CHRISTINE LAVANT
Wer hat solche Ängste erfunden?
Ich werfe die Stirn von Ost nach West
und lasse die Augäpfel rollen
soweit sie nur können.
Aber es tritt keine Linderung ein
meine Haut ist überall Hölle geworden
während das Herz vor Kälte klirrt
und die Zunge sich tapfer verknotet
daß kein Schrei bis zu Dir kommt.
1956
aus: Christine Lavant: Die Bettlerschale. 7. Aufl. Otto Müller Verlag, Salzburg 2002
Von Kindheit an war das Leben der österreichischen Dichterin Christine Lavant (1915–1973) durch schlimmste Krankheiten gezeichnet: eine furchtbare Skrofulose, eine Lungentuberkulose, Schmerzdelirien und Depressionen setzten ihr zu, ihr ganzes Dasein stand – so eine Formel aus einem frühen Gedicht – unter der „Vormundschaft des Todes“. Das Ich ihres 1956 erstmals veröffentlichten Gedichts vergegenwärtigt die physischen Torturen ihrer Krankheit.
Unter der Knute des fortdauernden Schmerzes kann allenfalls der biblische Hiob seinen Glauben bewahren. Christine Lavant schlug einen anderen Weg ein: Die von ihr erfahrene Abwesenheit Gottes benannte sie in flucherfüllten „Lästergebeten“ (Ludwig von Ficker), in verzweifelt blasphemischen Beschwörungen eines Allmächtigen, der seinen Geschöpfen jedwede „Gnade“ verweigert. Die zweite Strophe des Gedichts beschwört denn auch die metaphysische Verlassenheit des Ich, das sich nicht einmal mehr Hilferufe an ein – menschliches oder göttliches? – Du gestattet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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