Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Schade“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Schade

Gut, daß wir unter uns sind.
Schade, daß die anderen nicht Bescheid wissen.
Gut, daß wir einander verstehen.
Schade, daß wir nie auf das hören,
was die anderen sagen.
Gut, daß wir Bescheid wissen.
Schade, daß uns die anderen nicht verstehen.
Gut, daß wir uns einig sind.
Schade, daß die anderen nicht hören können,
was wir zueinander sagen.
Das, worauf wir uns längst geeinigt haben.
Immer dasselbe.
Schade.

2009

aus: Hans Magnus Enzensberger: Rebus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009

 

Konnotation

Zwischen Selbstberuhigung und Bedauern schwankt das lyrische Kollektivsubjekt dieses Gedichts hin und her. Der ironische Freidenker und listige Skeptizist Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), dem es immer zu langweilig war, auf festen Standpunkten zu beharren, führt hier stereotype Redeweisen mit Bekenntnis-Charakter vor, die sich durch ihre Paradoxie selbst ihrer Fragwürdigkeit überführen.
Enzensberger mokiert sich in diesem 2009 veröffentlichten Gedicht über die Gewissheiten, die aus unverrückbarer „Bescheidwisserei“ bestimmter politischer oder privater communities entstehen und dabei die Abspaltung anderer, gegenläufiger Ansichten einschließen. Um den fast autistischen Prozess der Meinungsbildung bloßzulegen, genügt es dem Autor, die bohlen Redewendungen des von sich überzeugten „wir“ in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander zu konfrontieren. Wer sich dabei beruhigt, dass man im Kollektivgesinnungsfest „unter sich“ bleiben kann und von den „anderen“ nur Akklamation erwartet, hat als Intellektueller schon versagt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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