Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 4)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 3 siehe hier

Ohne die geringste Aura und ohne irgendwelche typologischen Merkmale muss jener «Eduard G.» auskommen, den Heinrich Heine in einem persönlich adressierten Spottgedicht erbarmungslos der Lächerlichkeit preisgibt; man lese:

An Eduard G.

Du hast nun Titel, Ämter, Würden, Orden,
Hast Wappenschild mit panaschiertem Helm,
Du bist vielleicht auch Exzellenz geworden –
Für mich jedoch bist du ein armer Schelm.

Mir imponieret nicht der Seelenadel,
Den du dir anempfunden sehr geschickt,
Obgleich er glänzt wie eine Demantnadel,
Die des Philisters weißes Brusthemd schmückt.

O Gott! ich weiß, in deiner goldbetreßten
Hofuniform, gar kümmerlich, steckt nur
Ein nackter Mensch, behaftet mit Gebresten,
Ein seufzend Ding, die arme Kreatur.

Ich weiß, bedürftig, wie die andern alle,
Bist du der Atzung, kackst auch jedenfalls
Wie sie – deshalb mit dem Gemeinplatzschwalle
Von Hochgefühlen bleibe mir vom Hals!

Angesprochen ist hier der heute vergessene französische Lyriker und Diplomat Édouard Grenier, der sich in den 1840er Jahren als Übersetzer Heinrich Heines erfolgreich für dessen Rezeption in Frankreich eingesetzt hat. Die polemischen, äusserst indiskreten und verletzenden Verse geben keinerlei Aufschluss über ihren Anlass, sie scheinen von blinder Wut und ausgeprägtem Neid diktiert zu sein, doch ausser einer bösartigen Karikatur haben sie nichts zu bieten.
Der zur Hälfte anonymisierte Adressat «Eduard G.» bleibt als Philister und als kümmerlich uniformierter «nackter Mensch» ein groteskes Phantom ohne jeden Wiedererkennungs- oder Aha!-Effekt. Auch wenn Heine es explizit darauf angelegt hat, den verhassten Zeitgenossen (dem er doch manches zu verdanken hatte) sich «vom Hals» zu schaffen, bleibt der Grund dafür unausgesprochen und das Gedicht insgesamt erweist sich als reine Rhetorik, die trotz (oder wegen?) ihrer präzisen persönlichen Ausrichtung ins Leere geht. Rang und Wirksamkeit des Karikierens sind unmittelbar abhängig vom Rang und von der Wirksamkeit des Karikierten.
Hätte Heine das Gedicht «An Eduard G.» schlicht und allgemein einem namenlosen «Würdenträger» zugedacht, so wäre dieser als Typus wahrnehmbar und glaubwürdig geworden. Die Verwendung des realen Personennamens verunmöglicht eine solche allgemeingültige Wahrnehmung, wenn sie wie im vorliegenden Fall nicht durch zusätzliche Assoziationsangebote ausgeweitet wird.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte“

Memento

Themennot! – Den hohen Ton nehmen, Ente!

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

lies Sir Leiris leis

Würfeln Sie später noch einmal!

Lyrikkalender reloaded

Luchterhand Loseblatt Lyrik

Planeten-News

Tagesberichte zur Jetztzeit

Tagesberichte zur Jetztzeit

Haupts Werk

Gegengabe

Endnoten

0:00
0:00