ERNST JANDL
die stimme
die stimme kommt von oben
ich fühle mich erhoben
die stimme dröhnt enorm
ich fühle mich in form
die stimme rührt mich an
ich bebe wo ich kann
die stimme hüllt mich ein
ich mag geborgen sein
die stimme wird zur glut
gefärbt von meinem blut
die stimme braust nach oben
mein rest wird abgeschoben
1995/1996
aus: Ernst Jandl: Letzte Gedichte. Luchterhand Verlag, München 2001
In seinen letzten Gedichten hat sich der radikale Sprachvirtuose Ernst Jandl (1925–2000) nicht nur dem eigenen körperlichen Verfall ausgesetzt, sondern auch sein ambivalentes Verhältnis zur Religion und zum christlichen Glauben noch einmal neu bestimmt. Sein Gedicht „die stimme“, das Mitte der 1990er Jahre entstanden ist, nimmt das Motiv christlicher Offenbarungserlebnisse auf, die vom unmittelbaren Dialog mit dem Göttlichen berichten.
Das mystisch-religiöse Gefühl des Erhobenwerdens durch die göttliche „stimme“ wird durch heiter-sarkastische Bilder konterkariert. Im letzten Zweizeiler wird die Begegnung mit der „Stimme“ als Sterbeprozess transparent gemacht. Der letzte Vers lässt dann nichts mehr übrig vom Ergriffensein, sondern benennt in lakonischer Desillusionierung den Verbleib des sterbenden Körpers. Es ist nicht mehr die Rede von „Erhebung“, sondern vom kruden Faktum des verfallenden Leibs.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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