– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Todes-Erfahrung“. –
RAINER MARIA RILKE
Todes-Erfahrung
Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Haß
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund
tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.
Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.
Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann
uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so daß wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.
1907
Rilkes vielleicht komplexestes Gedicht zum Thema „Tod“ ist in einer banalen Form angelegt: dem fünfstrophigen Vierzeiler, der sich allerdings durch Zeilen bzw. Strophensprünge elegant verbindet. Die fließende Syntax macht so die lyrische Form vergessen. Hinter der theatralischen Form verbirgt sich eine nüchterne Prosa, die der „Ernüchterung“ durch den Tod entspricht. Wie „in diese Bühne | ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt“ dringt, so löst sich auch die glatte Bühnenrhetorik auf und hintertreibt das gefällige Sprachspiel im laufenden „Stück“.
Rilkes barocker Ansatz ist bis in alle Einzelheiten durchgeführt: Die Welt als Bühne (theatrum mundi) beherbergt das alltägliche Rollenspiel, zu dessen dramatis personae der allegorische Tod mit seinem „Maskenmund | tragischer Klage“ gehört. Das Spiel findet in dieser Besetzung statt, „solang wir sorgen, ob wir auch gefielen“ und ihm, dem Tod, keine emotionale Aufmerksamkeit zollen. Erst mit dem „Hingehn“ eines Spieler, gleichzusetzen dem Abgang hinter die Kulissen, ändert sich das, weil nun in das Spiel „ein Streifen Wirklichkeit“ hereinbricht und so das Theater im Licht der Illusion erscheint. Seine Fortsetzung ist von da an mühselig und geschieht entgegen der Verfremdung. Nun wird auch der „Beifall“ sekundär und damit das Rollenspiel an sich fragwürdig. Mit dem neuen „Wissen | von jener Wirklichkeit“ ist es schwerer „das Leben [zu] spielen, aber nicht unmöglich.
So leicht hier die Poesie in einem Narrativ aufgeht – die balladeske Form erinnert daran –, so sehr dieses auch dem barocken vanitas-Klischee folgt, so überraschend mag die Pointierung der letzten Strophe erscheinen. Weiterhin nach dem Motto verfahren „Wir spielen weiter“ ist das eine; das andere aber ist das „Hingerissen“-Sein, der vitalistische Aufschwung, der das nun ernstere „Spiel“ umso mehr bereichert, als es „nicht an Beifall denkend“ auf den theatralischen Applaus verzichtet und tatsächlich eine ontologische Mittelstellung zwischen Illusion und Wirklichkeit einnimmt.
Dieser Wechsel entspricht einer neuen, jedenfalls anderen Bühnenregie, die das memento mori nutzt, um das „entrückte Dasein“ für ein neues, wiederum „hingerissenes“ nutzbar zu machen. Es geht also, wie so oft bei Rilke, um das mystische „Mensch werde wesentlich!“, aber nicht zum Transzendieren wird aufgerufen, sondern das „Hiersein ist herrlich“ der siebten Elegie vorweggenommen und damit das „Hiersein“ dem „entrückten Dasein“ zur Seite gestellt.
Rilke hat seinen Grundgedanken, dass Leben und Tod im Sinne eines „Seins zum Tode“ (Heidegger) zusammenspielen nicht nur in seinem Werk vielfach thematisiert. Von Capri aus, wo dieses Gedicht im Januar 1907 entstand, schrieb er zeitgleich an die Marburger Gräfin zu Solms-Laubach:
Die Todeserfahrungen meiner letztvergangenen Jahre sind so zahlreich, daß sie mich verwirren müßten, wenn ich nicht erlernte, daß sie, in unser Leben fallend, ihm nicht entgegen sind, vielleicht zu Lebenserfahrungen werden, zu den gewaltigsten, die ich kenne […].1
Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022
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