György Dalos: Der Gast aus der Zukunft

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von György Dalos: Der Gast aus der Zukunft

Dalos-Der Gast aus der Zukunft

DIE BEGEGNUNG

Isaiah Berlin, der fünfunddreißigjährige Erste Sekretär der Britischen Botschaft in Moskau, war kein Berufsdiplomat. Vor dem Krieg war er Stipendiat und nach Beendigung seines Studiums Dozent an der Universität Oxford. In den dreißiger Jahren hatte er sich bereits als Wissenschaftler mit einer Marx-Monographie einen Namen gemacht. Während des Krieges war er zunächst britischer Nachrichtenoffizier in New York. Später fiel ihm die Aufgabe zu, für die Britische Botschaft in Washington Berichte über die öffentliche Meinung in den USA zu schreiben.
Waren zunächst seine kritischen und analytischen Fähigkeiten für das Vereinigte Königreich von Bedeutung, so legte man unmittelbar nach dem Krieg auf sein ausgezeichnetes russisches Sprachvermögen und seine Sachkenntnis bezüglich der Verhältnisse in der Sowjetunion großen Wert. Sir Isaiah Berlin, der in den fünfziger Jahren zum Professor für Sozialphilosophie und politische Theorie an der Universität Oxford avancieren sollte, hatte als Isai Mendelewitsch Berlin, Sohn eines in Riga lebenden russisch-jüdischen Holzhändlers, im Jahre 1909 das Licht der Welt erblickt. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Sankt Petersburg. Als die Familie nach der Oktoberrevolution in das unabhängige Lettland und später nach England auswanderte, nahm der junge Berlin starke und prägende Erinnerungen an seine frühere Heimat mit. Die gründliche Lektüre russischer Klassiker trug dazu bei, daß er seine Muttersprache niemals verlernte und sie völlig akzentfrei gebrauchen konnte. Als ich ihn im August 1995 in London kennenlernte, entdeckte ich in seinem Russisch sogar Elemente des Moskauer Jargons der neunziger Jahre.
Die Aussicht auf einen dienstlichen Auftrag in seinem Geburtsland erfüllte Berlin mit einer angenehmen Erregung. „Ich sage, wie die Drei Schwestern (in Tschechows gleichnamigem Stück, G. D.): ,Nach Moskau, nach Moskau‘,“ schrieb er aus Washington am 12. Mai 1945 an einen befreundeten britischen Diplomaten.

Gott weiß, für wie lange Zeit. Ich habe wahrscheinlich übertriebene Vorstellungen davon, wie spannend das alles sein wird. Ich werde mit allen möglichen Vorräten ankommen, was nur immer ich im Flugzeug mitnehmen darf, um auch dort ein zivilisiertes Leben zu führen. Ich werde Insektenbekämpfungsmittel, Schuhwichse und gottweißwas bei mir haben.

Das Diplomatenleben in der sowjetischen Hauptstadt erwies sich nicht nur als „zivilisiert“, sondern war ausgesprochen vergnüglich. Kurz nach seinem Eintreffen konstatierte Berlin in mehreren Briefen seine außerordentliche Zufriedenheit. „Das Essen ist köstlich, die Theater sind voll“, berichtete er am 19. September 1945. In diesen Tagen sah er Tschajkowskijs Onegin im Bolschoj-Theater, und wenig später kam es zu einer näheren Bekanntschaft mit russischer Champignonsuppe und Piroggen. Einern Brief vom 11. Oktober zufolge verdichteten sich diese gastronomischen und kulturellen Erlebnisse beinahe zu einem way of life:

Praktisch jeden Abend gehe ich ins Theater und esse um elf Uhr heißen Borschtsch, ich komme erst um halb zwölf ins Bett. (…) Ich bin von allem fasziniert. Von Gesprächen auf der Straße und besonders in den Theatern. Ich habe vergessen, daß es so viele Gefühle und Eindrücke geben kann. 

Schließlich, das erklärt in weiten Teilen die große Begeisterung, handelte es sich hier um eine Wiederentdeckung. Bestimmte kulinarische Genüsse hatten sicherlich Kindheitserinnerungen geweckt, und auf den Moskauer Bühnen erhielten die Figuren der früher gelesenen Klassiker Stimme, Farbe und Gestalt. Die auf der Straße erlauschten Gespräche oder der Gesang einer vorbeimarschierenden Einheit der Roten Armee, ein Monolog des Zimmermädchens in der Diplomatenwohnung erinnerten ihn daran, daß er zwar dieser Welt nicht angehörte, aber dennoch mit ihr durch einen unzerreißbaren Faden, die Sprache: viel stärker verbunden war, als er geahnt hatte.
Allerdings wollte auch der Büchernarr in ihm zum Zuge kommen, und unter anderem deshalb bereitete Berlin für den September eine Reise nach Leningrad vor.

Ich hatte gehört, daß die Bücher in den Leningrader Buchhandlungen (…) viel billiger seien als in Moskau, wegen der furchtbar hohen Sterblichkeit während der Blockade sowie wegen der Möglichkeit, Bücher gegen Lebensmittel einzutauschen. Besonders die Bücher der alten (im Sinne von vorrevolutionären, G. D.) Intelligenz häuften sich wahllos in den staatlichen Buchhandlungen. (…) Ich wollte in jedem Fall nach Leningrad reisen, denn ich brannte vor Ungeduld, die Stadt wiederzusehen, in der ich vier Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Die Verlockung durch die Bücher verstärkte noch diesen Wunsch.

Leningrad versprach ähnlich unterhaltsam zu werden wie Moskau. Theaterkarten wurden vorbestellt für Tschaikowskijs Ballett Dornröschen, für Glinkas kurz zuvor rehabilieierte nationalistische Oper Iwan Ssussanin (ursprünglicher Titel: „Ein Leben für den Zaren“) und für das Ballett Gayanet des Armeniers Aram Chatschaturjan – allesamt Pflichtübungen für Gäste aus dem Ausland. Untergebracht wurde Berlin im großbürgerlichen Hotel Astoria, dessen russische Küche ihn gewiß nicht enttäuschte. Er reiste zusammen mit Frau Brenda Tripp, die, von Beruf Chemikerin, ebenfalls Diplomatenstatus hatte und als Vertreterin des British Council – des internationalen britischen Kulturinstituts – in der Sowjetunion arbeitete. 

Persönliche Kontakte mit Literaten waren in Berlins Tätigkeit nicht vorgesehen. Vielmehr hatte man ihn auf eine Reihe grauer Apparatschiks vorbereitet. Neben seinem offiziellen Auftrag mußte er jedoch einer persönlichen Bitte nachkommen. Die beiden in England lebenden Schwestern des russischen Dichters Boris Pasternak hatten ihn vor seiner Abreise gebeten, ein Paar Stiefel für ihren Bruder mit nach Moskau zu nehmen. Diese Mission sollte sich für Berlin als äußerst ergiebig erweisen: Sie schenkte ihm eine tiefe und dauerhafte Freundschaft mit dem Autor des Doktor Schiwago. Eher nebenher lernte er auf diplomatischen Empfängen auch andere Intellektuelle kennen, so den Filmregisseur Sergej Ejsenstejn oder Samuil Marschak, Autor von Kindergedichten und Übersetzer aus dem Englischen.
Auch der Oxforder Professor Maurice Bowra, der englische Herausgeber von Anna Achmatowas Gedichten, war an Berlins Rußlandreise interessiert. In ihrem Briefwechsel ging es häufig um Schlüsselfiguren der russischen Dichtung. „Ich bin fast sicher, daß Mandelstam tot ist“, schrieb Bowra im Sommer 1945.

Er ist bestimmt verhungert, weil er wegen seiner illoyalen Gedichte keine Lebensmittelkarten erhalten hat. Was ist mit Achmatowa? Man sagt, sie lebt in Leningrad.

Daraufhin teilte Berlin das wenige, was er wußte, dem Professor mit:

Achmatowa lebt in Leningrad. Sie ist schwer erreichbar. Man sagt, sie habe schwierige Zeiten mitgemacht, woran nicht nur die faschistischen Bestien schuld sind.

Dieser Informationsstand zweier profunder Kenner der russischen Literatur markiert die dichteste Kommunikationssperre der modernen Geschichte, den sowjetischen Eisernen Vorhang. Ossip Mandelstam war zu dieser Zeit bereits seit sieben Jahren tot. 

In der Autorenbuchhandlung am Newskij-Prospekt, so berichtete Isaiah Berlin in seinen Anfang der achtziger Jahre verfaßten Personal Impressions, wohin sein und Brenda Tripps erster Weg geführt hatte, kam er mit einem Mann ins Gespräch, der in den Büchern der antiquarischen Abteilung wühlte. Es handelte sich um Wladimir Orlow, den Herausgeber eines Gedichtbandes von Anna Achmatowa, der gerade in der Entstehung begriffen war. Mitten im Gespräch, das sich um die furchtbaren Jahre der Blockade drehte, erkundigte sich Berlin nach dem Schicksal der Schriftsteller in Leningrad. „Meinen Sie Soschtschenko und Achmatowa?“ fragte Orlow zurück, als seien keine anderen unter den zweihundert Namen des lokalen Schriftstellerverbands erwähnenswert. „Lebt die Achmatowa noch?“ fragte Berlin. „Anna Andrejewna Achmatowa? Aber natürlich!“ entgegnete Orlow. „Sie wohnt nicht weit von hier, im Fontannij Dom. Möchten Sie sich mit ihr treffen?“ (…) „Ich murmelte sinngemäß“, erinnerte sich Berlin, „daß ich mich selbstverständlich gerne mit ihr treffen würde.“
Orlow rief bei Achmatowa an und arrangierte eine Begegnung zwischen dem britischen Diplomaten und der russischen Dichterin für drei Uhr am Nachmittag desselben Tages. Brenda Tripp konnte nicht mitkommen, da sie bereits anderweitig verplant war. So gingen nur Berlin und Orlow von der Autorenbuchhandlung aus los. „Wir bogen nach links ab“, so Berlins Wegbeschreibung, „überquerten die Anitschkow-Brücke, dann wieder nach links und am Ufer der Fontanka entlang.“ Dann standen sie vor dem Haus Fontanka Nr. 34, ein ehemaliger Palast des Grafen Scheremtjew, auch Fontannij Dom genannt.

Über eine steile, dunkle Treppe stiegen wir zu einem der oberen Stockwerke hinauf und wurden in Anna Achmatowas Zimmer eingelassen. Es war, als hätte man mich zu einer Begegnung mit Christina Rossetti eingeladen.

Christina Rossetti (1830–1894) war eine britische Autorin der viktorianischen Ära, berühmt für ihre mystischen Allegorien. Später wußte man nur noch, daß sie die Schwester des noch berühmteren Dichters Dante Gabriel Rossetti (1828–1882) war. Zum Zeitpunkt von Isaiah Berlins Erscheinen in Leningrad genossen die beiden Rossettis seit Jahrzehnten ihre wohlverdiente, wenn auch bibliographische Unsterblichkeit. Die Bewohnerin des Hauses Fontanka Nr. 34 hingegen, Anna Andrejewna Achmatowa, war ein lebendiger Mensch und auf eine Art berühmt, wie es jemand von ähnlichem literarischem Rang und persönlichem Schicksal nur unter den Voraussetzungen einer osteuropäischen Diktatur sein konnte.
Die 1889 geborene Achmatowa gehörte bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu den anerkanntesten Literaten ihres Landes. Zusammen mit ihrem Ehemann, dem Dichter Nikolaj Gumiljow, gründete sie die poetische Schule der Akmeisten (aus dem griechischen Wort „akme“ = Säule), deren Ehrgeiz darin bestand, den als nebulös und unernst erachteten Symbolismus durch bildliche Präzision und begriffliche Klarheit zu überwinden. An der Spitze des heftig abgelehnten Symbolismus stand übrigens der von Achmatowa hoch geschätzte und innig geliebte Aleksandr Blok.
Achmatowa war Zeugin und Teilnehmerin der kurzen Vorkriegsblüte russischer Poesie, die im Nachhinein die „Silberne Zeit“ genannt wurde. Vor allem führte die Offizierstochter nach ihrer Jugend in Zarskoje Selo ein aufregendes Künstlerleben, mal in Sankt Petersburg, mal in Moskau, und bereiste an Gumiljows Seite kurz vor dem Weltkrieg einige westeuropäische Länder. In Paris hatte sie naive und rührende Begegnungen mit dem italienischen Maler Amedeo Modigliani.
Auf die „Silberne Zeit“ folgte der Erste Weltkrieg, dann kamen der Zusammenbruch der Monarchie und die Februarrevolution und schließlich im November 1917 die Machtübernahme der „Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte“, zu russisch der „Sowjets“, kurzum die Diktatur der Kommunistischen Partei.
Anna Achmatowa hatte keinen Nerv für die große Politik. In all diesen Jahren schrieb und veröffentlichte sie Gedichte, gebar ihren Sohn Lew, lebte mit Gumiljow eine offene Ehe und ließ sich 1918 scheiden, ohne die freundschaftliche Bindung zu ihm aufzugeben. Danach lebte sie einige Jahre mit dem Assyrologen Waldemar Schileiko zusammen. Vor allem versuchte sie, unter den elenden Bedingungen der Nachkriegsjahre über die Runden zu kommen. Unter anderem arbeitete sie eine Zeitlang als Bibliothekarin in der Petersburger Hochschule für Landwirtschaft.
Die dramatische Wende in Leben und Laufbahn von Anna Achmatowa geschah im August 1921. In diesem Monat wurde Nikolaj Gumiljow von der Tscheka verhaftet und nach einem kurzen Geheimprozeß mitsamt sechzig weiteren Angeklagten erschossen. Aufgrund der inzwischen veröffentlichten Protokolle ist seine aktive Beteiligung an der sogenannten „Taganzew-Verschwörung“ völlig unbewiesen – wenn ein solches Komplott überhaupt existiert hat. Tatsache ist nur, daß Gumiljow dem als systemfeindlich bekannten Petersburger Professor Wladimir Taganzew einen nicht besonders hohen Geldbetrag zur Unterstützung oppositionellen Schrifttums gegeben und daß er die Bolschewistische Partei offen kritisiert hatte. Letzteres war in russischen Intellektuellenkreisen keine Seltenheit und blieb damals noch weitgehend folgenlos.
Zwischen Verhaftung und Hinrichtung Gumiljows starb am 7. August 1921 der Dichter Aleksandr Blok. Hunger, Krankheiten, Verzweiflung über Rußland und schließlich die Ablehnung seines Antrags zu einer Finnlandreise zwecks medizinischer Behandlung bewirkten sein frühzeitiges Ableben. Für Achmatowa war der Verlust der beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben ein Schock, von dem sie sich nie mehr ganz erholen konnte. In Verbindung damit kam es zu einem drastischen Rückgang ihrer poetischen Produktivität – von 1922 bis 1935 schrieb sie insgesamt weniger Gedichte als allein im Jahr 1921. Allerdings ist die Theorie von ihrem „Schweigen“ in den zwanziger und dreißiger Jahren, die Achmatowas zahlreiche Gegner gegen sie benutzten, aus der Luft gegriffen.
Obwohl Achmatowa zur Zeit der Erschießung Gumiljows von diesem seit Jahren getrennt lebte und ihr selbst auch politisch nichts vorgehalten wurde, warf doch der Tote einen langen Schatten. Selbst als sie bereits zwölf Jahre mit ihrem nächsten Ehemann, dem Kunsthistoriker Nikolaj Punin, im Fontannij Dom lebte, blieb sie für die Behörden der Sowjetunion und nicht zuletzt für die Urheber des Justizmordes Gumiljows Witwe. Dieser Eindruck wurde durch die Tatsache verstärkt, daß Achmatowa den dichterischen Nachlaß ihres ehemaligen Mannes pflegte und sich von dem Dichter Gumiljow nicht lossagen wollte.
Ohne nähere Konkretisierung wurde sie als „literaturpolitisches Problem“ an und für sich behandelt. Ob es tatsächlich 1925 einen formellen geheimen ZK-Beschluß gegeben hat, Achmatowa jegliche Publikation zu verbieten, wie manche Zeitzeugen behaupteten und sie selbst glaubte, ist nur schwer nachprüfbar. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, daß ihr nächster Gedichtband Aus sechs Büchern erst im Sommer 1940 erschien und bald danach aus dem Verkehr gezogen wurde. Auch nahm man die Dichterin erst 1940 in den Schriftstellerverband auf.
Als Künstlerin blieb Anna Achmatowa isoliert, und ihre kollegialen Beziehungen beschränkten sich auf einige Literaten, die ebenso wie sie selbst als „peripher“ galten oder sogar als „Parias“ betrachtet wurden. Hier sind vor allem Boris Pasternak und Ossip Mandelstam zu nennen. Gleichzeitig war Achmatowa auch ohne Publikationsmöglichkeiten recht bekannt, und allem Anschein nach gab es nie die Absicht, sie zu verhaften oder ihr einen politischen Prozeß zu machen. Man tolerierte sogar ihre Solidarität mit Mandelstam, der von 1933 an immer wieder in den Strudel des Großen Terrors geriet, bis er schließlich darin umkam.
Tatsächlich schicksalhaft erwies sich die Nähe zu Gumiljow für dessen Sohn Lew Nikolajewitsch. 1935 wurde er gemeinsam mit Nikolaj Punin nach einer Hausdurchsuchung im Fontannij Dom festgenommen und erst nach Achmatowas dramatischem Appell an Stalin, der durch den Einfluß guter Freunde in die Hände des Diktators gelangte, freigelassen. Schon 1939 jedoch wurde Lew wieder verhaftet, und nun half keine Intervention mehr. Erst im letzten Kriegsjahr konnte er durch den Frontdienst seine staatsbürgerlichen Rechte zurückgewinnen.
Etwa zur gleichen Zeit war auch Achmatowas ziviler Status etwas geordneter. Aufgrund ihres Engagements in den ersten Monaten der Blockade, als sie die Bevölkerung Leningrads im Radio zum Widerstand gegen die Deutschen aufrief, erhielt sie die Medaille Für die Verteidigung Leningrads. Nachdem sie aus der bedrohten Festung zusammen mit anderen Schriftstellern in einem Sonderflugzeug nach Moskau und von dort nach Taschkent evakuiert worden war, durfte sie in der usbekischen Hauptstadt einen schmalen Gedichtband herausgeben. Unmittelbar vor ihrer Rückkehr nach Leningrad sah sie eine ruhige und sogar hoffnungsvolle Perspektive vor sich. Achmatowa war damals fünfundfünfzig Jahre alt.
Es sah so aus, als sollte der Dichterin etwas gelingen, worauf sie schon längst nicht mehr gehofft hatte: eine glückliche Liebesbeziehung. Bereits in den späten dreißiger Jahren hatte sie den verwitweten Leningrader Arzt Wladimir Garschin kennengelernt, der ihr zur Zeit von Lews Verhaftung eine große Hilfe war. Vor der Evakuierung der Dichterin nach Zentralasien – der Arzt mußte in der blockierten Stadt bleiben – versprach er, sie zu heiraten und mit ihr zusammenzuziehen. Sie korrespondierten eifrig, und die Entfernung zwischen ihnen schien auf romantische Weise die Bindung noch zu verstärken.
Diese Beziehung war für Achmatowa keine leidenschaftliche Liebe. Zur selben Zeit, als sie den Arzt bereits als Ehemann betrachtete, verliebte sie sich in den Polen Jozef Capski, einen Literaten und Nachrichtenoffizier, der sich als Vertreter der „Armija Krajowa“ des Generals Anders in der usbekischen Hauptstadt aufhielt. Capski war der erste Ausländer, mit dem die Dichterin seit 1917 Gelegenheit hatte zu reden. Ihm widmete sie ein leidenschaftliches Gedicht mit der Anfangszeile:

In der Nacht wurden wir voneinander verrückt…

Mit Garschin allerdings wollte sie nicht verrückt, sondern lieber alt werden. Das Zusammenleben mit dem Arzt erschien ihr als ruhiger Hafen, die künftige gemeinsame Wohnung als erstes richtiges Zuhause seit ewigen Zeiten.
Deshalb erlebten alle Freunde, die Achmatowa im April 1944 in Moskau auf der Durchreise besuchte, die Dichterin als ausgesprochen glücklich. Mit Jelena Osmerkina sprach sie am Vorabend ihrer Weiterreise nach Leningrad über ihre früheren mißlungenen Beziehungen. Unter anderem klagte sie über ihre Ehe mit Punin.

Sofort danach, übergangslos teilte sie mir mit: „Wissen Sie, morgen heirate ich den Professor der Medizin Wladimir Georgijewitsch Garschin“.

Auch Nina Ardowa wurde Zeugin dieser Euphorie:

In Moskau erzählte sie überall herum, daß sie heiraten würde. Sie wollte sogar den Namen ,Garschina‘ annehmen.

Achmatowa fuhr zusammen mit Wladimir Admoni und Tamara Silman, einem befreundeten Ehepaar, nach Leningrad: „Im Zug redeten wir bis in die tiefe Nacht hinein“, berichtete Frau Silman über die nächtliche Reise.

Wir hatten uns mehr als ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Das erste, was Achmatowa sagte, war: „Ich fahre zu meinem Mann!“.

Dies war ohnehin vorerst die einzige Möglichkeit für sie, denn das ehemalige Scheremetjew-Palais, das Fontannij Dom, lag in Trümmern.
Und dann geschah das Unglaubliche:

Wir wußten, daß Garschin Achmatowa abholen würde. Und tatsächlich, als wir aus dem Abteil stiegen, stand auf dem Bahnsteig ein Mann mit dem typischen Äußeren eines Professors. (…) Er trat zu Achmatowa, küßte ihr die Hand und sagte: „Anja, wir müssen miteinander sprechen“. Sie gingen während des Gesprächs auf dem Bahnsteig hin und her. Wir haben verstanden, daß wir vorerst lieber nicht fortgehen sollten. Sie liefen nicht lange, so fünf oder acht Minuten. Dann blieben sie stehen. Garschin küßte noch einmal Achmatowas Hand, wandte sich um und ging. Wir spürten, daß er sich durch diesen Weggang vollständig aus dem Leben Achmatowas entfernte. Achmatowa trat zu uns. Sie sagte mit vollkommen ruhiger, gleichmäßiger Stimme: „Alles hat sich geändert. Ich fahre zu den Rybakows“.

Die Rybakows waren eine mit Garschin und Achmatowa seit langem befreundete Familie. Olga Rybakowa erinnerte sich, daß Garschin sie kurz vor Achmatowas Ankunft aufgesucht und verzweifelt geäußert hatte, er sehe im Traum seine verstorbene Mutter, und sie verbiete ihm die Ehe mit Achmatowa. Dieser Traum war sicherlich keine Erfindung, aber es gehörte noch etwas Banaleres dazu: Während der tragischen Monate der Blockade hatte sich Garschin in eine etwa gleichaltrige Ärztin verliebt. Er traure sich nicht, Achmatowa dies brieflich mitzuteilen, sondern wartete ihre Ankunft in Leningrad ab, um mit ihr persönlich zu sprechen. Nach der Trennung heiratete er seine Kollegin.
Anna Achmatowa sprach mit ihren Freundinnen und Freunden normalerweise recht ungezwungen über Ehen, Liebesgeschichten und Affären. Mit Garschin begann ihr großes Schweigen. Selbst der besonders vertrauten Nina Ardowa schickte sie nur zwei knappe Telegramme:

Teilen Sie mir mit, wie es Ihnen gesundheitlich geht. Ich küsse Sie zärtlich, lebe allein, danke für alles. Achmatowa.

Drei Wochen später:

Garschin ist seelisch schwer krank, hat sich von mir getrennt, dies teile ich nur Ihnen mit. Anna.

Einige Monate später zog Achmatowa wieder in das Fontannij Dom zur Familie Punin. Die Wohnung hatte vier Zimmer und insgesamt etwa hundert Quadratmeter, Küche und Toilette wurden gemeinsam benutzt. Außer Anna Achmatowa, der zweiten Ehefrau Punins, wohnten dort zu verschiedenen Zeiten und manchmal gleichzeitig Nikolaj Punin, dessen erste Ehefrau, die ebenfalls Anna hieß, und die während des Krieges verwitwete Tochter Irina mitsamt ihrer kleinen Tochter Anja Kaminskaja. Des weiteren gehörte zu den Bewohnern noch die dritte, also derzeit aktuelle Punin-Ehefrau Margarita. Vor dem Krieg lebte auch noch der Hausmeister in einem Zimmer, später zog der zweite Ehemann von Irina Punina mit in die Wohnung ein. Bis zu seiner Verhaftung 1939 hatte Lew Gumiljow am Ende des langen Korridors gewohnt. Nach dem Krieg erhielt der Sieger ein eigenes Zimmer und wohnte darin bis zur zweiten Verhaftung 1949. Nicht so sehr die meßbare Enge, sondern das beinahe inzestuöse Zusammenleben von völlig verschiedenen Familienstrukturen mußte diese Idylle, die man in Rußland euphemistisch „kommunale Wohnung“ nannte, zu einer wahren Hölle machen. Vor allem war es unmöglich, in dieser Behausung je wirklich allein zu sein – der einzige Luxus, auf den kein Schreibender verzichten kann.
Die Katastrophe mit Garschin versuchte Achmatowa vor allem durch Arbeit zu überwinden. Das 1936 angefangene „Requiem“ und das 1940 begonnene „Poem ohne Held“ erwiesen sich als Dauerprojekte. Diese Werke, die grundsätzlich nie ganz zu beenden waren, vertraute die Dichterin, um Hausdurchsuchungen und Konfiskationen vorzubeugen, dem Gedächtnis einiger auserwählter Freunde und Freundinnen an. Was den lyrischen Zyklus „Requiem“ betraf, dieses Denkmal für die Opfer von 1937 und 1938, so sollen es elf Personen gewesen sein, die Achmatowa ab und zu besuchten und in ihrem Kopf Korrekturen und Ergänzungen des Textes aus dem Haus schmuggelten. Erst in den sechziger Jahren entstanden auch maschinengeschriebene Exemplare dieses Werkes, die dann den Weg in die Druckereien fanden – zunächst allerdings in westeuropäische.
Das „Poem ohne Held“ war jedoch 1945 noch in Arbeit. Achmatowa feilte an jeder Zeile, wechselte ganze Strophen aus, ging mit dem enormen Erinnerungsstoff großzügig um. Das vorrevolutionäre Petersburg, das sie verewigen wollte, brachte sie endgültig in jene Zeit zurück, aus welcher sie im verhängnisvollen Jahr 1921 herausgeschleudert worden war. Und obwohl die im Poem verewigte berühmte Maskerade ihrer Petersburger Zeitgenossen aus dem Jahre 1913 eher einem Totentanz als einem Karneval ähnelte, empfand sie großes Glück bei der Rekonstruktion der versunkenen Welt ihrer Jugend.
Es gibt eine Beschreibung von Achmatowa aus dieser Zeit, die von einer Informantin des KGB stammt. Ich zitiere sie, weil sie mir als Darstellung authentisch erscheint, zumindest gewissenhafter und gründlicher als viele schäbige Denunziationen späterer Jahrzehnte. Offensichtlich kam es im realen Sozialismus nicht nur bei Gastronomie oder Flickschusterei zu einem Niveauverlust, sondern auch die Spitzelei als Handwerk ließ mit der Zeit an Qualität zu wünschen übrig. 

Bekannte hat die Achmatowa viele, enge Freunde nicht. Sie ist von Natur aus gut und verschwenderisch, wenn sie Geld hat, im Inneren aber ist sie kalt und hochmütig. Sie hat einen kindlichen Egoismus. Was das alltägliche Leben betrifft, so ist sie meistens hilflos; einen Strumpf zu stopfen, stellt eine unlösbare Aufgabe dar, und Kartoffeln zu kochen – das ist schon eine Leistung für sie. Ungeachtet ihres großen Ruhmes ist sie sehr schüchtern. (…) Ihr politisches Gesicht versucht sie sauberzuhalten, sie ist stolz darauf, daß sich Stalin schon für sie interessiert hat. Sie ist durch und durch russisch. Ihre nationale Einstellung hat sie nie verleugnet. Mit ihren Gedichten handelt sie nicht bei den Redaktionen. Das Haus der Literaten haßt sie wie einen Haufen monströser Intriganten. Sie ist recht trinkfest – sowohl Wein als auch Wodka.

Einern anderen Bericht zufolge hielt Achmatowa den Schriftstellerverband für einen „idiotischen Kindergarten, in dem alle bestraft und in die Ecke gestellt worden sind. (…) Man druckt nur Müll wie Simonow, aber weder Woloschin noch Chodassewitsch oder Mandelstam.“
Diese Achmatowa begegnete im November 1945 Isaiah Berlin. „Es war sehr spärlich möbliert“, erinnerte sich Sir Isaiah Berlin an Achmatowas Zimmer im Fontannij Dom, „fast alles, folgerte ich, war während der Belagerung abhanden gekommen, geplündert oder verkauft worden. Da standen ein kleiner Tisch, drei oder vier Stühle, eine hölzerne Truhe, ein Sofa, und über einem nicht angezündeten Kamin hing eine Zeichnung von Modigliani.“ In seinem Bericht an das Ministerium für Foreign Affairs verallgemeinerte er sogar die ersten optischen Eindrücke:

Die schmale Treppe führt in einen hellen Raum. (…) Die Schriftsteller, die hier wohnen, leben ohne Komfort. Die Probleme mit Lebensmitteln und Heizmaterial werden sehr bald sichtbar.

In seinen Memoiren Menschen, Jahre, Leben (1960) beschrieb Ilja Ehrenburg das Zimmer im Fontannij Dom mit ähnlichen Worten:

Das Zimmer, in dem Anna Andrejewna Achmatowa wohnt, in einem alten Leningrader Haus, ist klein, streng und kahl. Nur an einer Wand hängt ein Portrait der jungen Achmatowa – eine Zeichnung von Modigliani. Anna Andrejewna erzählte mir, wie sie in Paris den jungen, außergewöhnlich bescheidenen italienischen Mann kennenlernte, der sie um die Erlaubnis bat, sie zeichnen zu dürfen. Das war im Jahre 1911. Achmatowa war noch keine Achmatowa, aber Modigliani war auch kein Modigliani.

Als Lidija Tschukowskaja Achmatowas Meinung über Ehrenburgs Beschreibung ihres Ambientes wissen wollte, antwortete diese beinahe empört:

Kein Wort ist wahr (…) Meine Wände sind nicht kahl, und ich wußte ausgezeichnet, wer Modigliani war. Alles gelogen.

Vermutlich wurde dieser Unmut durch Ehrenburgs allzu abgerundete journalistische Sichtweise und vor allem durch seinen Anspruch, ihre Vergangenheit zu interpretieren, ausgelöst. Denn den Wahrheitsgehalt der Schilderung, Modigliani betreffend, hat sie selbst in ihren Erinnerungen bestätigt, und was das Zimmer – und zwar das jeweilige Zimmer –, ja, was die ganze Umgebung Achmatowas betrifft, so ist Ehrenburgs Beschreibung sogar noch außerordentlich taktvoll.
Als Tschukowskaja 1959 nach langen Jahren zum ersten Mal die Dichterin in Leningrad in ihrer Wohnung an der Krasnaja Konniza besuchte, waren ihre Eindrücke trotz der schwärmerischen Worte niederschmetternd:

Im Treppenhaus Finsternis und Schmutz. Achmatowa-Treppenhaus! Achmatowa überall, daß einem die Tränen kamen! (…) Ich befand mich plötzlich zwischen Gegenständen, die ich längst vergessen hatte, aus einer anderen Zeit: Derselbe von mir vergessene Rahmen des blinden Spiegels, derselbe Fauteuil mit dem zerbrochenen Bein. Und dasselbe Tischchen aus rotem Holz, das vor zwanzig Jahren im Zimmer im Fontannij Dom stand (…) Die Gegenstände saugen wie ein Schwamm die Zeit in sich auf und hüllen einen von Kopf bis Fuß ein, wenn man ihnen unerwartet nach langer Trennung begegnet. Für Anna Andrejewna sind die Gegenstände ihres Zimmers wahrscheinlich mit dem Jahr 1913 angefüllt.

Selbst Modiglianis Zeichnung, dieser wertvollste Gegenstand, der in späteren Jahrzehnten den Besuchern als eine Art touristischer Sehenswürdigkeit diente, unterstrich nur ihre lebenslange Armut. Anatolij Najman erzählte von dem Besuch eines Studenten aus Oxford in der Leninstraße 34, der dritten Wohnung der Familie Punin, in der Achmatowa über eines der drei Zimmer verfügte. Sie sprachen über Modigliani, und der junge Mann wollte das Bild sehen. Achmatowa nahm ihn am Arm und schob ihn taktvoll in Richtung ihrer Bettstatt, über der das Bild hing.
Der Gast warf einen schnellen, erschrockenen Blick auf das Portrait und setzte sich wieder an den Tisch. Achmatowas Kommentar:

Bei denen ist man nicht daran gewöhnt, ins Bett alter Damen zu schauen. (…) Sie können nicht glauben, daß wir so leben. Und sie können sich schon gar nicht vorstellen, daß wir unter solchen Bedingungen sogar noch schreiben.

Eine stattliche Dame mit ergrautem Haar, einen weißen Schal um die Schultern gelegt, erhob sich langsam. Anna Andrejewna Achmatowa war äußerst würdevoll. Sie bewegte sich sehr gemessen, besaß einen edlen Kopf mit schönen, etwas strengen Zügen, in denen ein Ausdruck unendlicher Traurigkeit lag. Ich verbeugte mich. Das schien mir angemessen, denn sie sah aus wie eine tragische Königin.

So erschien Achmatowa ihrem Besucher Isaiah Berlin. Die Szene entbehrt nicht der Theatralik, aber allein schon der Schauplatz, das öde Zimmer in der historischen Kulisse des Scheremetjew-Palais, bürgte für Pathos. Das, was sich in jener Nacht abspielen sollte, war ein komplettes Bühnenstück. 

Doch zunächst kam es zu einem Zwischenfall, dem später sowohl von Berlin als auch von Achmatowa große Bedeutung beigemessen wurde. Der Journalist Randolph Churchill, Sohn des britischen Staatsmanns, hielt sich zur selben Zeit wie Berlin als Korrespondent britischer Zeitungen in Leningrad auf. Im Hotel angekommen, hörte er zufällig, daß Isaiah Berlin, den er als Kommilitonen aus Oxford kannte, in der Stadt sei. Begeistert ging er auf die Suche nach ihm, den er als guten Kumpel und idealen Gelegenheitsdolmetscher schätzte. Er fand tatsächlich das Fontannij Dom und schrie laut von der Straße hinauf:

Isaiah! Isaiah!

Diese für damalige Verhältnisse sehr auffällige Szene konnte für die beteiligten Sowjetbürger peinlich und gefährlich werden. So entschied sich Berlin, von Achmatowa vorübergehend Abschied zu nehmen, und verschob das Treffen mit ihr auf neun Uhr am Abend.

Das mit Berlins zweiter Ankunft beginnende Bühnenstück Gespräch im Fontannij Dom war ein Dreiakter. Im ersten Akt ging es um die Vorstellung der Protagonisten. Dabei war eine dritte Person, eine Assyrologin, Schülerin des 1930 verstorbenen Lebensgefährten Waldemar Schileiko, anwesend. Sie sorgte für die Spannung, weil sie zu der ahnungslosen Sorte Menschen gehörte, die den Augenblick nicht erkennen, in dem sie zu gehen hätten. So blieb sie bis Mitternacht und stellte Berlin unentwegt Fragen über das britische Hochschulwesen. „Achmatowa hatte kein Interesse an diesem Thema und schwieg die meiste Zeit“, berichtete Berlin. Trotzdem waren diese ersten drei Stunden des zwölfstündigen Zusammenseins wichtig. Einerseits war dies die Zeit der nonverbalen Kommunikation zwischen dem Gast und seiner Gastgeberin, andererseits verband sie eine Komplizenschaft, der gemeinsame Wunsch, die ungeladene und taktlose Besucherin möge sich möglichst bald zum Teufel scheren.
Der zweite Akt dauerte weitere drei Stunden und bestand dramaturgisch aus zwei Szenen: Aus einer, die ich „informativ“ nennen würde, und aus einer zweiten, in der die Emotionen erscheinen. Isaiah Berlin erzählte mir, daß sich in demselben Augenblick, als die Wohnungstür hinter der Assyrologin ins Schloß fiel, die Atmosphäre sofort veränderte – sie bekam eine intime Färbung.
Zuerst fragte Achmatowa nach im Westen lebenden ehemaligen Freundinnen, Freunden und Bekannten.

Wir sprachen über den Komponisten Artur Lurie, den ich während des Krieges in Amerika getroffen hatte, er war ein enger Freund von ihr und hatte einige von ihren und Mandelstams Gedichten vertont; über den Dichter Georgij Adamowitsch, über den Mosaikkünstler Boris Anrep. (…) Sie zeigte mir den Ring mit dem schwarzen Stein, den Anrep ihr 1917 geschenkt hatte. (…) Sie fragte dann nach Salomeja Galpern, geborene Andronnikowa, (…) die sie gut kannte aus Petersburg vor dem Ersten Weltkrieg – eine berühmte Schönheit jener Zeit (…). Achmatowa erzählte mir, daß Mandelstam, der in sie (Andronnikowa) verliebt war, ihr eines seiner schönsten Gedichte gewidmet habe. (…) Dann fragte sie nach Wera Strawinskij, der Frau des Komponisten, die ich nicht kannte. (…) Sie erzählte von ihren Besuchen in Paris vor dem Ersten Weltkrieg, von ihrer Freundschaft zu Amedeo Modigliani, dessen Zeichnung, die er von ihr gemacht hatte, über dem Kamin hing.

Isaiah Berlin hatte bei dieser Heraufbeschwörung der Vergangenheit eine eher passive und naive Rolle. Er wußte noch nicht, daß er sich durch die Beantwortung ihrer Fragen nach bestem Wissen und Gewissen zum Gefährten auf einer gemeinsamen Zeitreise gemacht hatte. Achmatowa bewegte sich damals, eigentlich seit 1940, fortwährend auf der Zeitebene ihres „Poems ohne Held“. Ihr verlorenes Paradies der Vorrevolutionszeit betrachtete sie als Beginn der Tragödie ihres darauffolgenden Lebens. Deshalb führten Berlins Auskünfte zwangsläufig und nahtlos zur zweiten Szene: Zu einem vorläufigen emotionalen Höhepunkt der Begegnung.

Sie sprach über ihren ersten Mann, den berühmten Dichter Gumiljow. Sie war überzeugt davon, daß er sich nicht an der monarchistischen Verschwörung beteiligt hatte, derentwegen er hingerichtet worden war. (…) Ihr traten Tränen in die Augen, als sie die schmerzlichen Umstände seines Todes schilderte.

Ihre Tränen zeigte Achmatowa nur ganz wenigen Leuten. Dabei hatte sie keine grundsätzlichen Hemmungen, Emotionen offen zu zeigen. Laute Wutausbrüche, beißender Spott und Lachkrämpfe wurden von vielen Beobachtern wahrgenommen. In solchen Momenten kümmerte sie sich wenig um die Wirkung ihres Ausbruchs. Nur an einem Punkt hielt sie sich unter strengster Kontrolle: Sie wollte um keinen Preis Mitleid erwecken. In dieser Nacht jedoch brach sie mehrmals in Tränen aus. 

Sie las dann aus ihren Gedichtbänden Anno Domini, Weißer Schwarm und Aus sechs Büchern. (…) Mir las sie das zu dieser Zeit noch unvollendete „Poem ohne Held“ vor. Selbst damals schon war mir bewußt, daß es sich um ein geniales Werk handelte. (…) Dann las sie das „Requiem“ aus dem Manuskript. Sie brach ab und erzählte von den Jahren 1937–1938, als ihr Mann und ihr Sohn verhaftet und ins Lager geschickt worden waren. (…) Sie erzählte mit trockener, sachlicher Stimme, ab und zu sich selbst unterbrechend: „Nein, ich kann nicht, das ist nicht gut. Sie kommen aus einer Gesellschaft menschlicher Wesen, während wir hier teilweise menschliche Wesen sind und teilweise…“ Es folgte eine lange Pause. „Und selbst jetzt…“ Ich fragte nach Mandelstam. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie bat mich, nicht über ihn zu sprechen…

 Und obwohl es inzwischen bereits drei Uhr morgens war, schrieb Berlin, „deutete nichts darauf hin, daß sie den Wunsch habe, ich möge gehen, und ich war viel zu erregt und fasziniert, um mich zu rühren.“ Spätestens in diesem Augenblick mußte Isaiah Berlin begreifen, daß Achmatowa ihm gegenüber eine ganz außergewöhnliche Vertraulichkeit zuließ.

Der zweite Akt endete mit einer Aktion.

Es öffnete sich die Tür, und es erschien ihr Sohn Lew Gumiljow. (…) Ersah munter aus und (…) bot mir einen Teller gekochter Kartoffeln an, alles was sie hatten. Achmatowa entschuldigte sich für die Armut ihrer Gastlichkeit.

In der deutschen Version von Berlins Erinnerungen, die das Münchner Journal Transatlantik im Herbst 1983 veröffentlichte, soll Achmatowa selbst in die Küche gegangen und mit einer Schüssel gekochter Kartoffeln zurückgekommen sein. Da es in diesem Text mehrere Ungenauigkeiten gab, wollte ich den wahren Sachverhalt wissen, denn ich erinnerte mich an die Behauptung der KGB-Agentin, Kartoffeln zu kochen sei für Achmatowa „eine Leistung“. Wenn dem so war, dachte ich, dann ist diese Szene mit der Schüssel der zweite emotionale Höhepunkt des Bühnenstücks, möglicherweise der gleichzeitig prosaische und ätherische Augenblick des Sich-Verliebens.
Deshalb habe ich Sir Isaiah Berlin in einem Londoner Café, fast wie ein nach tragfähigen Indizien suchender Staatsanwalt, die Frage gestellt:

Wer hat die Kartoffeln gekocht?

Berlin antwortete:

Sie war es. Selbstverständlich sie.

Selbstverständlich schon, aber auch tatsächlich? Der Gast hielt sich im Zimmer auf, er konnte es nicht sehen. War es vielleicht Irina Punina? Oder einer der männlichen Bewohner der „Kommunalka“, was für einen russischen Haushalt eher untypisch wäre? Ein Geheimnis, wertvoller als alle Geheimnisse des KGB, die Anna Achmatowa betreffen.
Und wenn wir schon bei dieser bescheidenen nächtlichen Mahlzeit gelandet sind, so müssen wir mit fast hundertprozentiger Sicherheit die Vermutung aussprechen, daß nicht nur Teller, sondern auch Gläser auf den kleinen Tisch gestellt wurden. Achmatowa selbst sprach im Hinblick auf die Begegnung mit Berlin in einem Gedicht vom „Neujahrswein“, aber es konnte ebensogut Wodka sein, der selbst in dieser armseligen Nachkriegszeit keine Mangelware war.

Dann kam es gegen drei Uhr morgens zu einem ausführlichen Gespräch zwischen dem Gast und Lew Gumiljow. Die Erinnerungen Berlins sind eindeutig positiv:

Es war sichtbar, daß er eine tiefe Zärtlichkeit zu seiner Mutter und diese zu ihm hatte.

Offensichtlich sprach Achmatowas Sohn auch über sein Schicksal, das sich günstig zu entwickeln schien:

Ihm sei erlaubt worden, sich einer Flakeinheit anzuschließen, die man aus Gefangenen zusammengestellt hatte, und er sei soeben aus Deutschland zurückgekehrt. Er schien überzeugt, daß er wieder in Leningrad wohnen und arbeiten dürfe.

Das Gespräch mit Lew Gumiljow fand Berlin so aufschlußreich, daß er es, ohne den Namen zu nennen, in seinen Reisebericht für das Foreign Office aufnahm:

Über meine persönlichen Begegnungen kann ich sagen, daß ich einen jungen Mann aus der Roten Armee getroffen habe. Er ist vor kurzem aus Berlin zurückgekommen. Er ist Sohn einer Person, die vor vielen Jahren beseitigt wurde. Er war genauso intelligent, belesen, unabhängig und eigenwillig wie die meisten Studenten und Intellektuellen in Oxford oder Cambridge.

Am wenigsten kennen wir den dritten Akt des Dramas, denn es handelt sich um ein in weiten Teilen apokryphes Stück. Der dritte Akt begann ungefähr um vier Uhr morgens, als der junge Gumiljow zu seiner Pritsche im kleineren Nachbarzimmer ging, und dauerte bis neun Uhr morgens. Neben wichtigen literarischen Gesprächen über Russen wie Puschkin, Tolstoj, Dostojewskij, Turgenjew, Tschechow, Pasternak und andere sowie ausländische Autoren wie Kafka, Joyce und Eliot wurden ausführlich private Themen erörtert. Achmatowa sprach über ihre großen Beziehungen – die konfliktreiche und anregende zu Gumiljow, die fast unerträgliche mit dem bis zur Verrücktheit eifersüchtigen Schileiko und die völlig gescheiterte mit dem im Nebenzimmer schlafenden Punin – allesamt bedeutende Männer, die es jedoch nur schwer verkraften konnten, daß die Frau neben ihnen unvergleichlich bedeutender war als sie selbst. Der Name Garschin fiel in dieser Nacht nicht.
Was Isaiah Berlin im Gegenzug über sich erzählte, wissen wir nicht, und er hat das Recht, darüber zu schweigen. Doch gewiß mußte er sich in jener Nacht symbolisch entkleiden: Er wurde veranlaßt, nacheinander die Maske des britischen Diplomaten, die Verkleidung des hoffnungsvollen Wissenschaftlers und die des munteren Junggesellen abzulegen. Die Frau vor ihm war nur an seinem Wesenskern interessiert. Was übrigblieb, war der jüdische Junge aus Riga, der die russische Sprache in seinem Kinderkopf mit ins Exil genommen und um diese herum eine Bildung und ein Weltverständnis aufgebaut hatte, das ihn in seiner neuen Heimat zu einem bedeutenden Menschen machte. Nur auf diesem Hintergrund konnte er Achmatowa so tief beeindrucken, daß sie ihn kurz nach seinem Abschied in einer blitzschnell niedergeschriebenen Strophe des „Poems ohne Held“ zu ihrem „Gast aus der Zukunft“ erkor.

Doch diese Bezeichnung soll einigen Zeitgenossen zufolge bereits früher entstanden sein. Emma Gerstejn, die Achmatowa seit den dreißiger Jahren sehr nahestand, schloß nicht aus, daß der „Gast aus der Zukunft“ ursprünglich dem Arzt Garschin zugehörig gewesen sei. Unter „Zukunft“ sollte in diesem Fall das geplante gemeinsame Leben in Leningrad verstanden werden. Allerdings tilgte die Dichterin nach dem Abbruch der Beziehung alle Spuren Garschins, sogar frühere Widmungen von Gedichten an ihn. In den neunziger Jahren meldete die Familie Punin den seltsamen Anspruch an, den verstorbenen Kunsthistoriker zum „Gast aus der Zukunft“ zu ernennen und ihn gleichzeitig als „Adressaten und Helden der Lyrik von Achmatowa“, so der Originalton, anzuerkennen.
Die wachsende Zahl potentieller „Gäste“ des Fontannij Dom erinnert ein wenig an die Rivalität der sieben griechischen Städte, als Geburtsort von Homer zu gelten, zeugt also von der Unsterblichkeit der Gastgeberin. Andererseits erschwert die Fixierung auf die Frage nach einer konkreten Person das Verständnis der literarischen Gestalt des Gastes. Der „Gast aus der Zukunft“ ist eine hochabstrakte Konklusion dessen, was Isaiah Berlins Besuch für Achmatowa symbolisierte.
Die Interpretation von Nadeshda Mandelstam ist noch am ehesten zutreffend:

Der Gast aus der Zukunft im „Poem“ ist keine heimliche Schöpfung, wie das die Liebhaber der Doppelbödigkeit behaupten. Er ist erstens der künftige Leser, zweitens ein durch und durch konkreter Mensch (…). Er war der Prototyp des künftigen Lesers, denn in jenem verfluchten Jahr hatte in unserem Land noch niemand richtig lesen gelernt.

Dieser Gedankengang ist deshalb so bemerkenswert, weil er nicht nur den „Gast“, sondern auch die „Zukunft“ berücksichtigt. Diese Dimension spielte bereits zu Beginn des Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der russischen Poesie. Futuristen wie Majakowskij, Chlebnikow oder Burljuk nannten sich, von „futurum“ ausgehend, „budetljanin“, was so viel wie „Zukunftsbürger“ bedeutet.
Wünschenswerte Zustände haben Utopisten von Campanella bis Fourier gerne in imaginären Ländern oder Städten angesiedelt – daher die vielen „Staatsträume“, wie Bloch sie nannte. Unter „Zukunft“ verstand auch Achmatowa ein nicht klar umrissenes Gemeinwesen, allerdings ein bereits existentes. Als sie bei den Worten „Sie kommen aus einer Gesellschaft menschlicher Wesen“ in Tränen ausbrach, hatte sie plötzlich die Insel Utopia genau vor den britischen Gestaden entdeckt.
Aus einem langen Interview von Ramin Jahanbegloo geht hervor, daß sich Sir Isaiah Berlin, obwohl er jeden Kommunismus grundsätzlich ablehnte, gleichzeitig von den utopischen Sozialisten des neunzehnten Jahrhunderts faszinieren ließ. Vor seiner Begegnung mit Achmatowa und Pasternak hätte er wohl kaum geahnt, daß ausgerechnet die Bürger eines Staates, der im Zeichen der Utopie entstanden war, ihr Ideal beinahe kritiklos in der freien Welt sahen. „Beide gehörten zu denen“, erinnerte er sich an seine wichtigsten Gesprächspartner, „die übertriebene Illusionen über die intellektuelle künstlerische Kultur des Westens nährten“.
Illusionen mögen für Politiker fatal sein, Dichtern schaden sie nicht. So erwies sich die Illusion, Isaiah Berlin sei ein „Gast aus der Zukunft“, für Achmatowa als sehr produktiv. Anatolij Najman bemerkte dazu:

Diese Begegnung präzisierte (…) ihren poetischen Kosmos und krempelte ihn um, mobilisierte neue schöpferische Kräfte…

Und jetzt können wir über die Liebe reden. 

Liebe ist in der Realität eine Fiktion, ein Brennpunkt von unterschiedlichen Gefühlen wie Zärtlichkeit und Haß, Verzweiflung und Hoffnung, Besitzgier und Wunsch nach Besessen-Werden, Schmerz und Genuß, Freude und Trauer. Transzendental gesehen ist sie hingegen eine eigenständige, sich selbst genügende Wirklichkeit, die einzige, an der das menschliche Wesen ebenso restlos beteiligt sein kann wie an der Geburt oder am Tod. Die erotischen Komponenten, ja sogar der Liebesakt, verkörpern, genauer gesagt verkörperlichen lediglich den Drang nach einer Exklusivität, in der sich die Liebenden als Gegenpol der übrigen Welt erleben.
In jedem Fall jedoch ist Liebe, selbst die sogenannte einseitige, unbeantwortete Liebe, immer auch Beziehung, ein fortwährender Versuch, die Grenzen des eigenen Ich und die der anderen Persönlichkeit zu überwinden. Anna Achmatowas Liebe zu Isaiah Berlin war von diesem wahrgenommen und dadurch in eine Evidenz verwandelt worden. Der Besuch des Diplomaten im Fontannij Dom, sein Ankommen und Weggehen, die Themen der Gespräche, die optischen und akustischen Eindrücke, der Geruch seiner Zigarre, zufällige Berührungen – all dies verdichtete sich zu einer Art Urgeschichte. Die Dichterin mußte bloß noch die Handlungslinien verlängern, den Diskurs weiterführen, um das Vergangene zu vergegenwärtigen. Eine Begegnung und eine Trennung reichen aus, um die ewige Spannung aller Liebesgeschichten aufrechtzuerhalten.
Die Unwahrscheinlichkeit eines Wiedersehens befestigte nur die der Beziehung Achmatowa-Berlin innewohnende tiefe Bindung. „Getrennt von der Erde, vom Jetzt und Hier / hoch oben wie Sterne schwebten wir“, schrieb Achmatowa am 26. November 1945, als die Erinnerung an die Begegnung noch frisch war, und einen Monat später verlegte sie die Erinnerung an jene Nacht wieder in den himmlischen Raum: 

Zwei sich kreuzende Regenbogen
So nimmt unser Gespräch seinen Gang.

Selbst 1963, als die ursprüngliche Intensität des Erlebnisses eigentlich hätte verblaßt sein müssen, hoffte sie in einem Gedicht unter dem bezeichnenden Titel „Nächtlicher Besuch“ auf eine neue kosmische Begegnung, diesmal nicht in der Sternenwelt, sondern in der Musik: 

Nicht auf dem Asphalt, dem blätterschweren,
Mußt du lange stehn,
Im Adagio von Vivaldi werden
Wir uns wiedersehn.

In manchen Augenblicken konnte es der Dichterin so erscheinen, als sei diese konstruierte Transzendenz nichts als eine tröstende Lüge, ein astronomischer Trick:

Schwarze Trennung, immerwährend, trage
Ich mit dir gemeinsam. Ach, du weinst?
Gib mit lieber deine Hand und sage,
Daß du wieder mir im Traum erscheinst.
Wie die Berge, die nicht zueinander
Kommen, scheint es mir mit Dir: für uns
Gibt’s auf dieser Welt kein Miteinander.
Doch ein Stern, mag sein, schickt deinen Gruß.

Eine merkwürdige Hoffnungslosigkeit: Erstens bezieht Achmatowa sich ausschließlich auf die irdische Ebene, während für alle Arten des Wiedersehens mehrere Wirklichkeiten (Sterne, Regenbogen, Adagio) konstruiert werden. Zweitens läßt sie keinen Zweifel über die Gegenseitigkeit der Beziehung aufkommen. Nicht sie selbst trauert über die Trennung, sondern sie spendet Trost dem Geliebten, der die Last der Liebe mit ihr teilen muß. Außerdem ist der Mann für sie nicht weniger präsent als bei seinem Erscheinen:

Fort ist die Zeit und fort ist der Raum,
Und mir gelang’s durch die weiße Nacht,
Die Narzisse zu sehn bei dir im Kristall
Wie auch den blauen Zigarrenrauch.

Dieser „blaue Zigarrenrauch“ ist, wie wir wissen, ganz konkret gemeint – er erscheint bereits in der nach Berlins erstem Besuch schnell geschriebenen Zwischenstrophe des „Poems“. Und all diese „weißen Nächte“, „Mitternächte“, „nächtlichen Gespräche“, „nächtlichen Besuche“ werden eindeutig durch jene reale magische Nacht vom 25. auf den 26. November 1945 legitimiert. Sie ist die Quelle aller emotionalen Energien, die die Dichterin in die Aufrechterhaltung der metaphysischen Beziehung investiert hat.
Während unseres Gesprächs in London habe ich Sir Isaiah Berlin die Frage gestellt, ob er, der zweifelsohne in Achmatowas letztem Lebensabschnitt zur zentralen Gestalt geworden war, je ähnliche Affekte ihr gegenüber hatte. „Nein“, antwortete er, „ich hatte keine Utopie.“ Der Inhalt seiner Gefühle läßt sich im wesentlichen durch Worte wie Faszination, Respekt, Bewunderung und Mitgefühl ausdrücken. Später, als er nicht ausschließen konnte, Achmatowas Spießrutenlauf zumindest mit ausgelöst zu haben, dominierte bei ihm das Schuldbewußtsein.
Was aber war das Wesen von Achmatowas Emotionen, sozusagen in statu nascendi, in der harmonischen, konfliktlosen Anfangsphase ihrer Liebe? Die eigentliche Dramatik existierte zu diesem Zeitpunkt vorerst nur in vagen Vorahnungen. Was bewegte Achmatowas Sinn, an welcher Stelle wurde sie von Cupidos Pfeil getroffen? In einem Gedicht des Zyklus „Cinque“ bekennt sie es mit verblüffender Offenheit:

Nichts mied ich all mein Lebtag so,
Als Mitleid zu erregen.
Allein dein Mitleid macht mich froh
Auf meinen dunklen Wegen.
Rings um mich Licht und Morgen nun,
in mir die Kraft zum Wundertun:
Allein durch dich.

Im russischen Originaltext:

Ich mochte seit meinen ältesten Tagen nicht
wenn man mit mir Mitleid hatte,
aber mit einem Tropfen deines Mitleids
gehe ich wie mit der Sonne im Leib herum.
Ich gehe und tue Wunder,
Siehst du, warum?

Hier gibt es nur eine Interpretationsmöglichkeit: Dem nächtlichen Besucher war es durch seine Emphase gelungen, die natürliche Zurückhaltung seiner Gastgeberin zu überwinden. So war es ihr möglich, die Tragik ihres Lebens einem Fremden zu offenbaren. Hinweise darüber, daß dieses Geständnis sich keineswegs nur um die von der Politik verursachten Katastrophen drehte, finden wir in Berlins Erinnerungen. Es gibt einige schamhaft formulierte, jedoch eindeutige Anhaltspunkte:

Die Nacht zog sich in die Länge. Achmatowa wurde mehr und mehr lebendig. Sie begann, mich über mein Privatleben auszufragen. Ich antwortete offen und frei, als hätte sie ein absolutes Recht, darüber Bescheid zu wissen. (…) Unser Gespräch, das die intimen Einzelheiten sowohl ihres als auch meines Lebens berührte, dauerte bis zum späten Morgen des nächsten Tages.

Achmatowa war durch eine Anleihe bei Vergil – einige Zeilen, in denen sie den „Gast aus der Zukunft“ mit Aeneas verglich – nicht ganz unschuldig daran, daß manche Zeitzeugen die nächtliche Begegnung im Fontannij Dom als klassischen Stoff betrachteten, als moderne Version der Geschichte von Dido und Aeneas. Die karthagische Königin Dido lauscht der Erzählung des Aeneas über den Fall Trojas, und von Mitleid ergriffen verliebt sie sich in ihren Gast. Als der Grieche der Gastfreundschaft überdrüssig wird und sich mit seiner Flotte heimlich davonmacht, läßt sich die in ihrer Leidenschaft enttäuschte Dido auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
Manch atmosphärische Elemente des Epos ermöglichen einen Vergleich mit der nächtlichen Begegnung in Leningrad. Doch ist diese dem lateinischen Modell diametral entgegengesetzt. Im Fontannij Dom erzählt nicht der Gast, sondern die Gastgeberin, nicht der Mann, sondern die Frau. Das Ergebnis der Begegnung ist trotz aller daraus folgenden Schwierigkeiten nicht der Scheiterhaufen, sondern ein tragisches Glücksgefühl. Der britische Historiker war der erste Mann, dem Anna Achmatowa ihre Schwäche, ihre Verletzlichkeit vorbehaltlos zeigen konnte, und dies in einem kritischen Moment ihres Lebens, am Vorabend des Alterns, an der Schwelle der weiblichen Einsamkeit. Ein Befreiungsakt also mitten in der größtmöglichen Unfreiheit:

Weder Verzweiflung noch Scham,
weder jetzt noch danach, noch damals.

Die Begegnung Berlin-Achmatowa provozierte noch eine andere Parallele – Jossif Brodskij sprach von einer Romeo-und-Julia-Geschichte. Aber auch der Shakespearesche Stoff läßt sich nicht ohne weiteres auf Achmatowa und Berlin anwenden. Die Liebenden aus Verona verpassen ihr Glück um ein Haar: Wäre Pater Lorenzo rechtzeitig in die Gruft gekommen, dann hätte er die Tragödie abwenden können. Das Leningrader Liebesdrama hingegen läßt dem Zufall keine Spielräume. Das Verhängnis schwebt nicht über dem Fontannij Dom, sondern es ist dort zu Hause.
Damit bildet diese Beziehung ein eigenständiges klassisches Modell. Die Liebenden in Leningrad haben die Chance, die seit 1913 unterbrochene zeitliche und räumliche Kontinuität der Welt für eine Nacht wiederherzustellen. Diese Möglichkeit nehmen sie wahr und lenken damit den Zorn der kosmischen Mächte auf sich. Die Welt ist und bleibt, wie sie war, nämlich gespalten, und der Versuch, die Isolation der beiden Welthälften durch Liebe zu überwinden, trägt das Scheitern in sich selbst. Der Protagonistin ist dies bewußt, doch hat sie keine Möglichkeit, dem Scheitern zu entgehen: 

(…) Die Tür, die du halb geöffnet hast,
zuzuschlagen, fehlt mir die Kraft.

Darüber hinaus ist sie gar der Meinung, gemeinschaftlich mit Isaiah Berlin die Spaltung der Welt noch vertieft zu haben – doch davon wird an anderer Stelle die Rede sein.
„Ich gehe und tue Wunder“ meint im Grunde:

Ich schreibe Gedichte.

Nur dank dieser Gedichte sind wir imstande, etwas annähernd Konkretes über das Weiterleben der Liebe zu Isaiah Berlin mitzuteilen. Achmatowa besuchte im Frühjahr 1946 Nina Ardowa. Sie sprachen über die Vergangenheit, über den Krieg und die Zukunftspläne der Dichterin. „Es kam kein anderes Thema bei ihr auf“, konstatierte Ardowa, „als die Begegnung mit einem Menschen, der dann für mehrere Jahre einen Platz in ihrer Lyrik besetzt hielt. Das begann mit dem Zyklus ,Cinque‘.“
Nach der Rückkehr aus Moskau schickte Achmatowa alle Berlin-Gedichte an ihre Moskauer Freundin und versah sie mit der Widmung:

Zur Erinnerung an unsere nächtlichen Gespräche.

Die berühmte Ergänzung zum „Poem ohne Held“ schrieb sie in der ersten Version nieder:

Der Gast aus der Zukunft! Ist es möglich?
Keine vier Wochen werden vergehen,
und die Dunkelheit schenkt ihn mir.

Erst später veränderte sie diese Schlußzeilen, verwandelte sie in Geschichte:

Der Gast aus der Zukunft! Ist es möglich?
Kommt er in der Tat, mich zu besuchen
links von der Brücke abbiegend?

Auf einer privaten Lesung in Moskau, wo unter anderem der Dichter Boris Slutskij und der Musiker Swjatoslaw Richter anwesend waren, stellte sie den Zyklus „Cinque“ vor. Zu dieser Zeit waren die Gedichte bereits in der Zeitschrift Leningrad gedruckt worden. Nur der Titel, störenderweise italienisch und außerdem in lateinischer Schrift, wurde verändert. Statt „Cinque“ hieß es nun „Fünf Gedichte aus dem Zyklus Liebe“. 

„Ich gehe und tue Wunder“ – Achmatowa tat nicht nur Wunder, sondern mit ihr geschah auch Wunderbares. Das Frühjahr 1946 war eine einzige Erfolgsserie. In Moskau und Leningrad beteiligte sie sich an vielen Lesungen. Überall, wo sie in ihrem schwarzen Kleid erschien, umhüllt von einem weißen Schal, wurde sie emphatisch aufgenommen.
Nina Ardowa war am 3. April 1946 im Moskauer Kolonnensaal der Gewerkschaften dabei, als die Dichterin vom Publikum gebeten wurde, aus alten Gedichtbänden zu lesen.

Man rief ihr die Titel ihrer bekanntesten Gedichte zu. Sie machte eine ablehnende Handbewegung, runzelte die Stirn und lächelte dabei ein bißchen schlau.

Eine andere Augenzeugin, Natalja Roskina, erzählt, wie Achmatowa sich sogar gegen die Begeisterung des Publikums wehren mußte.

Als das Publikum noch mehr Gedichte hören wollte, sagte sie: „Ich kenne meine Gedichte nicht auswendig, und mehr habe ich nicht mitgebracht“. Das Publikum verstand, daß dies erzwungene Worte waren. Der Applaus donnerte weiter.

Sie war an der Schwelle eines neuen und angesichts ihrer Vorgeschichte noch nie dagewesenen Triumphs. Zwei Gedichtbände – ein gebundenes Buch und eine Taschenbuchausgabe – standen unmittelbar vor dem Erscheinen. Die literarische Auferstehung war, wenn nichts dazwischenkam, für den Sommer vorprogrammiert.

Der Diplomat Berlin war mit seiner Reise nach Leningrad sehr zufrieden.

Im Vergleich zu Moskau sind die Leningrader Intellektuellen viel freier. (…) Die Menschen in Leningrad sehen ordentlicher aus als die Moskauer und haben eine gesunde Beziehung zu ihrer Stadt. Der Wiederaufbau der Stadt geht schnell voran. (…) Ich habe in Leningrad keinen Ausländerhaß empfunden, obwohl ich in Moskau viel darüber gehört hatte. Die Leute hier sind besser erzogen und auch besser genährt als in Moskau.

Aus dem Gesehenen zog er ein recht optimistisches Fazit:

Es wäre ratsam, in Leningrad ein Konsulat zu eröffnen.

Typisch für die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Kalten Krieges war die Tatsache, daß der britische Botschafter in Moskau, Frank Roberts, Berlins Vorschlag unterstützte und an den Außenminister Ernest Bevin weiterleitete.
Gleichzeitig hielt Berlin die Augen offen und sah das Ephemere, das Unsichere in der Nachkriegssituation. Selbst die relative Freiheit in Leningrad erklärte er damit, daß dort zunächst „ausländische Behörden, Institutionen und Bürger noch überhaupt nicht ansässig“ waren. Er bemerkte auch den sozialen Unterschied zwischen privilegierten und normalen Schriftstellern:

Die Parteimitglieder haben zwar keine finanziellen Sorgen, aber sie sind gezwungen, im Auftrag der Partei zu schreiben.

Insgesamt beurteilte er die Lage der Schriftsteller skeptisch:

Für die Literatur scheint diese Zeit jetzt sehr ruhig zu sein. Wahrscheinlich ist das jedoch die Ruhe vor dem Sturm.
(…) Die Schriftsteller (…) müssen private Kontakte mit Ausländern meiden. Wenn jemand mit Ausländern Kontakt pflegt, wird er meistens von der Geheimpolizei verfolgt. Parteitreue Schriftsteller treffen sich in der Regel nicht mit Ausländern, selbst wenn diese Kommunisten sind.

Manche Passagen aus Berlins Bericht beziehen sich direkt oder indirekt auf Anna Achmatowa oder übernehmen ihre Einschätzungen. So erwähnt er seinen Besuch „bei einem Schriftsteller, (…) der von einer Buchhandlungs-Bekanntschaft organisiert wurde“ und fügt hinzu, der – beziehungsweise die – Betreffende habe zu diesem Anlaß zum zweiten Mal seit 1917 mit einem Ausländer gesprochen. Es ist eindeutig, um wen es sich bei dem anonymen „writer“ handelt.
„Mit meinen neuen Bekannten“, schreibt Berlin in einem anderen Teil seines Berichts, „habe ich politische Themen sehr vorsichtig behandelt. Sie mußten auch aufpassen. Mein Eindruck: Das Publikum kennt die wahre Qualität der sowjetischen Schriftsteller. (…) Beispielsweise wird von allen als Selbstverständlichkeit betrachtet, daß Pasternak ein genialer Dichter ist, Simonow hingegen ein geschwätziger Journalist.“ Aufgrund des oben zitierten, fast zur gleichen Zeit entstandenen Spitzelberichts läßt sich die Quelle der präzisen Trennung von Spreu und Weizen in der Sowjetliteratur leicht identifizieren.
Bei aller Skepsis verfehlte der Glaube an eine relative Liberalisierung, die nach dem Krieg viele russische Intellektuelle teilten, auch auf Berlin nicht ganz seine Wirkung. Nach der Heimreise nach Oxford, die gleichzeitig eine Rückkehr zur wissenschaftlichen Laufbahn bedeutete, versuchte er sich in einem halsbrecherischen Unternehmen: Er wollte Boris Pasternak zur Übergabe des Ehrendoktorats der Literatur nach Oxford einladen, und zwar sehr schnell. Dieses edle, wenn auch zum Scheitern verurteilte Vorhaben läßt sich nur aufgrund eines Antwortbriefs des Vice Chancellor Mr. Livingstone vom 1. Juni 1946 rekonstruieren. Der hohe Würdenträger der Oxforder Universität versucht darin offensichtlich, seinem jungen Kollegen eine Wahnvorstellung auszureden:

Trotz Ihres sehr überzeugenden Briefes bleibe ich ketzerisch. Ich befürworte die Vergabe der Honorary Degrees für politische Zwecke auf keinen Fall (obwohl Pasternak auch andere Gründe hat). Gleichzeitig bin ich auch der Meinung, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt wäre, Rußland mit einer ,Geste‘ entgegenzukommen. Wenn Bowra diese Frage dem Council unterbreiten möchte, so wird dies die Meinung der Institution zeigen. Der Besuch Pasternaks in England scheint auf jeden Fall unsicher zu sein, und wie Sie auch selbst sagen, wäre der August nicht der beste Zeitpunkt, um die Auszeichnungszeremonie durchzuführen.

Wenn wir Pasternaks späteres Desaster mit dem Nobelpreis bedenken, so können wir vielleicht dem Vice Chancellor dankbar sein, daß es damals nicht zu der lebensgefährlichen Einladung gekommen ist. Andererseits ist es gut, daß Isaiah Berlin diese fixe Idee aus Moskau mit nach Oxford brachte und darauf beharrte, auch wenn deren Verwirklichung fast zwei Jahrzehnte lang auf sich warten ließ, so daß Pasternak dann schon nicht mehr am Leben war.

Über die zweite Reise nach Leningrad – er wollte die Sowjetunion über Finnland verlassen – schrieb Berlin an seinen Botschafter, sie sei diplomatisch ereignislos gewesen. Zusammenfassend fügte er über die beiden Leningrad-Aufenthalte hinzu:

Der Besuch bei der Dichterin in Leningrad war, glaube ich, das Anregendste, was ich erlebt habe. Sie hat anschließend ein brandneues Gedicht über unser mitternächtliches Gespräch geschrieben.

Bereits wieder in Oxford, erhielt er einen Brief von Boris Pasternak mit Datum vom 26. Juli 1946. Der Dichter übernahm die für ihn exotische Rolle des postillion d’amour. „Als Achmatowa hier war“, schrieb er, „handelte jedes dritte Wort – von Ihnen. Und so dramatisch und mysteriös! Eines Nachts zum Beispiel, im Taxi, auf dem Rückweg von einem Abend, als sie gleichsam verklärt und müde war und fast schon in den Wolken schwebte, flüsterte sie mir auf Französisch zu: ,Notre ami‘… Zum Schluß begannen ihre Freunde, die auf Achmatowas Begegnung mit Ihnen eifersüchtig waren, mich mit ihren Bitten zu überschütten: Boris Leonidowitsch, beschreiben Sie uns Berlin – wer er ist und wie er ist. Darauf folgte mein Lob, und erst dann begann Achmatowas echter Schmerz. Alle haben Sie sehr gerne und sprechen mit großer Wärme von Ihnen.“
Vermutlich bewegte sich Anna Achmatowa zur Entstehungszeit dieses Briefes immer noch „mit der Sonne im Leib“ auf den Straßen Leningrads und war bereit zu weiteren Wundertaten. Die Behörden wollten es anders. Kurz nach dem Besuch Isaiah Berlins wurde ein Abhörgerät in ihrem Zimmer installiert, und sämtliche Spitzel in Achmatowas Umgebung wurden zu erhöhter Aktivität aufgerufen. Nach der Erinnerung Nadeshda Mandelstams wurde die Dichterin bereits in jenen Sommermonaten offen observiert.

 

 

Vorbemerkung 

In diesem Buch erzähle ich die Geschichte einer einzigen Nacht, der Nacht eines Besuchs von Isaiah Berlin bei Anna Achmatowa, sowie deren fatale Folgen, und zwar hauptsächlich aus der Sicht der Gastgeberin. Es ist eine Erzählung, in der es um Liebe geht und darum, wie diese Liebe zum sinngebenden Mittelpunkt aller früheren und späteren Lebenszusammenhänge der Protagonistin wird. Und da sich die Beziehung Achmatowa-Berlin unter den wachsamen Augen des KGB entfaltet, ist die Geschichte gleichzeitig eine Parabel auf sowjetische Normalität und Absurdität, auf die komplizierte Beziehung zwischen Staatsmacht und Literatur.
Dieses Buch ist keine Biographie von Anna Achmatowa und auch keine literarische Studie. Isaiah Berlins Leben und Werk sind erst recht nicht Gegenstand meiner Arbeit – ihn als Philosophen zu würdigen, fehlen mir die spezifischen Voraussetzungen, und sein privates Gesicht sehe ich vor allem im Blickwinkel von Achmatowas Leben und Poesie. Die Begegnung in jener Nacht war für ihn sehr wichtig, jedoch nicht schicksalhaft, während Achmatowas weitere Laufbahn von diesem Ereignis entscheidend mit geprägt wurde.

Als junger Dichter und Student an der Moskauer Universität in den sechziger Jahren hatte ich einige der damals zugänglichen Gedichte von Anna Achmatowa gelesen und kannte auch den folgenschweren Parteibeschluß vom August 1946 sowie Schdanows Rede, in der er die Dichterin öffentlich als „Nonne und Dirne“ beschimpft hatte. Der Parteiideologe war mir nicht besonders sympathisch – dazu verstand ich mich zu sehr als Literat –, aber auch die Dichterin hinterließ bei mir keine bleibenden Spuren. Ihre faszinierende sprachliche Kraft lernte ich erst fünfzehn Jahre später schätzen, aber selbst da konnte ich keine besondere Nähe zu ihrer Dichtkunst herstellen. Ich hatte den Eindruck, Achmatowa lasse einen nicht an sich heran; sie mag es nicht, wenn sie geduzt wird.
Da ich nicht englisch lesen kann, hörte ich von Isaiah Berlin überhaupt erst nach 1989, als man seine Studien in Osteuropa zu übersetzen begann. Ich dachte an ihn als an einen bedeutenden britischen Denker, womöglich längst verstorben.
Im Sommer 1975 lernte ich die Autorin Lidija Kornejewna Tschukowskaja kennen. Ich traf sie in der Schriftstellerkolonie Peredelkino. Die ältere Dame befand sich damals aufgrund ihres Engagements für verfolgte Kollegen an der Peripherie der Öffentlichkeit. Gleich nachdem wir einander begrüßt hatten, teilte sie ihre aktuelle Sorge mit mir: Wegen ihrer schlechten Augen fürchtete sie, aus Versehen Schriftstellerkollegen die Hand zu geben, die an der Verleumdungskampagne gegen Solschenizyn und Sacharow beteiligt gewesen waren. Und sie sagte, sie arbeite an einem Tagebuch über Anna Achmatowa.
Zu dieser Zeit war ich inzwischen Dissident, es war meine reichlich verspätete Sturm- und Drangzeit. Gefühlsmäßig entfernte ich mich immer weiter von der Sowjetunion. Mein politisches Handeln war auf Ungarn und Mitteleuropa gerichtet, meine schriftstellerische Tätigkeit hatte immer mehr mit dem deutschen Sprachraum zu tun. Gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber der russischen Kultur, dem Land und seinen Menschen – kurz gesagt, ich fühlte mich in der Schuld. Den wichtigsten Teil meiner Jugend habe ich in diesem Land verbracht und seine originellen und warmherzigen Menschen kennengelernt. Ich war durch viele persönliche Fäden mit Rußland verbunden und bin ein naher Beobachter seiner Geschichte und seines Alltags geblieben.
Ich war auch noch von einer anderen Nostalgie befallen, der Sehnsucht nach der Zeit meiner literarischen Anfänge. Ich sehnte mich nicht so sehr nach meiner poetischen Produktion, die aus heutiger Sicht ziemlich bescheiden wirkt, aber mit Sicherheit nach dem hohen gymnasial-pubertären Anspruch, mich mit den ganz Großen in eine Reihe zu stellen. Ich wollte wieder, wie damals mit siebzehn Jahren, Poesie lesen, über Gedichte sprechen, nicht der Bildung wegen, sondern weil ich, weil „man“ anders einfach nicht leben kann.
Im Frühjahr 1993 nahm ich in Moskau an einem Seminar über „Staatssicherheit und Literatur“ teil. Auf dieser von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Veranstaltung hielt der KGB-General a.D. Oleg Kalugin ein Referat über die Akte Anna Achmatowa. In diesem Zusammenhang erwähnte er auch den nächtlichen Besuch Berlins in Leningrad. Der Operative Vorgang, der insgesamt neunhundert Seiten umfassen soll, ist mittlerweile verschwunden – ich nehme an, jemand wollte oder will aus ihm Kapital schlagen. Der ehemalige General schien außer diesem Auftritt keinen besonderen Wert auf das Thema zu legen. Seine im Sommer 1995 veröffentlichten, gleichermaßen geschwätzigen wie nichtssagenden Memoiren enthalten nicht die leiseste Anspielung auf Anna Achmatowa. Mich aber machten seine Zitate aus der Geheimakte hellhörig.
Ich schaute in die neueste russische Achmatowa-Ausgabe und suchte dort nach Gedichten, die mit dem „Gast aus der Zukunft“ zusammenhingen. Ich merkte, wie die Verszeilen seltsam aufflackerten, wie Worte, die ich bereits früher kannte oder zu kennen meinte, eine ungewöhnliche Schwere und ganz neue Bedeutungsschichten gewannen. Doch auch mit mir veränderte sich etwas: Aus einem Menschen, der gelegentlich Achmatowa-Gedichte las, wurde in wenigen Wochen ein leidenschaftlicher Achmatowa-Leser. 

Dieses Buch schrieb ich aufgrund von Archivdokumenten, Erinnerungen von Zeitzeugen sowie zahlreicher Gespräche. So konnte ich noch mit Lidija Tschukowskaja kurz vor ihrem Tod ein langes Gespräch führen. Telefonisch konsultiert habe ich Emma Gerstejn und Anatolij Najman. Ich bin nach England gefahren, um Sir Isaiah Berlin einige Fragen zu seinem Erinnerungsbuch Personal Impressions zu stellen. Besonders aufschlußreich war ein Gespräch mit Professor Harry Shukman, der sich im Frühjahr 1954 im Rahmen einer britischen Studentendelegationsreise in Leningrad aufgehalten hatte und dort Anna Achmatowa begegnet war. Bei den Recherchen in Moskau, den Interviews in Oxford und London sowie bei der Sichtung der Materialien arbeitete ich mit der ungarischen Journalistin Andrea Dunai zusammen.
Ein besonderes Problem stellten die Gedichtzitate dar. Achmatowas Gedichte in deutscher Sprache sind bis auf wenige lobenswerte Ausnahmen weit unter dem Niveau des Originals. In der Regel handelt es sich entweder um Linearübersetzungen, die sowohl die sprachliche Qualität als auch die Reim- und Rhythmustechnik der Dichterin ignorieren, oder aber um formal ähnliche Gedichte, die aufgrund der dichterischen Freiheit der Übersetzer ungeeignet sind, einen analytischen Motivvergleich durchzuführen. Deshalb habe ich einige wichtige Gedichtzeilen neu übersetzt; solche sind im fortlaufenden Text nicht namentlich gekennzeichnet (siehe auch „Übersetzernachweis“ im Anhang). Bei dieser Gelegenheit möchte ich Elsbeth Zylla, mit der ich bereits mein achtes Buch in einer engen geistigen Symbiose ins Deutsche übertrage, für ihre sprachliche und stilistische Arbeit sowie für ihre wichtigen inhaltlichen Hinweise besonders danken. Für das aufmerksame Durchsehen des Manuskripts fühle ich mich außerdem Franziska Groszer und Gabriele Dietze verpflichtet.
Tiefen Dank für Unterstützung und Anregung möchte ich außerdem folgenden Personen sagen:
Simon Bailey, Oxford; Sir Isaiah Berlin, Oxford; Irina Bojko, Tschernowitz; Emma Georgijevna Gerstejn, Moskau; Henry Hardy, Oxford; Michael Ignatieff, London; Ljudmila Karatschkina, Simferopol; Lew Sinowjewitsch Kopelew, Köln; Gennadij Mojsejewitsch Kostyrtschenko, Moskau; Anatolij Najman, Moskau; Henning Ritter, Frankfurt/M.; Ljudmila Georgijewna Schurawljowa, Simferopol; Harry Shukman, Oxford; Jelena Tsesarewna Tschukowskaja, Moskau; Lidija Kornejewna Tschukowskaja, Moskau; Zsuzsanna Zsohár, London.

György Dalos, Vorwort

 

 

Die Begegnung Anna Achmatowas,

der größten russischen Dichterin des 20. Jahrhunderts, mit Isaiah Berlin, dem Professor aus Oxford im Jahre 1945 machte sie zum ideologischen Feind Nummer Eins der Sowjetmacht und ihn zum „britischen Spion“. Für sie war er der „Gast aus der Zukunft“, für den sie von da an bis ans Ende ihres Lebens 1966 bespitzelt, exkommuniziert und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, ihre Familienangehörigen wurden ins Lager geschickt, die Akte „Objekt Achmatowa“ umfaßte am Ende über 900 Seiten. Für ihn, den zwanzig Jahre Jüngeren, war sie eine „tragische Königin“, die wohl „denkwürdigste Begegnung seines Lebens“. Beide maßen diesem Zusammentreffen, das nur eine Nacht und einen Tag dauerte, vom Abend des 25. November 1945 bis zum nächsten Morgen, eine außerordentlich große Bedeutung bei. Achmatowa war überzeugt, daß mit diesem Datum der Kalte Krieg, die endgültige Spaltung der Welt, begonnen habe. Und doch entstanden daraus dies schönsten Liebesgedichte der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
György Dalos und seiner Mitherausgeberin Andrea Dunai gelang es, zum ersten Mal Zutritt zu staatlichen Archiven in Moskau zu erlangen und Einsicht in bisher verschlossene Akten des Politbüros des ZK der Sowjetischen KP, des KGB u.a. zu nehmen. Sie haben Gespräche mit Personen aus dem Freundeskreis der Achmatowa geführt und schließlich auch Sir Isaiah Berlin in Oxford besucht.
Entstanden ist ein Bild des Kalten Krieges „von innen“, das Protokoll einer Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Staat, eine Geschichte über die Freiheit des schöpferischen Geistes und die Dämonie der Macht, eine bewegende Geschichte über die irdische und die himmlische Gerechtigkeit.

Europäische Verlagsanstalt, Klappentext, 1996

 

Beitrag zu diesem Buch:

Beate Reisch: Leben, Liebe, Dichtung
berlingeschichte.de, 1998

 

 

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Fakten und Vermutungen zu Isaiah Berlin
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Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag von Anna Achmatowa:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag von Anna Achmatowa:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

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Anna Achmatowa Begräbnis.

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