Anthologika
Teil 25 siehe hier …
Das tradierte Konzept einer deutschsprachigen Anthologie, die nach Massgabe des Kanons eine exemplarische beziehungsweise repräsentative Auswahl «bester» Gedichte bereithalten soll, bedarf dringend der Erneuerung und Erweiterung.
Ich selbst habe vor einigen Jahren einen diesbezüglichen Gegenentwurf vorgelegt in Form einer russisch-deutschen Lyrikanthologie («Als Gruss zu lesen», 2012), die auf gut 500 Druckseiten umgekehrt zur Chronologie ein Konvolut von Einzelgedichten aus dem Zeitraum von 2000 bis 1800 präsentiert, beginnend also in der Gegenwart und zurückführend bis in die Romantik. Nicht die üblichen, nicht die erwarteten «besten» Texte sind in dem Band versammelt, sondern rund einhundert Gedichte von rund einhundert Autoren. Das heisst, jeder Autor, jede Autorin ist mit einem Text vertreten, der jeweils einen Personalstil und einen Epochenstil dokumentiert.
Meine Anthologie des einen Gedichts umfasst Texte sowohl namhafter (kanonisierter) wie auch vergessener oder verdrängter Dichter. Letztere, unter ihnen zahlreiche Frauen, waren zuvor weithin unbekannt, erstere sind nicht immer mit Meisterwerken vertreten – bisweilen stelle ich von ihnen eher marginale, kaum gelesene Texte vor.
Insgesamt ergibt sich aus diesem Dispositiv eine neuartige Lyrikauswahl, die sich von allen bisherigen Anthologien programmatisch unterscheidet und deren ungewöhnliche Eigenart vielerlei neue Zugänge zur russischen Dichtung der vergangenen 200 Jahre eröffnet, abgesehen davon, dass sie manch unerwartete Entdeckung bereithält.
Ich könnte mir durchaus ein vergleichbares Projekt mit deutschsprachigen Autoren und Texten vorstellen und bin mir auch sicher, dass sich dadurch alternative Einblicke in die deutsche Lyrikentwicklung ergeben würden.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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