Ernst Jandls Gedicht „Der mann von nebenan“

ERNST JANDL

Der mann von nebenan

du siehst ihn nicht
du kennst ihn nicht
du weißt nicht was sein zustand ist
ich seh ihn nicht
ich kenn ihn nicht
ich weiß nicht was sein zustand ist
oder sieht ihn wer?
oder kennt ihn wer?
oder weiß wer was sein zustand ist?
man sieht ihn nicht
man kennt ihn nicht
man weiß nicht was sein zustand ist

1967

aus: Ernst Jandl: poetische werke 3. Luchterhand Verlag, München 1997

 

Konnotation

Dieses frühe Gedicht des radikalen Sprachartisten Ernst Jandl (1925–2000) ersetzt ganze Sachbücher über die Beziehungslosigkeit in modernen Gesellschaften. Es ist ein minimalistisches und zugleich sarkastisches Lehrstück über Entfremdung. Die völlige Kontaktlosigkeit zum jeweiligen Nachbarn oder unbekannten Mitmenschen wird hier in der Art einer Grammatikübung durchdekliniert.
Das im Mai 1967 entstandene Gedicht gehört zu den ersten Versuchen Jandls, über eine ausschließlich sprachbezogene Dichtung hinauszugelangen. Es besteht in den ersten sechs und den letzten drei Versen im wesentlichen nur aus Negationen – die drei Fragen im mittleren Teil wirken rhetorisch und lassen wenig Hoffnung auf eine positive Antwort. Der „Mann von nebenan“ bleibt auf deprimierende Weise in eine existenzielle Abwesenheit gefesselt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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