– Zu Eugen Gomringers Konstellation „alles ruht“. –
EUGEN GOMRINGER
alles ruht
einzelnes bewegt sich
bewegt sich einzelnes
alles ruht
ruht alles
einzelnes bewegt sich
bewegt sich einzelnes
ruht alles
alles ruht
einzelnes bewegt sich
zugegeben, diese konstellation gehört zu meinen weniger bekannten, doch fast ständig mir präsenten gedichten. wie in anderen fällen, die ebenfalls gegenstand dieses bandes und der kommentare sind, ist sie etwas wie alltagslyrik. um nochmals die frage aufzugreifen: „woher der einfall?“ ist auf die begegnung mit der realen umgebung zu verweisen. es ist dabei vermutlich der wahrnehmung eines meiner bäume zu verdanken, die meine lieblingsgegenstände zu jeder stunde sind. vor allem ist einer der riesig zu nennenden ahornbäume zu erwähnen, in dessen krone mein blick verweilt, mehr oder weniger kurz oder lang je nach tageslauf und tagesaufgaben. der baum zeigt mir den stand des jahres an, er zeigt mir den fortschritt des reifens und verblühens und schliesslich den vollständigen abschied des laubes, bis ich auch die reine struktur der äste und zweige im winter wieder wunderschön finde und bestaune. meine frau und ich erleben im anblick seiner krone (und einiger anderer kronen) unser stilles dauervergnügen.
was mir immer wieder besonders auffällt, ist neben dem wandel die bewegung des blätterwaldes im ganzen und im einzelnen. die krone ist so umfangreich, dass sie sich völlig unaufgeregt verhält, selbst wenn deutliche windstösse sie ergreifen und dann in einzelnen teilen starke bewegung verursachen. es braucht schon wahrhaftig die stürme, um wieder einmal den ganzen bereich zu erschüttern. aber auch dann kann es vorkommen, dass kleine teilstücke der krone immobil bleiben als ginge das ganze sie gar nichts an. seltsamkeit im gebaren der winde und in der reaktion ihrer beute, des blätterwaldes. also kann sich einzelnes bewegen, was das grosse ganze noch ruhen lässt, oder es kann einmal das ganze ergriffen werden, und trotzdem bleibt einzelnes so gut wie unbewegt.
wie sich das ganze – alles – verhält und wie das einzelne, dies ist mein fragekomplex. meiner frau und mir stellt sich dieses fragespiel jedoch nicht nur angesichts unserer baumkrone, wir erleben es fast alltäglich, oft so plötzlich, dass wir es bemerken und ohne zu sprechen feststellen: es bewegen sich nur teile, teile einer menge irgendwelcher art. es ist wieder wie in der natur im spiel von wind und widerstand. den blick hinzulenken auf solche ereignisse, ohne sie auszuschmücken, sondern nur als kern einer sache wahrzunehmen, dies ist konkrete sprachwirklichkeit. meine frau und ich sind überzeugt, dass, wer einmal das gedicht gelesen und seinen sinn aufgenommen hat, ihm in der übertragung auf die lebenswirklichkeit sehr oft begegnet. mehr identität in der erkenntnis zwischen sprachgegenstand und realer erscheinung ist kaum möglich.
es kommt der technik der konkreten poesie zugute, dass sie ein statement gerne und leicht durch die probe der umstellung in frage stellt und damit das thema festigt. dialektik und wahrnehmung als ursprung des daseins und der dinge ergänzen sich.
Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018
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