Dinge erschienen ihm als unlösbare Teile einer einheitlichen, wunderschönen und geheimnisvollen Welt. 

Und geht man über die Dorfstraße weg,
So tappt man schon auf dem Weltall herum.

Der Schriftsteller und Kritiker Kornej Tschukowskij, ein Nachbar und Freund Pasternaks, erinnerte sich:

Obwohl ich Boris Leonidowitsch mehrere Male im heimischen Kreis getroffen habe, ihn im Theater und an seinem Arbeitstisch sah, so sehe ich ihn, wenn ich mich an ihn erinnere, meistens im Freien, im Wind, im Sonnenschein, im Feld, im Wald, inmitten von Gras und Bäumen. Es ist wohl deswegen, weil Wind und Sonne, Feld und Wald die Haupthelden seiner Lyrik sind und machtvoll in ihr herrschen.

Bereits den jungen, wagemutig stammelnden Lyriker Pasternak schätzten die bedeutendsten russischen Autoren sehr hoch, und manche liebten ihn auch.
Marina Zwetajewa schrieb:

Pasternak wurde nicht am siebten Tag erschaffen (als die Welt nach der Erschaffung des Menschen in das ,Ich‘ und alles andere auseinanderfiel), sondern vorher, in den Tagen, als die Natur erschaffen wurde. Daß er als Mensch geboren wurde, ist ein reines Mißverständnis. Und sein ganzes Schaffen ist eine Wiedergutmachung dieses Naturfehlers, der für uns so glücklich und für ihn so verhängnisvoll ist […]. Pasternak ist unerschöpflich. Jedes Ding in seiner Hand, mitsamt seiner Hand und aus seiner Hand geht in die Unendlichkeit – und wir gehen mit ihm. Pasternak ist nur eine „invitation au voyage“ zum Eröffnen seiner selbst und der Welt.

Ossip Mandelstam behauptete:

Pasternaks Gedichte zu lesen, bedeutet die Kehle zu säubern, seinen Atem zu stärken, seine Lungen zu erneuern; solche Gedichte sollten die Schwindsucht heilen.

Und Rainer Maria Rilke, der die russische Literatur sehr gut kannte und verstand, schrieb am 14. März 1926 an Leonid Pasternak, mit dem er schon seit seinen Besuchen in Moskau befreundet war

[…] der junge Ruhm Ihres Sohnes Boris hat mich von mehr als einer Seite her angerührt.

Er habe „sehr schöne“, „sehr eindrucksvolle Gedichte“ geschrieben.
Manche sowjetische Kritiker warfen Pasternak vor, er fliehe vor der Wirklichkeit, schließe sich im Elfenbeinturm ein. Er konnte diese Vorwürfe nicht begreifen, denn er lauschte gespannt den Stimmen seiner Zeit und seiner Umgebung, er wollte seine Erlebnisse und Erkenntnisse möglichst genau und frei darstellen, wiedergeben und darüber gründlich nachdenken. So wurden seine Gedanken zu phantastischen Metaphern, frechen Oxymora und wunderlichen Tropen. Die Ströme seiner freien Worte zerstörten die Syntax und selbst die Gesetze der formalen Logik. Aber hartnäckig strebte er danach, eben die Wirklichkeit poetisch zu gestalten.
1925/26 schrieb er die großen Poeme „Leutnant Schmidt“ und „Das Jahr 1905“ – poetische, lyrisch-epische Reflexionen und Bildgestalten zum Thema der Revolution von 1905. Wenige Jahre später dichtete er ein Versepos „Spektorskij“, eine lyrische Auseinandersetzung mit seinen, Erinnerungen an die Revolution und an den Bürgerkrieg. Seine prosaischen Werke „Die Geschichte“, „Lüvers Kindheit“, „Geleitbrief“ sind ebenso wie seine kritischen und historischen Essays und seine Briefe von einer lyrischen und musikalischen Aussagekraft durchdrungen.
Er litt darunter, daß ihn manche Leser nicht begreifen konnten. Aber auch selbst strebte er nach anderen Ausdrucksformen.

Ist man gewiß des rings Verwandten,
Kennt man die Zukunft wie das Heut,
Bleibt nur die Häresie: zu landen
In unerhörter Einfachheit.

Doch tarnen wir sie nicht verständig,
Läßt man uns ungeschoren nie.
Sie ist den Leuten so notwendig,
Doch klarer dünkt Verzwicktes sie.
1

Der Roman Doktor Schiwago, die Gedichte im Roman („Schiwagos Gedichte“) und andere, die etwa gleichzeitig in den 50er Jahren geschrieben wurden, bedeuteten die Vollendung der schöpferischen Entwicklung des Autors. In diesen Werken herrschte bereits eine „unerhörte Einfachheit“, Der Arzt Jurij Schiwago, der lyrische Protagonist des Autors, verfaßt Gedichte. Wenn der Autor schildert, wie Schiwago zu dichten beginnt, und wie Bilder, Laute, Worte ihn überkommen, dann werden diese Seiten lyrische Epik, poetische Erzählungen vom Entstehen der Poesie.
Einmalig eigenartig war Pasternak in allem, auch in seinen Übersetzungen und Nachdichtungen. Er mußte viel übersetzen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; seine eigenen Gedichte lehnten Lektoren und Redakteure viele Jahre lang als formalistisch und volksfremd ab. Doch poetische Übersetzungen, wurden für ihn zu einer inneren Notwendigkeit, zu einem wichtigen Teil seiner Innenwelt. Er dichtete nach, er übersetzte Shakespeare, Schiller, georgische Lyriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Kleist, Petöfi, Słowatzki, beide Teile von Goethes Faust.
So entstanden in Rußland ein Pasternakscher Shakespeare, ein Pasternakscher Faust. Die großen Werke blieben originalgetreu, doch zugleich verkörpern sie noch Pasternaks Genie, in ihnen erklingt sein Dichterwort, seine Musik.
Er schrieb in seinem Essay „Notizen des Übersetzers “ 1944 in der Zeitschrift Snamja (Banner) publiziert:

Die Übersetzungen sind nicht ein Mittel, um einzelne Werke kennenzulernen, sondern für Jahrhunderte geltende Mittel, um Kulturen und Völker zu verbinden.

Darüber sprach er mit uns, als wir ihm im März 1960 auf der Straße in Peredelkino begegneten.

 

„Der Ewigkeiten Geisel im Griff der Zeit“

Unser Leben ist bloß ein Augenblick,
Bloß ein Sich-selbst-Auflösen
in allen anderen Lebewesen,
Ihnen sich verschenkend.

Die meisten Kritiker Pasternaks zitierten immer wieder aus einem seiner Gedichte:

Das Fenster öffnen und die Kinder im Hofe fragen –
Ihr Lieben, welches Jahrtausend ist jetzt da draußen?

Das schrieb er 1917. Brauchte man andere Beweise dafür, wie weit er vom gesellschaftlichen Leben seiner Gegenwart, seiner Heimat entfernt war?!
Diese Behauptung wurde zu einer Binsenwahrheit. Deswegen war es für viele völlig überraschend, daß der Altbolschewik Nikolaj Bucharin in seinem Vortrag über die Poesie auf dem ersten Kongreß der sowjetischen Schriftsteller (1934) Majakowskij nur kühl erwähnte, von Pasternak dagegen als von dem größten sowjetischen Lyriker sprach. Die Vertreter der „proletarischen“ Literaturgruppen polemisierten heftig gegen Bucharin. Doch die überwiegende Mehrheit im Kongreß und fast alle ausländischen Gäste stimmten ihm zu.
Pasternak glaubte damals noch aufrichtig, daß die Oktober-Revolution letzten Endes für Rußland doch günstig gewesen sei, daß sie für Millionen Menschen einen Weg aus der jahrhundertelangen Finsternis zum Licht geöffnet hätte.
Es war aber kein blinder Glaube. Er sah in seiner Umwelt auch Schmutz und Blut, erkannte auch Grausamkeit und Lüge; er verschloß seine Augen nicht – im Gegenteil, er wollte die Geschehnisse begreifen. Nie wollte er sie rechtfertigen, aber immer wieder versuchte er, ihren Sinn zu erkennen, den Sinn der Geschichte.
1923 schrieb er über Lenin:

Ein Genie kommt als ein Vorbote der Erleichterungen,
doch mit Unterdrückung rächt er sein Fortgehen.

Um die verborgenen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu erkennen, verglich er die Zeitalter:

Nicht gestern, vor Jahrhunderten geschah’s,
aber ebenso stark bleibt die Versuchung,
auf Ruhm und das Gute hoffend
Unerschrocken alles anzusehen.

[…]
Den Beginn der ruhmreichen Tage von Peter
verfinsterten Meutereien und Mordgerichte.

Diese Zeilen wurden 1931 geschrieben, also schon nach der Kollektivierung, nach den ersten Schauprozessen. In der Veröffentlichung im Nowyj mir (1932) war die Strophe ausgelassen, in der es um „Meutereien und Mordgerichte“ geht, sie wurde zum erstenmal in der posthumen Ausgabe 1965 publiziert.
Zu Beginn der 30er Jahre war Pasternak aufrichtig bemüht, „im Einklang mit allen zu sein, und mit der Staatsordnung auch“. Er versuchte Verbindungen zwischen den Hoffnungen „auf Ruhm und das Gute“ und der bösen Realität zu finden. Er versuchte es in Gedichten und in Reflexionen; aber in seinem Alltagsleben, in seinem Verhalten und Handeln wollte und konnte er sich nicht mit dem Bösen abfinden.
1933 wurde er von den örtlichen Behörden am Ural eingeladen und vom Schriftstellerverband beauftragt, eine Zeit dort in der Nähe von den großen Neubauten zu verbringen, um die Erfolge des sozialistischen Aufbaus kennenzulernen und anschließend darüber zu schreiben. Die Parteifunktionäre des Gebietes empfingen den hohen Gast, den berühmten Dichter aus Moskau feierlich, richteten für ihn ein Sommerhaus ein, versorgten ihn mit Lebensmitteln aus Spezialläden für die Privilegierten. Er aber sah am Bahnhof, auf den Straßen hungrige Menschen in Lumpen, kehrte nach Moskau zurück und schrieb später darüber:

Ich wollte wie alle sein, ich machte diese Reise mit dem Ziel, nachher ein Buch darüber zu schreiben. Was ich aber dort sah, kann man mit keinen Worten ausdrücken. Es war ein so unmenschliches, unvorstellbares Leiden, solche schreckliche Not, daß alles schon irgendwie abstrakt wurde, nicht vom Bewußtsein erfaßt werden konnte. Ich wurde krank. Ein Jahr lang konnte ich nicht schlafen.

1936 weigerte sich Pasternak, einen kollektiven Brief zu unterschreiben, in dem André Gide für sein angeblich antisowjetisches Buch Heimkehr aus der UdSSR schärfstens verurteilt wurde. – „Ich habe dieses Buch nicht gelesen.“
1937, in der schlimmsten Zeit des wütenden Stalinschen Massenterrors, war es üblich, in allen Unternehmen und Anstalten Resolutionen anzunehmen oder einfach Kollektivbriefe zu unterzeichnen, in denen Todesstrafen für ganze Gruppen „entlarvter Volksfeinde“ verlangt wurden. Ein Vertreter des Schriftstellerverbands kam zu Pasternak, er solle einen Brief unterschreiben, der dazu aufforderte, Tuchatschewskij, Jakir und andere Heerführer der Roten Armee zu erschießen, da sie als Verräter angeklagt worden waren. Er lehnte es ab. Seine schwangere Frau flehte ihn vergeblich an zu unterschreiben. Es war ja bekannt, daß eine solche Weigerung einem Selbstmord gleichkam. Er hat nicht unterschrieben. Aber am nächsten Tag erschien dieser Brief in den Zeitungen, und sein Name stand inmitten anderer Unterschriften. Pasternak ging sofort zum Sekretariat des Schriftstellerverbands und verlangte ein Dementi. Erschrockene und wütende Sekretäre schrieen: Er wolle wegen seiner dummen, starren Prinzipientreue nicht nur sich selbst und seine Familie, sondern alle seine Freunde und Kollegen aus dem Schriftstellerverband ins Verderben stürzen. Sie würden ja sofort als Helfershelfer und Beschützer eines Volksfeindes verhaftet. Er gab auf. Doch weiterhin wurde er nicht mehr mit solchen Anliegen behelligt.
Wir kennen niemand anderen, der zu dieser Zeit so gehandelt hätte. Unter den schrecklichen, schändlichen Briefen standen manchmal Unterschriften guter, ehrlicher, bedeutender Menschen, die es einfach nicht wagten, sich zu weigern.
Als im Sommer 1941 der Krieg begann, wurden in der UdSSR viele deutschstämmige Sowjetbürger verhaftet, darunter auch Heinrich Neuhaus, der Musiker und Musikwissenschaftler, einer der nächsten Freunde von Pasternak; (diese Freundschaft hatte schon früher eine schwere Prüfung zu überstehen: 1931 zog Sinaida, die Frau von Neuhaus, mit zwei Söhnen zu Pasternak, wurde dessen Frau, dennoch blieben sie alle miteinander befreundet). Der älteste Sohn von Neuhaus, der Stiefsohn Pasternaks, war 1941 schwer erkrankt; nach Kriegsbeginn wurde das Kinderkrankenhaus weit von Moskau verlegt. Boris Leonidowitsch schrieb dem Jungen, der von der Verhaftung seines Vaters erfahren hatte, daß er nicht an dessen edlen Gesinnungen, seiner Ehrlichkeit und seinem einwandfreien Charakter zweifeln dürfe. Er müsse ja wissen, daß viele gute Menschen verhaftet seien, und auf seinen Vater werde er immer stolz sein müssen. Pasternak schickte diesen Brief mit der gewöhnlichen Post, obwohl die militärische Zensur bereits ganz offen am Werke war.
Er half vielen Verhafteten, Freunden, Bekannten und Unbekannten und ihren Familien. Als der junge Philologe und Übersetzer Konstantin Bogatyrjow 1951 zu 25 Jahren schwerer Haft verurteilt wurde, schrieb ihm Pasternak lange, freundliche Briefe ins Lager, schickte ihm Bücher, Geld und Lebensmittelpakete. Ebenso half er den Verbannten: Ariadna Efron-Zwetajewa (Tochter von Marina Zwetajewa), dem balkarischen Dichter Kajssyn Kulijew, dem Schriftsteller Warlam Schalamow, der Familie seines erschossenen Freundes, des georgischen Dichters Tizian Tabidse und vielen anderen.
Oft hörten wir daheim und im Ausland die Frage: Wie konnte er denn selbst unbehelligt bleiben, wenn er sich so benahm?
Der Stalinsche Terror war nicht nur grenzenlos grausam, sondern oft auch noch absurd, sinnlos. In vielen Fällen ist es unmöglich zu erklären, warum die einen oder die anderen überzeugten Anhänger und Anbeter Stalins verhaftet und sogar ermordet wurden, dagegen aber Menschen, die dem sowjetischen Regime und seiner offiziellen Ideologie ganz bewußt fern blieben, ungestört leben und arbeiten durften. Doch im Fall Pasternak glauben wir einige Hypothesen aufstellen zu können. Das Schicksal solcher bedeutenden und international bekannten Menschen entschied Stalin immer selbst; das Politbüro fällte seine Urteile bereits vor der Verhaftung des zu Verurteilenden. Stalin wußte, daß Pasternak ein großer Dichter ist; er kannte die Einschätzungen der Sachverständigen wie Gorkij, Bucharin und vieler ausländischer Schriftsteller, zum Beispiel Aragon, Malraux, die in Pasternak einen der größten Dichter des 20. Jahrhunderts sahen. Eben deswegen verlangte Stalin, daß Pasternak zusätzlich der Delegation der sowjetischen Schriftsteller zum internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur in Paris (1935) zugeteilt wurde.
Dort sprach Pasternak, der begeistert empfangen wurde, nur wenige Minuten.

Dichtung wird immer in einer alle Gebirge überragenden, herrlichen Höhe zu Hause sein. Sie breitet sich zu unseren Füßen im Grase aus, so daß man sich nur herabzubeugen braucht, um sie zu erblicken und von der Erde aufzuheben. Sie wird immer einfacher sein, als daß man sie in Versammlungen abhandeln könnte. Sie wird immer organische Funktion des Glücksgefühls des Menschen bleiben, der die gesegnete Gabe vernunftvoller Rede besitzt. Und so wird es, je mehr Glück auf der Erde sein wird, um so leichter werden, Künstler zu sein.

Aus diesen Worten war es kaum möglich, irgendeine Andeutung auf die sowjetische Ideologie und auf die damals bereits offiziell verkündeten Grundsätze des „sozialistischen Realismus“ herauszuschälen.
Stalin aber wußte aus allen Berichten, daß Pasternak absolut aufrichtig und dabei naiv war. Er selbst konnte es erkennen: Als 1934 der Dichter Ossip Mandelstam verhaftet wurde und Pasternak um seine Freilassung bat, rief Stalin bei ihm an. Er konnte nicht überhören, daß sein Gesprächspartner weder Angst vor ihm hatte, noch ihn anbetete, ihm nicht schmeichelte und um nichts für sich bitten wollte. Er sagte zum Schluß: „Ich möchte noch über vieles mit Ihnen sprechen, Genosse Stalin.“ – „Worüber denn?“ – „Über Leben und Tod.“ – Stalin legte auf; er hatte sich wohl überzeugt, daß dieser große Dichter so etwas wie ein Gottesnarr war, der sich nicht verstellt, nicht heucheln und schon deswegen nicht gefährlich werden kann.
Man darf annehmen, daß eine solche Stalin-Meinung zum unsichtbaren Geleitbrief wurde, der Pasternak das Allerschlimmste ersparte, ihn jedoch nicht vor Beschimpfungen und Hetze beschützen konnte.

1944 schrieb Pasternak sein poetisches Bekenntnis:

Dem Träumer, der die Nacht durchwacht
ist Moskau das Allerliebste in der Welt.
Hier ist er daheim, an der Urquelle
von allem, wovon das Jahrhundert wird blühen.

Während des Krieges lebte er wie die meisten seiner Mitbürger, er träumte vom Sieg, er wartete auf den Sieg. In dieser Zeit vertraute er noch viel mehr als zu Beginn der 30er Jahre den Hoffnungen auf den „Ruhm und das Gute“ und glaubte, daß eben in unserem Lande die „Urquelle von allem [ist], wovon das Jahrhundert wird blühen“.
Doch eben damals begann die siegreiche Großmacht neue Feldzüge gegen neue, jetzt schon „innere Feinde“. Millionen ehemaliger Kriegsgefangener, „Ostarbeiter“ und sonstiger „Kollaborateure“ überfüllten Gefängnisse und Straflager; ganze Volksstämme – die Wolgadeutschen, Krimtataren, Kalmücken, Balkaren, Inguschen, Tschetschenen und andere – wurden tschingiskhanisch verurteilt, aus ihren Heimatorten Tausende Kilometer weit vertrieben.
Und bald nach dem Krieg begann ein vernichtender ideologischer Feldzug, der gegen die freien Gedanken der Wissenschaftler, gegen den freien Verkehr mit Menschen aus anderen Ländern und auch gegen das freie Schaffen der Künstler, Musiker und Schriftsteller gerichtet war. Im August 1946 wurden durch einen besonderen Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU die große Dichterin Anna Achmatowa und einer der bedeutendsten russischen Epiker, Michail Soschtschenko, unflätig beschimpft, alle ihre Publikationen verboten, und die Leningrader Behörden entzogen ihnen sogar die Brot- und Lebensmittelkarten.
Pasternak war auch schon vor 1946 mehrmals von den Parteikritikern wegen „Formalismus“ und „Ideenlosigkeit“ schonungslos „demontiert “ worden. In den Jahren, die dem Erlaß von 1946 folgten, schlug die Kritik an ihm in eine wahre Hetze um. Pasternaks nächste Freundin Olga Iwinskaja wurde 1949 verhaftet, er selbst verhört. Sie kam ins Straflager und durfte erst nach der Amnestie nach Stalins Tod zurückkehren.
In diesen Nachkriegsjahren, die für alle Völker der Sowjetunion und für ihn persönlich so schwer waren, schrieb Pasternak an seinem Roman Doktor Schiwago, dichtete Goethes Faust nach, verfaßte Gedichte, die vom Geiste des Evangeliums, von einer stoischen Erkenntnis seiner Einsamkeit und von tragischer Weisheit durchdrungen sind.

Ich wollt’, ich könnte überall
Zum Kern gelangen;
Im Werk, in meines Weges Wahl,
In Herzens Bangen.

Zum Wesen langvergangner Stund,
Zu ihrer Quelle,
Zum Fundament, zum Wurzelgrund,
Zur Herzensstelle.

Daß stets in meinen Händen blieb’
Des Schicksals Faden
In Leben, Denken, Fühlen, Lieb’,
Entdeckungstaten.

 

Ein Dichter widersteht dem Staat

Hinter mir der Lärm der Hetze,
Und nach draußen kann ich nicht.

Die „Tauwetter“-Jahre nach dem Tode Stalins wurden zu einer Zeit neuer Hoffnungen, neuer Illusionen, aber auch mancher guter Änderungen und Neuerungen. Millionen Häftlinge kehrten aus Gefängnissen und Lagern zurück; viele wurden posthum rehabilitiert. Zum erstenmal veröffentlichte man die Wahrheit über den Notstand in der Landwirtschaft, über die Verlogenheit der früheren „Parade-Statistik“ und sogar einen Teil der schrecklichen Wahrheit über die Verbrechen des Stalinschen Regimes.
Es erschienen als Bücher und in Zeitschriftenpublikationen die Werke vieler seit Jahren verbotener und verfemter Autoren – Anna Achmatowa, Iwan Bunin, Marina Zwetajewa, Isaak Babel, Boris Pilnjak, Andrej Platonow, Michail Bulgakow u.a.m. Es erklangen neue Stimmen junger Literaten, die scheinbar ganz frei von den Ängsten waren, die ihren älteren Kollegen so lange das Leben erschwert hatten. Die Lyriker Bella Achmadulina, Jewgenij Jewtuschenko, Andrej Wosnessenskij, die Epiker Wassilij Aksjonow, Jurij Kasakow und andere vertraten die neue, die „nachstalinsche “ Literaturgeneration.
Diese Zeit brachte auch Pasternak eine Befreiung aus vielerlei Bedrängnissen. Es wurden wieder Gedichte von ihm publiziert; bereits im Frühjahr 1954 erschienen in der Monatsschrift Snamja einige Gedichte aus dem Roman Doktor Schiwago, und der Roman selbst wurde dabei erstmalig in der sowjetischen Presse angekündigt. Auch andere Zeitschriften veröffentlichten seine Gedichte und Artikel. Ein Verlag begann, einen Sammelband von Pasternak vorzubereiten.
1956, bald nachdem Chruschtschow auf dem Parteikongreß den „Persönlichkeitskult Stalins“ bloßgestellt und verurteilt hatte, rief der Roman von Wladimir Dudinzew Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, der damals noch gänzlich ungewohnt scharf die Besonderheiten der sowjetischen Bürokraten bloßstellte, lebhafte Diskussionen in vielen Städten hervor. Die linientreuen Kritiker und einige höhere Funktionäre verurteilten diesen Roman scharf als „revisionistisch“, als „übertriebene Schwarzmalerei“. Aber unterschiedlich zu dem, was früher üblich war, wollte der Autor nichts bereuen, und auch die meisten seiner Verteidiger nahmen ihr Lob nicht zurück, dementierten nichts.
Viele – auch wir – glaubten damals, daß nun eine neue Epoche, eine freiere Entwicklung unserer Literatur beginnen würde. Eine Sonderausgabe des Romans Doktor Schiwago sollte gleichzeitig in Moskau und in Italien im Verlag des KP-Mitglieds Feltrinelli erscheinen: Pasternak übergab ihm das Manuskript zur Veröffentlichung.
Aber der Roman wurde vom Redaktionsgremium der liberalsten Monatsschrift Nowyj mir (Neue Welt), in der zuvor Dudinzew publiziert worden war, als ideologisch unhaltbar abgelehnt. Der Verlag in Moskau verzichtete selbstverständlich auch auf die Ausgabe. Feltrinelli gab daraufhin Doktor Schiwago 1957 sowohl russisch wie italienisch heraus.
Für die meisten sowjetischen Literaten erschien es damals als ein unerhörtes Wagnis, sein Manuskript ins Ausland zu schicken. Dieses Mal war Pasternak nicht nur der einzige tapfere, sondern eben auch noch ein Bahnbrecher; mit seinem Wagnis begann eine wirklich neue Epoche der neuesten russischen Literaturgeschichte. In den 60er und 70er Jahren waren es schon viele russische, ukrainische und andere Autoren, die ihre in der Heimat abgelehnten, verbotenen Werke im Ausland publizierten.
Die zahlreichen Ausgaben von Doktor Schiwago in verschiedenen Sprachen und Ländern und der darauf folgende Nobelpreis für Pasternak (1958) versetzten die sowjetischen Behörden in eine beinahe krankhafte Wut – lösten aber auch Verwirrung und Schrecken in manchen Kreisen der Intelligenzija aus: „Wie konnte er sich bloß so erdreisten?!“… „Gott sei uns gnädig, das wird jetzt neue Repressalien, neue Verfolgungen, neue ideologische Verhärtungen provozieren!“
Chruschtschow und der Chef der Staatssicherheit Semitschastnyj beschimpften Pasternak öffentlich als einen „Abtrünnigen“. Die Versammlung des Moskauer Schriftstellerverbandes beschloß einstimmig, ihn aus dem Verband auszuschließen. In dieser Versammlung und in den Zeitungen in zahlreichen „Briefen der Werktätigen“ verlangten die Eifrigsten, den Verräter auszubürgern und ins Ausland zu verbannen.
Boris Pasternak lehnte seinen Nobelpreis ab. Er telegrafierte an die schwedische Akademie:

EN VUE DU SENS QUE CETTE DISTINCTION SUBIT DANS LA SOCIETE QUE JE PARTAGE JE DOIS RENONCER AU PRIX IMMERITE QUI MA ETE ATTRIBUE NE PRENEZ PAS EN OFFENSE MON REFUS VOLONTAIRE PASTERNAK

Er wollte nicht ausreisen, nicht emigrieren. Was ihn dazu bewegte, war nichts weniger als Angst vor der unbekannten, fernen Welt; von Kindheit an war er untrennbar mit der westeuropäischen Kultur verbunden, verwachsen. 1912 und 1922/23 lebte er viele Monate in Deutschland. Er sprach und schrieb einwandfrei deutsch, französisch und englisch. Doch er wußte, er fühlte, daß er nirgendwo anders als in Rußland leben könnte, weil er ersticken müsse, wenn er nicht in der Atmosphäre der russischen Sprache bliebe. Und er wollte seine allerliebsten Menschen nicht verlassen.
Darin war Pasternaks Schicksal – damals noch einzigartig – das erste in einer langen Reihe tragischer Schicksale russischer Literaten, die in den folgenden Jahrzehnten von ähnlichen Problemen bedrängt wurden, als man sie exilierte, ausbürgerte, zur Emigration zwang.
Pasternak litt schwer an der wilden Hetze, die von den höchsten Regierungsstellen, der gesamten sowjetischen Presse, auch von manchen „Kollegen“ gegen ihn geführt wurde.

Bin am End: ein Tier im Netze.
Fern gibt’s Menschen, Freiheit, Licht.
Hinter mir der Lärm der Hetze,
Und nach draußen kann ich nicht.

Doch er ließ sich nicht von all den Schimpfkanonaden geistig zunichte machen. Er widerstand ihnen auf die ihm einzig mögliche Art: Er arbeitete.

Er schrieb an einem Theaterstück, verfaßte Gedichte. Am 14. Dezember 1958 schrieb Pasternak an Brigitte B. Fischer:

Und ich schwieg nicht wegen irgendwelchen Hindernissen. Einfach verbrachte ich den Monat in einer handwerksartigen entkräftend angestrengten übersetzerischen Facharbeit, um die gefährlichen Unannehmlichkeiten, die um mich brausten, nicht zu hören.

Die wochen- und monatelange Hetze gegen ihn unterschied sich nur in Ausmaß und Dauer von dem, was er und manche andere sowjetische Literaten in früheren Jahren erleben mußten. Dagegen neu und beispiellos waren die weltweiten Wellen von Sympathie und Verständnis für Boris Pasternak, für sein Werk und sein Schicksal. Die Fluten von Briefen aus allen Teilen der Erde vermochte auch die sowjetische Postzensur nicht völlig aufzuhalten.

Abends wachsen die Schatten und legen
Vor die Bäume sich lang und haardünn.
Auf dem Waldwege streckt mir entgegen
Ein Paketchen die Briefträgerin.

[…]

Und ihr Briefmarkensammler! Man denke:
Dieser einzigen Sendung Gewinn!
Oh, was wärn das für reiche Geschenke,
Wärt ihr da, wo ich Armer jetzt bin!

Pasternak sagte sich nur vom Nobelpreis, nicht aber von seinem Werk los, gab all den Aufforderungen, „seine Fehler zu gestehen“, nicht nach, hörte auch trotz amtlicher Warnungen und Drohungen nicht auf, mit ausländischen Freunden und Lesern zu korrespondieren. Seine Briefe aus diesen Jahren, darunter viele, die auch direkt deutsch, französisch und englisch geschrieben wurden, sind ein wesentlicher Teil seiner lyrischen Publizistik.
Einer deutschen Studentin, die ihn im Februar 1959 besuchte, sagte er:

Bitte grüßen Sie alle Ihre Freunde und sagen Sie ihnen, daß ich nur noch dank Ihrer Güte existiere.

Diesen Gruß übermittelte er vor allem Renate Schweitzer, einer deutschen Musikerin und Lyrikerin. Der Briefwechsel mit ihr wurde zu einer innigen, geistigen Freundschaft. Sie war auch der letzte Besucher aus dem Ausland, den Pasternak noch zu seinen letzten Ostern 1960 empfangen konnte. Kurz darauf erlitt er den zweiten Herzinfarkt (seinen ersten Infarkt hatte er im Winter 1952/53, zu der Zeit als Stalins Terror wieder über alle Maßen anzuschwellen begann). Anschließend entdeckten die Ärzte einen Lungenkrebs, der sich schnell ausbreitete.
Am 30. Mai 1960 starb er in dem Landhaus in Peredelkino. Der Priester der Dorfkirche zelebrierte die Totenmesse. Es war nicht einmal bekanntgegeben worden, wann und wo er begraben würde. Eine kurze Traueranzeige erschien erst am Tag nach seiner Beisetzung in einer Zeitung.
Doch mehr als 2.000 Menschen kamen am 2. Juni nach Peredelkino, um von ihrem Dichter Abschied zu nehmen. Die Funktionäre des „Literaturfonds“ (eine zum sowjetischen Schriftstellerverband gehörende Wohlfahrtsstiftung, deren Mitglied Pasternak geblieben war) versuchten vergeblich, als Ordner aufzutreten. Sie wollten, daß der Sarg mit einem Leichenwagen zum Friedhof gebracht würde. Aber Söhne, Freunde und Leser trugen den Sarg auf ihren Schultern zum Friedhofshügel und hinauf zu dem Grab unter den drei hohen Kiefern, die Pasternak oft aus dem Fenster seines Arbeitszimmers sah.
Die Grabrede hielt sein Freund, der Philosoph Walentin Asmus; anschließend lasen junge Männer und Frauen abwechselnd Pasternaks Gedichte. Bis nach Mitternacht dauerte die poetische Trauerfeier.
Da erklang auch das Gedicht, in dem er seinen Abschied vom Leben vorausfühlte, vorausgestaltete…

Mir träumte, daß zu meinem Leichenzug
Gemeinsam durch den Wald ihr ginget.

[…]

„Leb wohl, Verklärungstag, ich grüße nun
Dein Blau und Gold zum letzten Male.
Mit letzter Frauenzartheit süße nun
Der Scheidestunde bittre Qualen. 

Lebt wohl, ihr Jahre voll von Widrigem;
Und Weib, das mutig widerstreitet
Dem Abgrund von Entehrend-Niedrigem!
Ich bin als Walstatt dir bereitet.

Leb wohl, du Schwingenpaar, entfaltetes,
Du Wucht des Flugs in freien Lüften,
Und Bild der Welt, im Wort gestaltetes,
Und Schaffenskraft und Wunderstiften.“

Doch weder der Tod noch der posthume Ruhm schwächten den gehässigen Rachedurst der Behörden. Wenige Monate nach Pasternaks Tod wurde Olga Iwinskaja wieder verhaftet, dieses Mal zusammen mit ihrer Tochter, und beide kamen für mehrere Jahre ins Straflager. Doktor Schiwago und die vollständigen ausländischen Ausgaben seiner Gedichte werden auch heute noch bei Hausdurchsuchungen konfisziert und dienen als Beweismaterial bei Anklagen wegen „Aufbewahrens antisowjetischer Literatur“.
Das Landhaus in Peredelkino, in dem Pasternak 25 Jahre verlebte, bewohnten später seine Söhne mit ihren Familien, dort blieb sein Arbeitszimmer erhalten, dort wurden seine Bibliothek und die Bilder des Vaters aufbewahrt.
Doch der „Literaturfonds“ prozessierte seit 1981 drei Jahre lang, um das Haus „zurückzubekommen“. Nach einer behördlich beeinflußten Gerichtsentscheidung drangen am 17. Oktober 1984 die Funktionäre des „Litfonds“ mit einer Gruppe „freiwilliger Helfer“ in das Haus ein und zerstörten, was sie zerstören konnten. Pasternaks Briefe und Bücher wurden auf den Hof, auf den verregneten Boden geworfen, der Flügel, auf dem er selbst und seine Freunde, die großen Musiker Heinrich und Stanislaw Neuhaus, Maria Judina und Swjatoslaw Richter gespielt hatten, wurde brutal zertrümmert.
In Marburg, wo Pasternak mehrere Monate (1912) verlebte, wurde eine Gedenktafel an dem Haus angebracht, in dem er gewohnt hatte; es gibt dort auch eine Pasternak-Straße.
Dagegen darf in seiner Heimat bis jetzt nur ein kleines Grabmal auf dem Hügel unter den Kiefern gegenüber von seinem zerstörten Haus an den unbequemen Dichter erinnern.
Doch sein Wort, sein Geist lebt; es lebt trotz aller toten Seelen seiner Verfolger.

 

Ein faustisches Schicksal

Nicht die Erschüttrungen und Umsturzwenden
Fegen den Weg für neues Leben frei,
Nein, Offenbaren, Stürmen und Verschwenden
Entflammter Seele, wessen sie auch sei.

Jeder Mensch ist ein Faust, der alles erfassen, erfahren und zum Ausdruck bringen möchte. Nur die Irrtümer seiner Vorgänger und Zeitgenossen haben aus Faust einen Gelehrten gemacht. Der wissenschaftliche Fortschritt ist dem Gesetz der Abstoßung untertan. […] Zum Künstler dagegen wurde Faust durch das Beispiel seiner Lehrmeister. Der Fortschritt in der Kunst unterliegt dem Gesetz der Anziehung. Man entwickelt sich weiter durch die Nachahmung und Nachfolge von Vorbildern, die man verehrt.

Das schrieb Pasternak im Doktor Schiwago.
Den Faust übersetzte er in denselben Jahren, als er auch an seinem Roman arbeitete, in zwei stürmischen Anfällen im Herbst und Winter 1949/50 und im Winter 1951/52. Es war keine systematische Fleißarbeit eines erfahrenen Berufsübersetzers, sondern ein hingerissenes Sichversenken in Goethes poetische Welt, eine spontane Sichgleichsetzung mit den Elementargewalten des Dramas. Seit seiner frühesten Jugend war Faust für ihn „das schönste Werk der Weltliteratur“. Faustische Motive erklangen schon früher in seiner Lyrik, in den Gedichten aus dem „Faust-Zyklus“, „Margarete“, „Mephistopheles“, „Fausts Liebe“ (1918–1920) und „An Helena“ (1921).
Anna Achmatowa, die große weise Dichterin, sagte zu Pasternak 1942, sie sei überzeugt, er müsse und werde noch seinen Faust schreiben.
Die Nachdichtung von Goethes Drama und der Doktor Schiwago – beide wurden zu seinem Faust. Jurij Schiwago, Arzt und Poet, lehnt einen Vergleich mit den Gewalten des Bösen ab, dagegen wird sein Altersgenosse und Rivale Pawel Antipow (Strelnikow) zum „Berufsrevolutionär“; um ein zukünftiges ideales Gutes zu erreichen, wirkt er am realen Bösen mit und wird von seinen eigenen Kameraden, denen er doch zu gut zu sein schien, ermordet.
Nachdem die Faustnachdichtung abgeschlossen war, schrieb Pasternak seiner Cousine Olga Freudenberg, die ihm eine sehr nahe, auch geistesverwandte Freundin war:

Dieser Faust war ganz in meinem Leben. […] ich übersetzte ihn mit Herzensblut […] gleichzeitig mit der Arbeit, und dicht daneben war das Gefängnis und all das andere, all die Schrecken und die Schuld und die Treue.

Es gab aber für ihn auch noch andere „faustische“ Probleme. „Der Schriftsteller ist der Faust der modernen Gesellschaft, der einzig überlebende Individualist im Massen-Zeitalter“, heißt es im Doktor Schiwago.
Goethe war für Pasternak eines der großen Vorbilder, und ebenso wie Goethe blieb er sowohl in seinem sittlichen wie in seinem philosophischen Weltempfinden vor allem ein Dichter, ein Künstler. So empfand, so begriff er auch den Faust. Als er noch an der Übersetzung arbeitete, schrieb er seinen russischen Freunden:

Faust eroberte neue seelische Bezirke der Menschheit und erschloß neue seelische Möglichkeiten, die erst durch die lyrische Kraft dieses Werkes entdeckt wurden. Man darf nicht behaupten, diese Bezirke hätte es ohne Faust nicht gegeben. Aber sie werden erst durch den Atem dieser Lyrik lebendig, wirksam. Sie wirken, solange die Faust-Handlung sich vollzieht, d.h. solange Faust wächst von Zeile zu Zeile, von Szene zu Szene […]. Das Gebiet, dessen Geist Faust zum Ausdruck bringt, ist das Reich des Organischen, die Welt des Lebens. Diese Welt lebt nach Gesetzen, die auch Faust zugrunde liegen und das Geheimnis seiner Helligkeit bilden. Hier gibt es nichts, solange nicht ein ganz starker Wunsch aufkommt. Sobald man aber heiß wünscht, mit ganzer Seele wünscht, da erscheinen, wie auf eine Beschwörungsformel, neue Lebewesen, da werden Kinder geboren, neue Epochen kommen, ihr Antlitz zur Sonne der Wahrheit gewandt.

Der Begriff „Faust-Welt“, den Pasternak geprägt hat, entstand aus einem Goetheschen „Kern“, aber diese Welt wurde auch aus anderen poetischen, philosophischen und sittlichen Quellen des russischen und des westeuropäischen geistigen Lebens gespeist. Pasternaks persönliche „Faust-Welt“ begann sich bereits in der Kindheit aus russischen und deutschen Volksmärchen und Volksliedern zu entwickeln, in seiner Jugend und in den reiferen Jahren hatte sie sich aus dem Aneignen der Welten von Shakespeare und Puschkin, von Schiller, Kleist, Blok und Rilke und gleichsam aus den Welten von Moskau und Marburg wunderbar vielfältig weiterentwickelt. Es war keine in sich abgeschlossene Dichterwelt, kein verzaubertes Reich eines wirklichkeitsfremden Magier-Poeten. Sie blieb stets nach allen Seiten offen, und auch jetzt, Jahrzehnte nach seinem Tod in seinem unvergänglichen Erbe und darüber hinaus, wächst und entfaltet sich seine „Faust-Welt“ immer weiter.
Faust war für Pasternak ein Symbol für unbeschränkte Möglichkeiten im Erkennen, Schaffen und Gestalten. Und ebenso wie Faust hat auch er sein Leben lang „immer strebend sich bemüht“. Doch anders als der Held der Sage und des Goetheschen Dramas hat Pasternak seine eigenen Verirrungen und Illusionen ebenso wie seine Ängste und Zweifel selbst überwunden, sich letzten Endes auch wie Jurij Schiwago der Versuchung durch das Böse entzogen.
Sein Schicksal – das Schicksal des Dichters und des Staatsbürgers – ist exemplarisch für viele Generationen seines Volkes. Dieser Eremit von Peredelkino, der einsame „Gesprächspartner der Haine“, wie ihn Achmatowa nannte, lebte inmitten des Volkes und war ihm in allem unermeßlich näher als die literarischen Funktionäre und Würdenträger, die stets überschwenglich von ihrer Volkstümlichkeit schwätzen. Er dagegen war in seiner ganzen Weltempfindung, in seinen Vorstellungen von Gutem und Bösem, von Gott und Natur, in seinem alltäglichen Dasein und in seiner Sprache wirklich volkstümlich.

In der heißen Stickluft des Eisenbahnwaggons
Gab ich mich ganz und vollkommen hin
Dem plötzlichen Anfall der Schwäche,
Die angeboren und mit Muttermilch eingesogen war.

Durch die Wandlungen des Vergangenen,
Durch Jahre der Kriege und des Elends hindurch
Erkannte ich schweigend die unwiederholbaren
Züge des Antlitzes Rußlands.

Ich gab mir Mühe, nicht anzubeten,
Ich sah in bewundernder Liebe.
Da waren sie: Weiber und Männer der Vorstadt,
Schuljungen, Schlossergesellen.

Das schrieb er 1941. Auch den Krieg empfand er ebenso wie diese Menschen, seine Mitfahrer in den Frühmorgenzügen Peredelkino-Moskau. Er blieb immer im Volk, er litt an den gleichen Leiden und Nöten, er hatte die gleichen Hoffnungen und feierte die gleichen Feste. Und sein faustisches Schicksal, seine persönliche Tragödie ist die Tragödie derjenigen, die, so wie er, einst an die Gerechtigkeit des Sowjetstaates geglaubt hatten, die sich überzeugen ließen, daß die Ideale dieses Staates edel und heilbringend seien.
1934 schrieb Pasternak seinem Vater, der im Ausland lebte:

Ich bin ein Teilchen meiner Zeit und meines Staates geworden, und seine Interessen sind jetzt die meinigen.

Damals hoffte er ebenso wie wir, wie alle unsere Freunde und viele unserer Altersgenossen:

Du bist schon nah, oh Ferne des Sozialismus.

Und ebenso wollte er „sein Leben nach dem Fünfjahresplan bemessen“.
Wohl unterschiedlich zu vielen, zu den meisten, zweifelte er immer wieder und gestand seine Zweifel offen ein. Doch für die Welt blieb er lange der Repräsentant der sowjetischen Poesie, der sowjetischen Kultur. Und sein Glaube, sein Bestreben, „eins mit allen zu sein“, ebenso wie solches Bestreben von Majakowskij und Gorkij, beeinflußten uns und unsere Freunde, bestärkten, bekräftigten unsere Verbundenheit mit dem Staat, der bereits seinen „realen Sozialismus“ auf den Gebeinen von Millionen Opfern aufbaute.
Diese tragische Schuld der sowjetischen Intelligenzija – sie war eben tragisch im klassischen Sinne des Begriffes, weil das Nachgeben und sogar die Mitarbeit mit dem Bösen von edelsten Motiven bestimmt waren, von den Hoffnungen „auf den Ruhm und auf Gute“ – mußten Hunderttausende mit ihrem Gewalttod, mit langjähriger Lagerhaft, mit unstillbaren Gewissensqualen abbüßen.
Die tragische Schuld Pasternaks war viel geringer als die der allermeisten seiner Kollegen. Und sein Leben, sein Schaffen und besonders der letzte Akt seiner persönlichen Tragödie – die Geschichte des Romans und des Nobelpreises – zeugen eindeutig davon, daß Pasternak in seinem ganzen Wesen dem Staat eigentlich immer fern und fremd blieb. Und sein Schicksal beweist, daß ein „ideologischer“, totalitärer Staat der nationalen Kultur, der Dichtung und der Kunst bestenfalls absolut fremd, sonst aber direkt feindlich ist.
Boris Pasternaks Schicksal und Werk verkörpern die Unabhängigkeit des Genius und seinen endgültigen Sieg über seine eigenen Schwächen und über alle Ideologien und Staatsmachten.
Er, eine „Geisel im Griff der Zeit“ hat sich selbst befreit, hat die Ewigkeit erobert. Und ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode lebt er weiter und spricht zu den Lebenden.

 

 

 

Gespräch zwischen Anastassija Zwetajewa

und Maël Feinberg 

Maël Feinberg: Anastassija Iwanowna, wann haben Sie Pasternak kennengelernt?

Anastassija Zwetajewa: Als Marina zu ihrem Mann in die Tschechei fuhr,2 sagte sie zu mir: „Asja, von Pawlik3 habe ich dir erzählt, Jessenin ist selbstverständlich talentiert, aber er ist auf eine einzige Saite eingestimmt. Es gibt nur einen Menschen in Rußland, einen Dichter, von dem ich dir nichts gesagt habe, ich habe ihn gesehen und ihn rezitieren gehört, er und seine Gedichte sind wundervoll, und er trägt sie großartig vor. Sein Gesicht ähnelt dem Puschkins, aber er ist von größerem Wuchs. Ihn mußt du dir ansehen und anhören. Es ist Boris Pasternak.“ Das sagte sie zu Beginn des Sommers 1922. Zum ersten Mal habe ich Boris 1923 gesehen. Er brachte mir ein Bändchen mit Marinas Gedichten, Handwerk, ein graues, bescheidenes Büchlein, das lange mein Lieblingsbuch war.
Aus der Tschechei hatte sie diesen Band an Boris Pasternak nach Berlin für mich geschickt. Boris trug, entsinne ich mich, einen grauen Mantel, er nahm seine graue Schirmmütze ab, und aus dieser matt-silbernen Kleidung und unter der dunklen kastanienbraunen Mähne hervor schauten mich helle, kastanienbraune Augen an, mit einem Ausdruck von Ergebenheit wie bei einem Hund.4 Liebkosend, eindringlich musternd, erkennend und prüfend. (Ich verstehe, sagte ich zu mir, er vergleicht meine Ähnlichkeit mit Marina.) Aber er lachte bereits mit weit aufgerissenem Mund, wie ein Hund, freudig und laut. Doch Boris’ Lachen ist ein Thema für sich.

Feinberg: Haben Sie sich oft gesehen?

Zwetajewa: Ganz unterschiedlich: manchmal oft, manchmal selten. Seine und meine Tage waren ausgefüllt, aber unsere Verwandtheit, ebenso wie die zwischen ihm und Marina, war von der ersten Begegnung an so tief, so organisch, daß er sich bei mir und ich mich bei ihm wie zu Hause fühlte, als seien wir in demselben Haus zur Welt gekommen – Kinder einer Familie, alles verstanden wir ohne ein Wort der Bestätigung, ein Blick (freudig – er hatte verstanden!), eine unmerkliche Bewegung des Gesichts (wenn er zuhörte), ein fröhliches Nicken dem Sprechenden entgegen, ein plötzlicher Händedruck, seine Hand auf meiner, die er umfaßte, von oben, wie mit beiden Händen, zum Zeichen brüderlichen Verstehens, das keiner Worte bedarf. Jenes stille Entzücken der Verwandtheit, dem vielleicht auch der unaufhaltsame Wortstrom entsprang, der, einer Beichte gleich, ein Stück der Seele bloßlegt, immer tiefer die Treppe hinab bis in die geheimsten Winkel des Unaussprechlichen, das vielleicht seit der Kindheit geschwiegen hat und plötzlich in einem Wasserfall von Geständnissen hervorbricht; die Treppe hinauf, wie bei uns in der Trjochprudny-Gasse, aus dem „Hintertreppen“-Dunkel des Bewußtseins in die Weite und Helle der oberen, weit geöffneten Zimmer, wo es sich bereits frei und festtäglich atmen läßt im Vorgefühl der Weihnachtsbaumfreuden des Lebens, der Gemeinsamkeit in allem und für immer, wo wiederum das Reich des Schweigens beginnt…
Boris wohnte damals direkt neben Papas Museum (der Schönen, der Bildenden Künste), in der Wolchonka 14, im zweiten Geschoß eines zweigeschossigen Hauses, glaube ich. Hohe Decken, hohe Fenster, an die „Einrichtung“ habe ich keinerlei Erinnerung. Aber in diesen Zimmern „lebten“ ein großer Schreibtisch (seiner, erinnere ich mich), weit abgerückt vom Fenster ein Flügel (ebenfalls seiner), und sicherlich stand da auch ein Tisch, an dem wir Tee tranken. 

Feinberg: Anastassija Iwanowna, im Jahre 1927 haben Sie Pasternak Rilke-Gedichte geschenkt (das Buch ist bei Pasternak erhalten) mit drei Inschriften. Der Widmung: „Für Boris Pasternak (seinen – Marinas – meinen – Rilke) – von Marinas Büchern (anstelle von Marina). Und trotzdem muß man aufhören, Rilke und Pasternak und Marina und sich selbst zu lieben.
A. Z. Moskau 1925“

Die zweite Inschrift steht nach der letzten Prosadichtung:
Kann man denn so über den Tod sprechen, Boris? Vielleicht ist das doch kein Sieg über ihn, sondern nur der äußerste Gipfel des Spiels mit ihm, das dem Menschen und dem Tod gegeben ist, von dem er erwischt wird (von dessen Spiel), das er aber nicht für ein Spiel hält? Denken Sie darüber nach, für sich, für Rilke und für Marina und mich.
A. Z.“

Ihre dritte Inschrift ist Marina Zwetajewas Gedicht: „Über einem schlafenden Jüngling die goldenen Sporen…“
Erinnern Sie sich, wie es zu den Inschriften gekommen ist?
Welche Gespräche in ihnen ihren Widerhall gefunden haben?

Zwetajewa: Nein, ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich nur, daß ich Boris das Buch von Bernhard Kellermann, Der Tunnel, geschickt habe. Ich hatte es auf deutsch gelesen und dabei schrecklich geweint, obwohl ich überhaupt keine Heulsuse bin. Ich rief Boris an: „Ich möchte Ihnen das Buch schicken.“ Ein paar Tage später rief er mich an und sagte: „Ich habe geheult wie ein Schloßhund.“

Feinberg: Anastassija Iwanowna, Pasternak hat Ihnen in der ersten Einzelausgabe vom Jahre 1929 das Poem „Die hohe Krankheit“ gewidmet. Warum gerade dieses Poem über die zeitgenössischen Ereignisse, das er bereits 1923 zu schreiben begonnen hatte?

Zwetajewa: Ich erinnere mich nicht, in welchem Jahr er es mir vorgelesen hat. In einem Tonfall, in dem der Atem der Epoche schwang. Mit seiner prachtvollen Stimme, in der die Leitungsdrähte jener Jahre summten, die Tragödie loderte, in der sich das Land wand. Mit dem „Strom der Hochspannung“, wie es Pawel Antokolski später nannte. Boris’ Verse fanden in meinem Innern Widerhall, und er widmete mir seine „Hohe Krankheit“. In der ersten Auflage. In den folgenden Auflagen fehlt diese Widmung. Warum? Vielleicht hat er es vergessen. Wer weiß? Was veranlaßte Marina, im „Roten Roß“ die glühende Widmung für Jewgeni Lann5 zu streichen und es – was noch merkwürdiger ist – Anna Achmatowa zu widmen? Ich weiß es nicht.

Feinberg: Sie haben sich mit Pasternak über zwanzig Jahre lang nicht gesehen, von 1937, als man sie verhaftete, bis 1959. Hat er Ihnen geschrieben?

Zwetajewa: Bis 1945 hat mir ins Lager nur die Schwester von Marinas Mann, Jelisaweta Jakowlewna Efron, geschrieben, und ich habe niemandem geschrieben. Boris hat mir erst nach der Kapitulation Deutschlands und nach Hiroschima geschrieben – und dann habe ich geantwortet. Ich schrieb ihm, ich fühlte, daß ich nie mehr schreiben würde. Darauf reagierte er unverzüglich – er antwortete mir in einem Trostbrief, was seiner Erfahrung nach der Schaffensprozeß sei (leider ist mir der Brief verlorengegangen, aber nicht so unwiderbringlich wie vieles, was ich schon in Moskau verloren habe; bei diesem Brief habe ich noch die Hoffnung, ihn wiederzubekommen, um ihn zu veröffentlichen). Er befand sich zufällig, wie eine große Anzahl meiner Briefe, bei meiner Nichte, bei Alja Efron,6 zur Aufbewahrung, und als sie ganz überraschend an einem Herzinfarkt im Krankenhaus von Tarussa starb, kam er, mit den übrigen Papieren und Briefen, gemäß ihrer testamentarischen Verfügung in ihr geschlossenes Archiv im ZGALI. Dieser Brief hat mir damals sehr geholfen. Pasternak schrieb mir, das Gefühl, das mich erfaßt hatte, empfinde er jedesmal, wenn er etwas abgeschlossen und zu schreiben aufgehört habe. Der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, das Gefühl, daß das Talent versiegt ist, sei ganz natürlich für einen Schriftsteller, aber dann (ich schreibe seine Gedanken mit meinen eigenen Worten, da ich seine Worte im Laufe der fünfundvierzig Jahre verloren habe, aber ihren Sinn noch genau weiß) sitzt du vor einem Blatt Papier, hältst die Feder in der Hand, im Zimmer ist es still, du bist allein mit dir selbst, und in dir geht der Schaffensprozeß weiter; ich würde wieder schreiben, daran habe er keinen Zweifel (und er sollte recht behalten – ich begann im ersten Frühling, 1957, zu schreiben, nachdem ich zu meinem Sohn nach Pawlodar übergesiedelt war und am Fenster saß, das in den Vorgarten der Hauswirtin hinausging, wo der Holunder blühte – nein, wo die runden Holundersträucher voller Beeren, voller Beerentrauben, standen. Ich begann mit dem ersten Band der Erinnerungen, von den ersten Kindheitserinnerungen, ganz von Anfang an, als hätte ich zum ersten Mal die Feder in die Hand genommen, mit jeder Zeile eindringend in die sogenannte Kunst der Feder, die einfach darin besteht, der eigenen Gabe, die einem geschenkt wurde, zu vertrauen, zu lauschen, wie ein Wort geboren wird und sich mit ähnlichen Wörtern zu einem – unbedingt diesem einen – Muster eines bestimmten Themas verflicht, dem man nicht ausweichen kann; es gibt nur einen einzigen Weg, selbst wenn er eine unerwartete Wendung, eine Abschweifung vom Thema macht. Die Feder folgt einem inneren Befehl, und der Befehl kommt aus jenen Sphären, wo die Fähigkeiten des Menschen von jemandes Wohlwollen begleitet werden, Hauptsache es handelt sich nicht um eitle Selbstverzücktheit (dann geht er zugrunde, mit jeder Zeile mehr).
Ich schrieb und schickte das Begonnene – in Kopien – an Pasternak, und er antwortete mir mit einem wunderbaren Brief. Während meiner Jahre in Sibirien hat Boris mir geschrieben, und wenn er allzu beschäftigt war, schrieb mir statt seiner Sina, seine Frau, die immer gut zu mir war. Boris unterstützte mich, er schickte mir Geld, und weder er noch ich wußten, wann und ob wir uns wiedersehen würden. In diesen Jahren erhielt ich, nach einem langen Schweigen, einen Brief, in dem er schrieb, daß er einen Herzinfarkt erlitten habe und dem Tode nahe war und wie wunderbar es gewesen sei, in den Pausen zwischen den Schmerzen und sogar durch die Schmerzen hindurch sich bewußt zu werden, daß man gelebt habe, lange gelebt habe und nun sterbe, und wie er dem Schöpfer für das Leben gedankt habe, was für ein beglückendes Gefühl das sei – die Bilanz des Lebens zu ziehen mit der Überzeugung, daß es sinnvoll war. Er schrieb das, als er sich auf dem Wege der Besserung befand, aber in der Ungewöhnlichkeit dieser Geständnisse klang noch das nicht erloschene Gefühl der Freude, der Pasternakschen Freude, in allem und durch alles sich selbst zu erkennen, ernst, verantwortungsbewußt – das schwere, ihm eigene Gefühl der Dankbarkeit für die Last, die er getragen, die alles erhellt… 

Feinberg: Wie verlief Ihre Begegnung nach der langen Trennung?

Zwetajewa: Es war im Juni 1959. Ich fuhr wegen meiner Rehabilitierung von Pawlodar nach Moskau, stieg bei meinen Freunden S.I. und J.M. Kagan ab und wollte mich mit Pasternak treffen. Für ihn und auch für mich war es bequemer, daß unsere Begegnung nicht in Peredelkino, sondern in Moskau stattfand, und das geschah am 29. Juni bei Olga Wsewolodowna Iwinskaja.7 Ich fuhr mit meiner Nichte Rita und Judith Kagan dorthin.
Boris und ich trafen uns ganz kurz in einer Art Korridor oder Vorzimmer, wir umarmten uns, und ich vernahm den bekannten tiefen Klang seiner Worte – seines ersten Eindrucks. „Die Zwetajewa-Stimme“, sagte er zur Begrüßung erfreut. Zwei Dinge verblüfften mich an Boris – seine Jugendlichkeit und seine schneeweißen Haare.
Während des Essens erzählte Boris, wie er in den letzten Jahren an einer für die Ärzte unerklärlichen Krankheit litt, und in der Art seines Erzählens – aus der „Vogelperspektive“, halb scherzend – lag ein großes Maß an Ironie, so über etwas Ernstes zu sprechen, und ich lauschte und betrachtete seinen grauen – schneeweißen! – Kopf anstelle des kastanienbraunen vor zweiundzwanzig Jahren und versuchte zu ergründen, was augenblicklich in ihm vorgehen mochte hinter diesem scherzhaften Geplauder, in das er uns alle einbezog und so die unbekannten Menschen geschickt und fröhlich miteinander vereinte – als könne man gar nicht anders über das Leben sprechen und wir alle waren damit natürlich einverstanden. Und während ich mir über ihn den Kopf zerbrach, begriff ich bereits mehr und mehr, wie schwer sein Weg war, sein Verhältnis zu den Menschen – all diese schmalen Pfade, die den Kontakt, die Begegnung erleichtern sollten. Ich erinnere mich nicht an den Augenblick des Abschieds von Boris, weder er noch ich empfanden, daß es ein wirklicher Abschied war. Aber er ging, entsinne ich mich, die Treppe hinunter. Und ich schaute ihm hinterher. Zehn Monate später war er tot.

Feinberg: Waren Sie auf der Beerdigung?

Zwetajewa: Nein, ich mußte nach Pawlodar zurückkehren, aber am 31. Mai war ich in Peredelkino, wohin sehr viele Menschen fuhren, die von Boris Pasternaks Tod gehört hatten. Als wir (die Kagans und ich) uns dem Haus näherten, kam uns Schura Pasternak entgegen – sein jüngerer Bruder, Alexander Leonidowitsch. Er erkannte mich, obgleich wir uns wohl seit 1937 nicht gesehen hatten.
Boris lag, entsinne ich mich, auf einem schmalen Diwan, in einem dunklen Anzug. Von den weißen Haaren ergoß sich Licht auf das ruhige, gelöste Gesicht mit den blicklosen Augen unter gesenkten Lidern, wie ich sie bis dahin nie gesehen hatte, und in ihnen war Friede. Man konnte sich nicht satt sehen an diesem Gesicht, man schaute ohne sich loszureißen unentwegt in dieses Antlitz, in dem – trotz der Todesruhe – so viel Ausdruck war, als ob es noch weiterlebte. Es zeigte keinerlei Leidensspuren. Es war, wie sich alle erinnern, vollkommen ruhig.

Feinberg: Anastassija Iwanowna, welches war Ihrer Meinung nach der Grundzug von Pasternaks Charakter?

Zwetajewa: Eine unglaubliche Unmittelbarkeit war sein grundlegender Charakterzug. Der Wunsch, sich rückhaltlos zum Ausdruck zu bringen, sein ureigenstes Empfinden, sowie das völlige Fehlen von Spiel und Pose. Er war keiner Prüfung erlegen. Er war so, wie der Mensch erdacht worden ist.

Anastassija Zwetajewa und Maël Feinberg, aus Erinnerungen an Boris Pasternak, herausgegeben von Franziska Thun, Aufbau Verlag, 1994
Übersetzung Margit Bräuer

 

 

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