Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Anthologika (Teil 14)

Anthologika

Teil 13 siehe hier …

Wenn andrerseits starke Gedichte inhaltlich oft nichtssagend sind, heisst dies also nur, dass sie auf die Mitteilung von Erkenntnissen, Überzeugungen, Glaubenssätzen, Meinungen, Gefühlen verzichten und statt dessen konkrete Gegebenheiten der aussersprachlichen Welt (Sachen, Sachverhalte) so vergegenwärtigen, wie sie sich der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung darbieten. Das trifft mehrheitlich (im Unterschied zu weltanschaulicher, religiöser, politischer Dichtung) auf beschreibende Lyrik zu, auf Naturgedichte, Dinggedichte, Bildgedichte.
​In solchen Gedichten tritt das lyrische Ich als Ideenträger und als Medium psychischer Befindlichkeiten hinter den Gegenstand der Darbietung zurück. Das darzubietende Objekt steht prominent im Vordergrund, es kann neutral besprochen, aber auch in der zweiten Person adressiert werden. Gegenstandsdichtung dieser Art ist «nichtssagend» insofern, als sie über ihren jeweiligen Gegenstand nichts zu sagen hat, sondern einfach ihn als solchen vergegenwärtigt.
​Als ein erstes Beispiel dafür nenne ich das anthologisch weithin verbuchte «Abendlied» (1779) von Matthias Claudius, unter Tausenden deutscher Gedichte sicherlich eins der stärksten:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
aaaaaAm Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
aaaaaDer weisse Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämmrung Hülle
aaaaaSo traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
aaaaaVerschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen? –
Er ist nur halb zu sehen
aaaaaUnd ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
aaaaaWeil unsre Augen sie nicht sehn.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00