– Zu Paul Celans Gedicht „Es war Erde in ihnen“ aus Paul Celan: Die Niemandsrose. –
PAUL CELAN
ES WAR ERDE IN IHNEN, und
sie gruben.
Sie gruben und gruben, so ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wußte.
Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.
Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: Sie graben.
O einer, o keiner, o niemand, o du:
wohin gings, da’s nirgendhin ging?
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.
Das Auftaktgedicht der Niemandsrose (GW Bd. I, S. 211)1 erinnert an die verzweifelte Situation derer, die graben mussten und in den selbst geschaufelten Gräbern verscharrt wurden. Es spricht zugleich von der ausweglosen Situation derer, die überlebt haben und das, was geschah, nicht vergessen können: auch sie sind Grabende. Das Motiv des Grabens in „Es war Erde in ihnen“ bezeichnet also sowohl einen äußeren Vorgang als auch einen inneren Prozess. Auf die physische Dimension des Grabens hatte schon die „Todesfuge“2 angespielt:
Ein Mann wohnt im Haus […]
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
[…]
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Neben der historischen Referenz gibt es in „Es war Erde in ihnen“ noch eine zweite, die man die anamnetische nennen könnte. Der Vorgang des Erinnerns wird nämlich selbst als ein Graben beschrieben, wie der plötzliche Wechsel von erinnerndem Rückblick („sie gruben“) zu präsentischem Vollzug („ich grabe, du gräbst“) bezeugt. Im Erinnerungsprozess wird analog zur Arbeit der Grabenden die Oberfläche der Gegenwart immer wieder neu durchbrochen, um die Tiefenschichten der Vergangenheit freizulegen, ähnlich der Psychoanalyse,3 die lebengeschichtlich verschüttete Traumata zu Tage fördern und durcharbeiten will.4 Walter Benjamin hat diesen Zusammenhang in seiner Berliner Chronik einmal so pointiert beschrieben, als hätte er Celans Gedicht bereits gekannt:
Die Sprache hat es unmissverständlich gedeutet, dass das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten, wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.5
In Celans Gedicht setzt sich der Schrecken des Geschehenen im Geschehen des Eingedenkens selbst fort: In gewisser Weise trägt die Erinnerung die gleichen Züge wie das Erinnerte. Sie wird zur unausweichlichen Qual. Was in dieser Erinnerungsarbeit zutage tritt, stellt auch die theologische Überlieferung in Frage. Wie lässt sich angesichts des Erlittenen von Gott reden? An die Überlieferung der Psalmen lässt sich nicht ungebrochen mehr anschließen.
Schon mit dem Titel geht das Gedicht hinter die Gegenwart zurück und hebt etwas Vergangenes ins Bewusstsein; es beginnt: Es war (!) Erde in ihnen. Das aber sagt zunächst nichts anderes, als dass in den Grabenden, von denen nicht näher gesagt wird, wer sie waren, Erde lokalisiert wird. Streng genommen wird nicht einmal gesagt, dass hier von Menschen die Rede ist, und diese Aussparung einer näheren Bestimmung könnte darauf hinweisen, dass hier bestimmte Menschen gemeint sind: Menschen, die als solche nicht nur nicht wahrgenommen wurden, sondern denen auch ihre Würde abgesprochen wurde, weil sie den Kriterien nicht entsprachen, die andere aufstellten, als sie lebenswertes von lebensunwertem Leben unterschieden und Namen in Nummern überführten.
Mit dem Motiv der Erde, das im Gedicht nur hier genannt wird, ist zugleich an die Erschaffung des Menschen erinnert, denn Erde6 ist der biblischen Schöpfungsgeschichte zufolge – Celan wird in der Niemandsrose wiederholt Bezug darauf nehmen7 – das Element, aus dem der Mensch geschaffen wurde. Dort heißt es, dass Adam (der Mensch) aus Adama (Ackererde) geformt wurde:
Und Gott, der Herr, machte den Menschen aus einem Erdenkloß und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. (Gen 2,7)
Das Gedicht greift diese Aussage auf und deformiert sie. Nicht: sie sind aus Erde, sondern: Erde ist in ihnen, das Element also, aus dem sie nicht nur hervorgegangen sind, sondern zu dem sie auch und vor allem zurückkehren.
Denn Erde bist du, zur Erde musst du zurück. (Gen 3,17–19)
Damit ist das Motiv des kommenden Todes als Signatur ihres Daseins benannt und zugleich an ihre ausweglose Situation erinnert, sich abmühen zu müssen, um leben zu dürfen, ohne dem Leben langfristig eine Perspektive geben zu können, die sich dem alles einebnenden Faktum des Todes entzöge.
aaaaa[…], und
sie gruben.
Jene, von denen wir nichts wissen, außer dass Erde in ihnen war, werden als solche näher bestimmt, die gruben.8 Wonach sie gruben und wozu, wird nicht gesagt; auch wird die Frage nicht aufgeworfen, ob sie graben mussten, um überleben zu können. Die biographische Auskunft, dass Paul Celan, darüber befragt, was er im rumänischen Arbeitslager habe machen müssen, immer nur lakonisch antwortete: „Schaufeln!“, ist hilfreich für das Verständnis des Gedichthintergrundes.9 Das Grabenmüssen ist in das Gedächtnis seines Geistes und seines Körpers übergegangen, die monotone Rhythmik des Vorgangs, die Schwielen an den Händen, die Schmerzen im Rücken, die Erschöpfung. Etwas Äußeres hat sich unauslöschlich ins Innere eingeschrieben. „Körperschriften entstehen“, notiert Aleida Assmann, „durch lange Gewöhnung, durch unbewusste Einlagerung und unter dem Druck von Gewalt. […] Was dort im Innersten aufgeschrieben ist, gilt als unlöschbar, weil es unveräußerlich ist.“10 Celans Gedicht aber provoziert zunächst die Frage, ob es die „Erde in ihnen“ ist, in der sie gruben. Wird das Graben, ein äußerer Vorgang, nach innen verlagert, und artikuliert sich in dieser Verlagerung die Übersetzung einer physischen Erfahrung ins Geistige? Zum Konnotationsfeld von „graben“ gehören die Wörter „Grab“ und „Begräbnis“ – Bedeutungsnuancen, die einen Schatten vorauswerfen auf die Ausweglosigkeit, die in den folgenden Zeilen des Gedichts beschworen wird, und darüber hinaus die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wachrufen, die vor Massenerschießungen die Opfer selbst ihre Gräber schaufeln ließen. Zugleich erinnert die Vergangenheitsform „gruben“ nicht nur an „Grube“, sondern auch an „grübeln“, – eine Assoziation, die sich sprachgeschichtlich untermauern lässt: „grübeln“ leitet sich her vom althochdeutschen Verb „grubilon“, was so viel heißt wie „(wiederholt) graben“.11 Bezeichnet die „Erde in ihnen“ die tödliche Lage und das Graben die bohrende Auseinandersetzung mit ihrer ausweglosen Situation?
Sie gruben und gruben. So ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht.
Die ausweglose Situation des Grabens wird hier festgeschrieben, und der anamnetische Mitvollzug bestimmt die Sprechweise derart, dass es zu einer Annäherung der Erinnerung an das Erinnerte kommt: die sprachliche Gestaltung bildet gleichsam die Monotonie des Grabens im Text ab, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die insistierenden Wiederholungen12 die Gleichförmigkeit des physischen Vorgangs imitieren: Tag und Nacht Graben, das überschreitet auf Dauer die Grenzen des physisch wie psychisch Möglichen. Gerade angesichts dieser Grenzsituation aber bricht die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit auf: Sollte „Gott“ die Instanz sein, die will und weiß, dass Menschen Tag und Nacht graben und darüber zu Tode kommen? Eine Instanz, die intervenieren könnte, wenn sie nur wollte? Das Gedicht verweigert die Auskunft, ja stellt nicht einmal ausdrücklich die Fragen; denn die Frage, warum gegraben wird, wonach und für wen, wird ausgespart, trotzdem sei sie als ausgesparte mitgelesen, um den möglicherweise in die Leerstellen13 eingegangenen Protest gegen die kommentarlos registrierte Monotonie des Grabens nicht unkommentiert zu übergehen. Zwischen den Zeilen wird gegen das opponiert, was in sie eingeht – als würde eine explizite Artikulation des Widerstandes von vornherein das Intendierte verfehlen.14 Dass aber in der Erfahrung dieser Grenzsituation die überkommene Rede von Gott ohne Resonanz bleibt, wird deutlich, wenn es im Folgenden „mit deutlich antithetischem Bezug auf das Alte Testament“15 heißt:
aaaaaUnd sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte
der, so hörten sie, alles dies wußte.
Unter derart extremen Umständen kommt es zum Abbruch des Gesprächs mit Gott. Gott nicht loben heißt, entweder überhaupt keinen Bezug zu ihm haben oder keinen Anlass mehr sehen, sich in Bezug zu setzen; denn Loben setzt eine – wie auch immer – positive Erfahrung als Anlass voraus. Dass dort, wo Tag und Nacht gegraben wird, auch dem, der einen Bezug zu Gott hat, die positive Erfahrung fehlt, die sein Lob veranlassen könnte, ist mehr als verständlich. Wie Psalm 137 bezeugt, ist es schon im babylonischen Exil dazu gekommen, dass das versprengte Israel das Gotteslob verweigert hat:
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem Heulen fröhlich sein: Singet uns ein Lied von Zion! Wie sollten wir des Herrn Lied singen in fremden Landen? […] Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben. (Ps 137, 1–6)
Möglicherweise folgt Celan dieser „Verweigerung des Zions- und Gottes-Lobs als Form der Treue im Babylonischen Exil, das für ihn bis in unsere Zeit kein Ende gefunden hat und das von ihm in die Nähe des unterirdischen Totenreichs, der ,Grube der Vernichtung‘ (Jes 38, 17f.), gerückt wird, wenn er das Gedicht „Hinausgekrönt“ mit den Worten schließt: ,und wir schicken / keinen der Unsern hinunter / zu dir / Babel (GW Bd. I, S. 271).“16 Möglicherweise aber ist Gott auch selbst der Anlass für das Verstummen des Lobs; immerhin heißt es von ihm, dass er „alles dies wollte“ und „alles dies wusste“.17 Angesichts der faktischen Situation des Grabens verdunkelt sich die Vorstellung von einem allmächtigen, allwissenden und gütigen Gott. Die Erfahrung von Leid nagt an den Traditionen der Gottesrede: Wenn Gott allmächtig ist, ist er dann nicht auch mitverantwortlich für das Geschick derer, die sinnlos leiden? Und wenn er mitverantwortlich ist, wie ist dann, wenn man den Vorwurf des Gedichts aufnimmt, die Vorstellung von seiner Güte zu retten?
Es darf hier allerdings nicht übersehen werden, dass die Diktion durch den doppelten Einschub: „so hörten sie“ unterbrochen wird. Ob „Gott“18 tatsächlich „alles dies wollte“ und „wusste“, bleibt unbestimmt; denn die Tatsache, dass sie davon hörten, verbürgt nicht, dass das Gehörte auch tatsächlich zutrifft. Die theologische Tradition, die Gott die Attribute der Allmacht und Allwissenheit zuschreibt, wird lediglich als Gerücht zitiert. Von einer Aneignung oder entschiedenen Ablehnung ist nicht die Rede. Gerade die Indifferenz, mit der auf die Auskunft von der Allmacht Gottes reagiert wird, zeigt aber, dass hier Unvereinbares aufeinanderprallt. Ein solcher Gott, der „alles dies“ will, scheint mit dem Erfahrungshorizont der Grabenden nicht mehr übereinzustimmen.19 Was aber ist „alles dies“? Wer „alles dies“ sagt, sagt nichts Bestimmtes, bringt möglicherweise zum Ausdruck, dass die Wirklichkeit, in der er steht, ihn überfordert und ihm unbestimmt bleibt. „Alles dies“ kann als Nullpunkt konkreter Bestimmung gelesen werden, obwohl gerade das „dies“ rückverweist auf die Ausweglosigkeit des Grabens.
„Alles dies“ könnte in seiner Unbestimmtheit eine präzise Bestimmung von Unbestimmbarem sein, fassungsloser Ausdruck einer unfassbaren Situation, die mit der traditionellen Vorstellung von Gott nicht mehr zu fassen ist und diese von Grund auf erschüttert. Kann es sein, dass Gott „alles dies“ initiiert und so den Menschen wissentlich und willentlich in eine Lage gebracht hat, in der dieser nur verstummen kann? Kann es sein, dass Gott den Dialog mit den Menschen von sich her aufgekündigt hat, obwohl er weiß, dass er gerade in Situationen der Ausweglosigkeit der privilegierte Gesprächspartner wäre?
Dass aber Gott den Dialog mit den Menschen von sich her aufgekündigt hätte, ist dem Gedicht nicht direkt zu entnehmen.20 Vielleicht sogar verhält es sich umgekehrt, und die Menschen lobten Gott nicht, obwohl sie es gekonnt hätten. Vielleicht ist die ausweglose Situation des Grabens keineswegs gottgewollt, sondern durch Menschen verschuldet, so dass die Verweigerung des Lobs nur der Reflex eines überkommenen Vorurteils wäre, das die Gottgewolltheit dessen, was ist, fälschlicherweise behauptet. Die Frage der Theodizee würde ihren Schwerpunkt auf die der Anthopodizee verlagern. Dass Gott alles dies faktisch gewusst und gewollt hat, ist dem Gedicht zufolge keineswegs sicher.
Sie gruben und hörten nichts mehr;
Hier wird der völlige Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit registriert. Dass Gott „alles dies wollte“ und „wusste“, das hörten sie noch; danach hörten sie „nichts mehr“, Entweder sie graben (sich) immer tiefer (in sich hinein), bis sie unerreichbar werden und überhaupt nichts mehr hören, oder es ist de facto nichts mehr zu hören. Wenn „alles dies“ die ausweglose Situation permanenten Grabens meint – und das Pronomen „dies“ scheint einen solchen Rückverweis nahezulegen –, dann ist Gott selbst, wenn er, was keineswegs ausgemacht ist, tatsächlich „alles dies“ nicht nur gewusst, sondern auch noch gewollt hat, aus der Perspektive der Grabenden nicht mehr zu loben. Sollte er die Instanz sein, in deren Namen gegraben wird, so gäbe das in der Tat Anlass zur Absage an theologische Vorstellungen, die Gott die Attribute der Allmacht und Allwissenheit zuschreiben, ohne diese Rede mit dem Erfahrungshorizont der Opfer zu konfrontieren und die Frage nach Gottes Mitverantwortung für das Übel in der Welt auch nur zuzulassen.
Sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Nach dem Abbruch der Kommunikation mit Gott bleibt den Grabenden nur noch die Sprachlosigkeit. Ratlos und stumm verharren sie in ihrer Lage, ohne dass ihnen ihre Situation durch irgendwelche Erklärungsmuster verstehbar gemacht werden könnte. Ob hier eine direkte Absage an die biblische Weisheitsliteratur und deren Erschließung durch die rabbinische Theologie mitgehört werden muss, die Leidenssituationen als Strafe für begangene Sünden, als Prüfung der Treue im Glauben oder Erziehung durch Gott verständlich zu machen suchte, bleibt offen. Sicher ist lediglich, dass die Erfahrung dem Denken ebenso inkommensurabel ist, wie sie sich dem Ausdruck im Lied versperrt. Sie verschlägt die Sprache, während doch die Existenz des Gedichts vom Gegenteil Zeugnis ablegt – eine der vielen Paradoxien, die für Celans Poetik zentral sind.21 So zeigt sich in den drei Negationen der radikalisierte Erfahrungshorizont derer, die durch Leiden auf sich selbst zurückgeworfen sind. „Weisheit“, „Lied“ und „Sprache“ – konstitutive Bestandteile menschlicher Kultur – können unter solchen Umständen nicht mehr zur Ausbildung gelangen. Von daher drängt sich die Frage auf, ob in dem Grenzbegriff „alles dies“ eine andauernde Erfahrung ihren Niederschlag findet, der für die Betroffenen gleichsam den Status einer Gegenoffenbarung erhält.22 Dann entspräche die Unbestimmtheit der Sprache der Unbestimmbarkeit dessen, was geschah, und das Reden in Leerformen23 wäre die sprachliche Reaktion, die allein dem Anspruch des Unbestimmbaren gerecht würde; dann markierte das namenlose Geschehen, das in dem Grenzbegriff „alles dies“ durchscheint, tatsächlich so etwas wie eine Grenze: Dem Ausweglosen einen Namen zu geben, es zu integrieren in ein theologisches oder philosophisches System („Weisheit“) oder thematisch zu machen in der Kunst („Lied“) oder überhaupt nur davon zu sprechen („Sprache“), das hieße es verharmlosen.
Sie gruben.
So endet lakonisch und auf eine Zeile verdichtet die Strophe und kehrt damit beinahe ringförmig zum Ausgangspunkt zurück: „sie gruben“ – das ist nicht nur das fünffach wiederholte Leitmotiv der ersten drei Strophen, sondern auch das unausweichliche Resultat einer Dynamik, die als fortschreitende Reduktion auf die bloße Tätigkeit des Grabens zu kennzeichnen ist.
Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Hier vollzieht sich ein Neueinsatz, der zum zweiten Abschnitt des Gedichts überleitet.24 Die Dazwischenkunft dreier Ereignisse wird erinnert,25 ohne dass gesagt würde, woher und durch wen dieses unerwartete Kommen aktiviert wird, wohin es führt und was seine Absicht ist; dass durch die unpersönlich neutrale Redeweise der Initiator verschwiegen wird, erinnert an die literarische Technik biblischer Autoren, durch die Wahl des Passivs Gott als den Urheber von Ereignissen nur indirekt kenntlich zu machen (passivum divinum). „Stille“, „Sturm“ und „Meere“ – es scheint, als würde der poetische Gehalt dieser Wörter bewusst überhört, als bestimme das Nicht-mehr-Hören der Grabenden den Sprachduktus des Gedichts selbst. Warum? Die Stille kehrte nicht ein, sie wird auch nicht näher bestimmt als das bedrohliche Schweigen vor der Katastrophe: „sie kam“; der Sturm brach nicht los, tobte und wütete nicht: „er kam“; die Meere traten nicht über die Ufer, überschwemmten kein Land: „sie kamen“. Trotz der Steigerung von „Stille“ über „Sturm“ hin zu den „Meeren alle“ – der Plural des an sich schon allumfassenden Worts „Meer“ mit dem totalisierenden Element „alle“ erreicht einen sprachlich kaum überbietbaren Höhepunkt – wird auf eine poetische Ausgestaltung verzichtet. Stattdessen werden Wörter, die dem angestammten Arsenal der Lyriktradition zugehören, geradezu in der Manier eines Kinderverses herbeizitiert. Trotz einer klar erkennbaren Steigerung ist unter keiner dieser Gestalten „Gott“ anwesend: eine Theophanie wie die des Propheten Elia am Horeb bleibt aus.26 Dafür setzt eine neue Dynamik ein:
Ich grabe, du gräbst und es gräbt auch der Wurm,
Die Neuheit dessen, was hier geschieht, wird ablesbar am plötzlichen Tempuswechsel und der überraschenden Wendung vom Kollektiv-Subjekt „sie“ ins dialogisch-pronominale „ich-du“, Ein Ich (er-)findet Sprache und spricht ein Du an, erkennt sich selbst und den anderen (die andere?) in einem Zustand, in dem auch die getretene Kreatur – ,der Wurm‘ – gräbt. In Psalm 22 klagt der Beter:
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volkes. (Ps 22,6)
Im Buch Hiob wird die conditio humana ähnlich beschrieben, wenn vom Menschen als „Made“ und vom Menschenkind als „Wurm“ die Rede ist (Hiob 25,6 und 21,26; Jes 41,14). Eindringlich ist die Klage:
Wenn ich gleich lange harre, so ist doch bei den Toten mein Haus, und in der Finsternis ist mein Bett gemacht; die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester. (Hiob 17,13f.).27
Wer aber sind „ich“ und „du“ in „Es war Erde in ihnen“?
– Die Überlebenden, die sich erinnern und denen die Last der Erinnerung das Leben abgräbt?
– Die Toten, die gegraben haben und in deren Namen das Gedicht jetzt stellvertretend zu sprechen beginnt?
– Ein menschliches Ich im Dialog mit einem anderen, möglicherweise ganz anderen, göttlichen Du?
– Oder spricht der Dichter mit seinem Leser oder seiner Leserin?
Auf jeder dieser Ebenen ist das Gedicht lesbar. Die Frage nach der Identität von ,Ich‘ und ,DU‘ bei Celan ist vielschichtig.28 Hier möchte ich die erste Leseebene weiterverfolgen und davon ausgehen, dass sich die Erinnerung an die, die faktisch gegraben haben, in den Erinnernden selbst als Graben fortsetzt. Schon im Sprachmaterial wird durch das Durchkonjugieren (sich grabe, du gräbst, es gräbt…“) die unaufhörliche Dynamik des anamnetischen Prozesses als Graben kenntlich gemacht. Die Semantik des Verbs gräbt sich geradezu in das Gedicht ein. Zugleich möchte ich nicht von vornherein ausschließen, dass hier ein anderes, möglicherweise ganz anderes göttliches Du ins Spiel kommt, selbst wenn diese Annahme auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag.
Und das Singende dort sagt: sie graben.
Dem Hier, wo gegraben und nicht gesungen wird, kontrastiert ein „Dort“, wo gesungen und nicht gegraben wird. Der Abstand aber wird nicht nur in räumlichen Kategorien festgehalten, sondern schlägt sich auch im Sprechverhalten nieder. Das sprechende „Ich“ (vgl. „Ich grabe, du gräbst…“) spricht „von dem Singenden dort“ und unterstreicht durch die unpersönliche Ausdrucksweise (Neutrum) den Abstand; genauso bringt „das Singende“ dadurch, dass es lediglich sachlich konstatiert: „sie graben“ (3. Person), Distanz zum Ausdruck. Keine Rede davon, dass das Singende, obwohl es doch die Grabenden als Grabende erkennt, etwas gegen deren ausweglose Situation unternähme. Könnte es sein, dass sich in dem unpersönlichen Kollektivausdruck „das Singende dort“ die irritationsresistente Unmenschlichkeit derer spiegelt, die, obwohl sie etwas hätten tun können, nicht nur nichts getan haben, sondern auch so weiterlebten, als sei nichts geschehen?29 Dann wäre hier von denen die Rede, die ungetrübt weiter dem gesellschaftlichen Singsang huldigen, anstatt sich mit denen zu solidarisieren, die unter der Last der Erinnerung beinahe zerbrechen.
Doch das Singende sagt etwas, d.h. es unterbricht seinen Gesang, und diese Transformation des Gesangs in nüchternes Sprechen könnte Ausdruck einer keineswegs apathischen Reaktion auf den Zustand der Grabenden sein. Wäre es möglich, dass sich in der Unterbrechung des Gesangs eine Erschütterung artikuliert, die aus der resignativen Einsicht erwächst, dass die, die da graben, unerreichbar sind? Oder könnte ,das Singende dort‘ auf Gott verweisen, der im Zyklus der Niemandsrose nur zwei Gedichte später in „Bei Wein und Verlorenheit“ ausdrücklich als singend bezeichnet wird:
Ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang
… (GW Bd. I, S. 213).
Die Frage nach der Identität des „Singenden dort“ ist eindeutig nicht zu klären. Sicher ist nur, dass hier das aus der Anonymität erwachende Ich wahrnimmt, dass es wahrgenommen wird, und zwar nicht isoliert, sondern zusammen mit einem Du, das ebenfalls gräbt. Dieses Ich nimmt nun seinerseits das Du wahr und verschafft sich Ausdruck in emphatischer Anrede:30
O einer, o keiner, o niemand, o du:
wohin gings, das nirgendhin ging?
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.
Die vierfache Wiederholung des odischen „O“ erzeugt höchste Emphase. Dem kontrastiert die Unbestimmtheit derer, denen die Emphase gilt: Die Adressaten des Anrufs (oder sollte sich hinter den vier Varianten nur ein Adressat verbergen?) wechseln nicht nur, sondern heben sich sogar gegenseitig auf. ,Einer‘ (positiv) / ,keiner‘ (negativ) und ,niemand‘ (negativ) / ,du‘ (positiv) bilden zwei Gegensatzpaare in chiastischer Stellung. Das ,DU‘, in dessen Anruf die Sequenz gipfelt, unterscheidet sich allerdings grundlegend von den indefiniten Adressaten ,einer‘, ,keiner‘ und ,niemand‘; mit ihm vollzieht der Anruf eine Wendung ins Personale und präfiguriert bereits die paradoxe Sprechweise des „Psalm“, in dem es heißt:
Gelobt seist du, Niemand (GW Bd. I, S. 225).
Die innovative Substituierung Gottes durch Niemand, auf die in der Interpretation des Psalms zurückzukommen sein wird, verweist auf die Schwierigkeit, angesichts eines radikalisierten Erfahrungshorizontes erneut das Gespräch mit Gott aufzunehmen. Wer so widersprüchliche, sich geradezu ausschließende Adressaten anruft, hegt Zweifel an der Erreichbarkeit dessen, den er anruft. Doch findet er Orientierung im Du, das er anspricht und fragt:
Wohin gings, da’s nirgendhin ging?
Wohin? Die Frage nach Richtung und Halt, die hier rückblickend gestellt wird, ist als solche schon Indikator eines Orientierungsverlustes. Als Frage aber vermag sie neu Orientierung zu stiften, und sei es, dass sie nur erst die Erkenntnis von gegebener Orientierungslosigkeit artikuliert, die es zu ändern gilt. Der Tempuswechsel in die Zeitstufe der Rückschau (wohin gings?) markiert die aufklärerische Funktion dieser Frage, und wo lange Zeit die Erfahrung des Richtungslosen dominierte – das paradoxe Kompositum „nirgend-hin“ meint die Negation von Richtung überhaupt –, verschärft sich die Dringlichkeit einer solchen Situationsvergewisserung. In einer Situation, in der feststeht, dass es „nirgendhin ging“, zu fragen: „wohin gings?“, heißt eine Differenz zum Faktischen herzustellen, selbst wenn diese Differenz angesichts der Unabänderlichkeit des Faktischen zunächst nur rhetorisch bleibt: es hätte irgendwohin gehen können, aber es ging nirgendwohin; die Frage hebt sich paradoxerweise selbst auf, weil das, wonach sie fragt, bereits als Antwort in ihr enthalten ist. Aber jetzt kann es irgendwohin gehen, denn gerade im Bewusstwerden dieser lange währenden Richtungslosigkeit scheint eine neue Möglichkeit von Ausrichtung auf:31
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu.
Das „o du“ der ersten Zeile wird hier wieder aufgegriffen (die indefiniten Adressaten werden eliminiert). Ohne dass die Situation des Grabens übersprungen würde, bahnt sich zwischen dem Ich, das hier spricht, und dem Du, das es anspricht, eine Begegnung an.32 Die Ausrichtung des Ich auf ein Du, dem es sich aller Richtungslosigkeit zum Trotz zugräbt, – das ist das unerwartet Neue, das in dieser Zeile durchbricht und sich stilistisch in dem Chiasmus niederschlägt, mit der diese Zeile an das „Ich grabe, du gräbst…“ der vorherigen Strophe anknüpft und so in neuem Richtungnehmen gewissermaßen die einstige Richtungslosigkeit durchkreuzt. Das Gedicht endet:
und am Finger erwacht uns der Ring.
Ich und Du verschmelzen im Wir (bzw. „uns“) und realisieren dadurch die Konjugation im wörtlichen Sinne (lat. coniugatio bedeutet: Verknüpfung, Zusammenfügung, Verehelichung), oder genauer: die Vereinigung realisiert sich an ihnen, denn sie sind, grammatisch betrachtet, nicht die Initiatoren des Geschehens. Der Ring – bisher „schlummernde“ Möglichkeit – erwacht (!) und er dürfte ebenso als Bundeszeichen wie als Symbol der Unausweichlichkeit im Sinne einer monotonen Wiederkehr des Gleichen zu verstehen sein. Was aber wäre das im Ring eingravierte Datum (von dem im Gedicht nicht die Rede ist, aber das Gedicht ist nach Celan „eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration“)?33 Im Vollzug des Grabens, der hier als Prozess der Erinnerung gedeutet wird, treffen sich Ich und Du, und diese unverhoffte Begegnung ergibt sich aus dem gemeinsamen Eingedenken eines Datums, das nicht näher genannt wird: ein Bund zwischen Mensch und Mensch (oder zwischen Gott und Mensch), der in gemeinsamer Solidarität mit den Opfern der Geschichte zustande kommt? Wenn die Situation des Grabens das anamnetische Wachhalten des Geschehenen meint und sich die Vereinigung von „ich“ und „du“ vollzieht, ohne dass diese Situation des Grabens übersprungen wird, dann könnte die Gemeinsamkeit zwischen „ich“ und „du“ darin bestehen, dass sich ihnen das Schicksal der NS-Opfer ins Gedächtnis eingegraben hat. Das bedeutet: wenn das „du“ in „Es war Erde in ihnen“ auch als „Du“ Gottes lesbar ist, dann ist Gott nicht apathisch, sondern vom Leid der Opfer betroffen, dann besteht weiter die Communio zwischen „ich“ und „du“ darin, dass sie beide das Schicksal derer, die faktisch gegraben haben und in ihren Gräbern beerdigt wurden, anamnetisch präsent halten. Das gemeinsame Andenken an das Schicksal der Opfer, das in den ersten beiden Strophen eindringlich vergegenwärtigt wurde, stiftet einen neuen Bund, der in der Rede vom Ring angedeutet wird. Der Tod der Opfer jedoch könnte die in der lockeren Präsentation mitrepräsentierte Unsagbarkeit sein, so dass die Skepsis an der unvermuteten Wendung ins Positive darin ihre Berechtigung hätte, dass dieser Bund noch einmal unter dem Vorzeichen der Negativität des Geschehenen steht.
Das Gedicht verwahrt sich gegen eine restlose Überführung in nicht-dichterische Sprache; gerade in dieser Weigerung aber bleibt es der ausweglosen Situation treu, die es beschwört. Denn die Spannung zwischen der faktisch unausweichlichen Monotonie des Grabens einerseits und der Frage nach deren Sinn und Berechtigung andererseits wird nicht aufgelöst zugunsten einer Antwort, die den Status von Eindeutigkeit beanspruchen könnte. Die Unausdeutbarkeit aber kann gedeutet werden als Reflex einer unausdeutbar gewordenen Welt, und eine Interpretation, die über das vorsichtig ausdeutende Vielleicht nicht hinauskommt, vollzieht nur nach, dass die Sprache „keine Worte hergab für das, was geschah“.34
Abschließend wende ich mich der Frage zu, wie in „Es war Erde in ihnen“ von Gott die Rede ist.
Zunächst fällt auf, dass das Gedicht das Wort ,Gott‘ nicht ausspart. Während es an die Grenzsituation permanenten Grabens erinnert und dabei auf Stilmittel der Psalmen zurückgreift (vgl. die häufigen Parallelismen und Wiederholungen), spricht es in seiner dialogischen Konstellation zugleich von Gott; das ist nicht zufällig, bringt doch das Wort ,Gott‘ implizit die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit zur Präsenz – eine Frage, die gerade angesichts bedrückender Sinnlosigkeitserfahrung aufbricht.
Des weiteren ist von Gott nur indirekt über das Hörensagen die Rede (vgl. den doppelten Einschub: „so hörten sie“). Dadurch bleibt in der Schwebe, ob er tatsächlich existiert oder nicht, ob er tatsächlich „alles dies will und weiß“ oder nicht; auch bleibt unklar, ob diese Tradition von ihren Hörern angenommen oder abgelehnt wird, allerdings wird in dem „so hörten sie“ die Distanz deutlich gemacht. Die theologische Überlieferung ist nur noch im Modus des Zitats anwesend, einmontiert in die Schilderung der Lebensumstände derer, die Tag und Nacht graben; ob ihre Aussagen zutreffen oder nicht, ob sie Erklärungskraft besitzen oder nicht, wird offengelassen. Diese Schwebe scheint kalkuliert, als könne gerade die Unentschiedenheit, die das Gedicht gegenüber der Tradition einnimmt, gedeutet werden als Indiz für die Unentscheidbarkeit ihrer Wahrheit selbst. Diese Technik Celans, eindeutige Festlegungen zu vermeiden, schafft andererseits erst den Spielraum, in dem sich die „Unmöglichkeit“ einer Begegnung mit dem ganz Anderen anbahnen kann.
Darüber hinaus ist die Aneignung der religiösen Tradition in „Es war Erde in ihnen“ nicht mehr selbstverständlich. Die tradierten Vorstellungen von Gott – und das wäre als weitere Beobachtung festzuhalten – stehen in einer fundamentalen Spannung zu der Wirklichkeitserfahrung, wie sie das Gedicht in der Monotonie des Grabens zum Ausdruck bringt. „Alles dies“ – fassungsloser Ausdruck einer unfassbaren Situation – scheint mit den klassischen Attributen Gottes, der Allwissenheit und Allmacht, wie sie in den Psalmen vorausgesetzt werden, nicht mehr vereinbar. Angesichts von Fragen, die sich gewaltig verschoben und radikalisiert haben, scheint das überkommene Arsenal von Antworten zu versagen.
Von daher nimmt es schließlich nicht wunder, dass die Grabenden sich diesem Gott gegenüber in ein negatives Verhältnis setzen: sie loben Gott nicht. Das Gedicht sagt nicht, dass Gott, sondern dass die Kommunikation mit Gott tot ist. Dass die konkrete Leidenserfahrung der Grabenden so beziehungslos neben der Überlieferung von Gottes Allmacht und Allwissenheit steht, macht es wahrscheinlich, den Grund für den Kommunikationsabbruch in den Lebensbedingungen anzusetzen: das permanente Graben erstickt das Lob. Doch der Neueinsatz des Gedichts zeigt, dass sich gerade im unbedingten Festhalten an der Aussichtslosigkeit des Grabens das ereignen kann, was eigentlich unmöglich ist: die unverhoffte Begegnung mit einem Du.
Neben der poetisch gebrochenen Rede von und über Gott gibt es in den Gedichten Celans auch Ansätze zu einer Rede mit Gott. Ein herausragendes Beispiel dafür, dass Gott bei Celan nicht nur Gegenstand, sondern auch Adressat lyrischen Sprechens sein kann, ist der „Psalm“ – ein Gedicht, das die Gegenwart des Unendlichen provoziert, ohne seinen Namen zu nennen.
Jan-Heiner Tück, aus Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Herder Verlag, 2020
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