ICH SAH MICH TENNIS SPIELEN
1
Ich sah mich Tennis spielen,
der Gegner unsichtbar,
nur die Art seiner Schläge verriet
die Bewegungen hinter dem Netz,
das ebenso nicht sichtbar war.
Die Art seiner Schläge verriet,
dass er lieber selbst verlöre,
als mich verlieren zu lassen.
Ich wusste, dass weder
irgendein Gott noch seine Engel
loyal zu den Menschen sind,
wusste also, dass du der unsichtbare Spieler warst,
ich wurde wach,
und der Ball kommt und kommt nicht zurück
2
Ohne Reim zu schreiben
ist wie ohne deinen Atem zu atmen.
Deshalb.
Deshalb kommen diese Verse
ohne den tönenden Punkt
des Balls an dem Schläger
aus
Writing free verse is like playing tennis with the net down.
Schreiben ohne Reim ist wie Tennisspielen ohne Netz.
Robert Frost
das wissen wir seit Mandelstam und Celan. Diese Post ist Gesang und Gebet, Protokoll und Analyse. Im Idealfall spricht sie aus, was sonst ungesagt und ausgegrenzt bleibt. Die Gedichte dieses Bandes stellen die Frage, was Tradition im 21. Jahrhundert bedeutet. Olga Martynova arbeitet als Lyrikerin im Bewusstsein des reichen Erbes, das die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Zugleich gibt sie ältere Linien nicht preis und bezieht sich etwa mit Dantes Commedia auf eine der Hauptquellen der europäischen Poesie, die aus der Trauer um eine gestorbene Frau entstand.
Olga Martynovas Gedichte lassen Raum für Trauer und Krieg, für Befragung und Wut, aber auch für das Alltägliche und die Bewunderung der Welt. Vom Ende der neunziger Jahre an hat sie ihre Prosa auf Deutsch, ihre Gedichte auf Russisch geschrieben. Seit dem Tod ihres Mannes, des Dichters Oleg Jurjew, schreibt sie nicht mehr in russischer Sprache.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 2024
– Olga Martynovas neue Gedichte kreisen um Verlust, der nicht zu verbegrifflichen ist. –
Im letzten Kreis der Danteschen Hölle herrscht ewiges Eis. Luzifer höchstpersönlich produziert es, indem er – der ehemals schönste Engel ist bekanntlich bei seinem Fall auf die Erde geprallt, hat sich tief in sie hineingebohrt und trägt nun drei Fratzen und sechs riesige Flügel – den kalten Wind fächert, der ganz unten im Trichter des Infernos das Wasser gefrieren lässt.
Wer Olga Martynovas neuen Gedichtband Such nach dem Namen des Windes liest, kommt an der Divina Commedia nicht vorbei. Zum einen wird sie zitiert – „dass meine Seele, die du erweckt hast, dir noch lieb ist, wenn der Körper sie nicht mehr hält“, heißt es etwa im Gedicht „Trotz schlechter Verbindung sprechend“. Zum anderen pulst das zentrale Thema Dantes, die Suche nach der Geliebten im Totenreich, in Martynovas Gedichtsammlung. Ist doch ihr Lebensgefährte, der Dichter Oleg Jurjew, mit dem sie 1991 aus Russland nach Deutschland emigrierte, 2018 gestorben.
Martynova hat Jurjew zuletzt den Essayband, Gespräch über die Trauer gewidmet. In Such nach dem Namen des Windes konkretisiert sich ihre lyrische Suche im Versuch, weiter Zwiesprache zu halten: „Wind“ erscheint als die allgegenwärtige Metapher des Verlusts, und der Verlust ist enorm und nicht zu Ver-Begrifflichen. „Warum benennt man einen Wind / Chamsin, Scirocco, Košava/ Euroklydon?“, fragt Martynova. Auch in den freundlicheren Versionen von Wind – wenn er etwa Vogelgezwitscher herbeiträgt – bleibt das Harte, Willkürliche, Unbezähmbare der Natur ja doch bestehen. Es ist nicht mehr dasselbe wie zuvor:
Das Gezwitscher der Vögel kann genauso gut
eine Botschaft von dir sein.
Zwar unentziffert,
und deine Stimme klingt ungewöhnlich.
Aber immerhin
„Aber immerhin“ – so lakonisch, so wenig selbstmitleidig, und ja, die Resignation wird vom Humor hier und da sogar weggefegt. In einem anderen Text erscheint der Wind erst einmal übermütig, er stellt den Gartenstuhl kopfüber, lässt ein Dorf „schwimmen“, einen Hut „fliegen“ und treibt den Menschen „Windtränen“ in die Augen; auch hier ist alles nicht ganz, wie es zuerst scheint. Nur, wenn es nicht so gewaltig wäre, wäre es ein expressionistischer Witz.
Die nächste Strophe sortiert alles noch einmal neu: Der Vergleich, der alles noch einmal neu sortiert, erschwert und erheitert zugleich auf die unnachahmliche Martynova’sche Art:
Auch Tote sind nichts weiter als
ihre Namen und Folgen ihres Mutes
und ihrer Blödigkeit.
Außer Dante werden auch andere Fixsterne der europäischen und Weltliteratur zum Thema Trauer befragt. „Mich hat die Hoffnung verlassen/ dass ich dich je wiedersehe“, mit diesem Zitat von Eugenio Montale beginnt beispielsweise die mehrseitige Annäherung „La Speranza“.
Auch die jiddischen Lieder, bei Lesungen von Jurjew zur Gitarre gesungen, finden sich wieder. „Vu nemt men a bisele Glik“, fragt Martynova allerorts, findet es hier und da, und schenkt es als Leseglück weiter in diesem klugen, vielschichtigen, berührenden Lyrikband.
Ein Vogel zeigt sich immer wieder, als hopste er von Gedicht zu Gedicht und manchmal sogar von Zeile zu Zeile, es ist: die Elster. Ihre diebische Art wird niemals benannt, und doch gäbe es kaum eine sprechendere Metaphorik als diesen wie zufällig hier und dort auftauchenden, auch mal „wie ein Kolibri“ in der Luft anscheinend stehenbleibenden Vogel, der Glitzerndes und Leuchtendes sprichwörtlich stiehlt.
Typisch Martynova, die dies umdreht und die Elster etwas bringen lässt – eine nicht zu entziffernde Botschaft nämlich: „… als wäre es möglich, ihre Botschaft – wie eine Walnuss – zu knacken“, seufzt die Dichterin dann, und es ist schön, die Elster als heimliche Königin des Buches kennengelernt zu haben, eine absolut wirkmächtige Gestalt des Bandes, zu dem man Martynova nur gratulieren kann.
Er zeigt, bei aller Qual des Verlustes: Die Sprache ist den Menschen nicht zu nehmen, und Sprachvermögen ist es eben auch, das Sinn stiftet, vielfältigen und schillernden. „Das Ziel des Ganzen besteht darin, die Lebenden aus dem Zustand des Elends herauszuholen und sie zum Zustand des Glücks hinzuführen“, kommentierte Dante einst den Weg durch Höllenkreise, ins Inferno, über den Läuterungsberg und ins Paradies, den seine „Göttliche Komödie“ nimmt.
Martynovas Gedichtband funktioniert in diesem Sinne, bis er zuletzt mit einem poetologischen Text schließt. „Abschied vom Buch“ heißt das letzte Stück des Bandes, das ich hier an dieser Stelle zum Abschied von Martynova und als Artikelende verwende:
… ein Gedicht ist nie fertig,
wenn es zum endgültigen Text wird,
wird ein Falter, der eben noch flatterte
zu seinem eigenen Abbild,
einem Papierbeschwerer.
Beim Lesen lebt er wieder.
Nicht immer. Manchmal. Selten.
Such nach dem Namen des Windes. Gedichte von Olga Martynowa
– Olga Martynova ist eine russische Schriftstellerin. Sie schreibt Essays, Gedichte, Romane, Kritiken und übersetzt. Seit 1990 lebt die in Sibirien geborene und in Leningrad aufgewachsene Literatin in Deutschland. –
Für ihr künstlerisches Schaffen bekam Martynova u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Sie lebt in Frankfurt am Main und war mit dem Autor Oleg Jurjew verheiratet, der 2018 starb.
Nun wird Martynovas vielseitiges Schaffen durch einen neuen Gedichtband ergänzt. Such nach dem Namen des Windes unterteilt sich in Kapitel, die sich jeweils einem Thema nähern und es umkreisen.
Schon das erste Gedicht, welches das unsagbare Leid der Shoah thematisiert, hat es in sich. Basierend auf einem jiddischen Volkslied und einem Zitat Jean Amérys, schwillt es an wie ein mächtiges Hochwasser. Wie Regentropfen prasseln unermüdlich die abwesenden elementaren Bedürfnisse auf die Leserschaft ein. Ein mitreißendes Wehklage-Crescendo.
Wehs mir, vu nemt men
gelbe Birnen und wilde Suppe
a bisele Wasser
und der Schatten brüllt
In den weiteren Gedichten dieses Zyklus spürt Martynova dem untergegangen aschkenasischen Judentum vom Kaukasus bis nach Israel hinterher. Folgt Schlieren der Erinnerung, Spuren von Vergangenem in einer Gegenwart, die vollends in Beschlag nimmt. Natürlich geht es hier auch um die Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit des Menschen in einer brüchigen Zivilisation, die jederzeit von der Barbarei eingeholt werden kann. Dieses Unbehagen, diese glimmende Beklommenheit wissen zu fesseln.
Vergänglichkeit beschäftigt Olga Martynova und zieht sich thematisch durch viele ihrer Poeme. Vergänglichkeit in all ihren Formen und menschlichen Gefühlsreaktionen. Natürlich, gewaltsam. Schmerzhaft, apathisch, teilnahmslos, beobachtend. Martynova bedichtet hier Sein und Nichtsein, Blühendes, Verwelkendes, Vorübergehendes und Ewiges. Sie reist auf der Zeitachse hinauf und runter, dass es einen schwindeln kann. Ihre Gedanken und Verse durchqueren dabei mühelos Raum und Epochen. Martynova geht in Wien genauso selbstverständlich spazieren wie in der Antike. In der Welt und deren Büchern ist sie zuhause.
Die Gedichte atmen eine kosmopolitische, weltläufige Gedankenwelt, einen ausufernden intellektuellen Horizont bei einer zugleich knappen Ausdrucksform. Martynova tritt auch in Kommunikation mit verblichenen Weggefährtinnen und Weggefährten wie Elke Erb, Jelena Schwarz und allen voran ihrem verstorbenen Gatten Oleg Jurjew.
Herzzerreißend und anrührend sind dieses Begegnungen und reichen von nacktem rohen Schmerz bis zu sublimierter Verarbeitung von Trauerbewältigung und Trost.
Wir waren einander Mond und Sterne, Wein und Brot, Erde und Feuer, Wasser und Luft, Glatteis und Rad, Minuten und Zifferblatt, Regen und Wurm, Fliegen und Frösche, Bau-, Gold- und Jauchegruben, Funktürme und Turmfalken, Ekzem und Balsam, Krähe und Aug, Durst und Suff, U-Bahnen und Eselsbrücken. Es gebe all das nicht mehr, wollte ich sagen, aber alles ist komischerweise noch da, voneinander getrennt, doch ineinander verfangen (wie wir jetzt), todsicher beides.
Martynova sucht unermüdlich, klopft die Welt ab auf der Suche nach Überbleibseln, Abbildern, Wiedergängern und Reinkarnationen. Stellt existentielle Fragen nach dem was bleibt von einem Menschen. Neben dem persönlichen Leid hat Martynova auch ein Dichterinnnenherz für das kollektive Leid. Pogrome, Kriege. Die mutige russische Nachrichtensprecherin Marina Owsjennikowa inspirierte sie zu einem Text über den russischen Angriff auf die Ukraine. Das Thema überführt sie in einen ebenso grotesken wie fantasievollen Theaterdialog.
Olga Martynova ist eine überaus belesene Literatin. Ihre schriftstellerischen Vorbilder und Einflüsse sind hier wie Freunde, zu denen sie in ihren Gedichten spricht. Die Verse ihres neuen Gedichtbands sind so häufig Repliken, Fortführungen oder Zwiegespräche mit Pushkin, Montale, Mandelstam oder Dante. So entstehen anspielungsreiche Beziehungsgeflechte und Referenzsysteme. Stilistisch operiert Martynova mit dem Einsatz einer Vielzahl verschiedener Mittel. Es finden sich diverse Wortschöpfungen und originelle grafische Einfälle. Ihr Stil ist sperrig und kantig, unorthodox. Sorgsam komponiert und arrangiert, opak, hermeneutisch, teilweise fast abstrakt. Martynova liebt auch das Spiel mit Verschiebungen von Proportionen. Gerne stellt sie Gegensätze in unerwartete Beziehung zueinander: Große Wörter versus kleine Gesten, pathetisch versus lapidar, fantastisch, mythologisch versus real und banal – und erzielt durch dieses kontrollierte Aufeinanderprallen verblüffende Effekte:
Wieder war die Elster da: die Schwarz-Weiß-Grenze im Flug, es gibt und es gibt nicht(s) zugleich. Wenn sie mit Geschenken hierherkommt, ist es, als wäre es möglich, ihre Botschaft – wie sie eine Walnuss – zu knacken. Lach nicht, ich weiß, dass das Quatsch ist. (Botschaften von hinter-der-Elstergrenze sind unwahrnehmbar wie das Entsetzen einer Walnuss.) Elster, fragte ich sie, habt ihr Wi-Fi dort? Sie sagte mit Novalis: „Laßt die Libellen ziehn.“
Akademikerinnen, Akademiker und Hobbygelehrte werden ihre Freude an diese eklektischen literarischen Regenbogen haben.
Laien und Nichteingeweihte regt der Gedichtband indes eher zum Grübeln an, als dass er einen unmittelbar sinnlichen Genuss darstellt. Such nach dem Namen des Windes ist sicher nicht jedermanns Sache. Man muss sich darauf einlassen – wach, geduldig, ohne Erwartungen. Sich neugierig von der Autorin bei der Hand nehmen und hinfort tragen lassen. Sich verlieren können in diesen bedeutungsschweren Satz- und Sinnlabyrinthen. Die Erweiterung des eigenen Bewusstseins ist selten so günstig und gesund zu haben.
Björn Hayer: „Such nach dem Namen des Windes“: Olga Martynova findet den toten Gefährten in allen Ding
Berliner Zeitung, 12.5.2024
Christian Metz: Zwei Mondflecken ohne Ahnung vom Tod
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.7.2024
Leopold Federmair: Was die Elster sagt
poesiegalerie.at, 15.4.2024
Thorsten Paprotny: Traurigkeit und Wehmut
rezensionen.ch, 9.4.2024
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Such nach dem Namen des Windes. Lesung von Olga Martynova am 19.4.2024 im Literarischen Colloquium Berlin. Gesprächspartner: Steffen Popp
Olga Martynova – Dichter im Porträt.
Schreibe einen Kommentar