Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare
Teil 26 siehe hier …
Der Linguist Ferdinand de Saussure hat in der anagrammatischen Textentfaltung das Grundprinzip aller Poesie erkennen wollen. Götter-, Herrscher- und andere Eigennamen, von ihm Themawörter oder Hypogramme genannt, hätten das Laut- und Letternmaterial vorgegeben, das in der Folge in immer wieder andrer Kombination für den Bau von Versen und Strophen genutzt worden sei. Die Namen also hätten demnach die Herstellung der Dichtwerke gelenkt, vergleichbar mit einem Keim, aus dem sich organisch (autopoetisch) unterschiedliche Formen und schliesslich ein strukturiertes Ganzes aufbauten.
Doch Grünbeins «Petrarca»-Text ist, zieht man zum Vergleich die europäische Dichtung insgesamt heran, ein rarer Ausnahmefall, und man tut sich schwer, der Saussure’schen These zu folgen, wonach es «nicht eine einzige Zeile» selbst einer kunstlosen Dichtung gibt, «welche nicht grundlegend über das Anagramm ablaufen würde». Eine Bestätigung dafür liefert allenfalls die Lautpoesie in ihrer Sonderentwicklung von der Antike über das Mittelalter und den Barock bis in die Neuzeit, nicht jedoch der Mainstream der internationalen Wortkunst, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Dass aber gerade Widmungsgedichte in vielen Fällen dazu tendieren, einen Eigennamen als Leitwort zu nutzen, ihn anagrammatisch zu Versen und Strophen zu erweitern, liegt nah, auch wenn daraus keine allgemeine Dichtungstheorie hergeleitet werden kann.
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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