JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Rezensent

Da hatt’ ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen.
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
„Die Supp’ hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.“
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

1774

 

Konnotation

Es ist ein wenig schmeichelhaftes Bild, das der junge Goethe (1749–1832) von den ersten „Rezensenten“, dem Anfang des 19. Jahrhunderts sich erst zaghaft ausbildenden Typus des Literaturkritikers, entworfen hat. Der Dichter der Klassik verstand sich als Originalgenie, der Kritiker galt ihm dagegen als Parasit. So publizierte Goethe am 9. März 1774 im Wandsbecker Bothen von Matthias Claudius die nachgerade berühmteste Rezensentenbeschimpfung der Literaturgeschichte.
Die Arbeit des Rezensenten wird gleichgesetzt mit einem dreisten Schnorrertum: Der unverfrorene Hausgast, der sich ungeniert beim Gastgeber verköstigt und hinterher beim Nachbarn Klage führt über die Qualitätsmängel des Essens, erscheint hier als Inkarnation des Literaturkritikers. Um ihn als Schreckgestalt denunzieren zu können, dichtet ihm Goethe einen Bund mit dem Teufel an. Auf solche diabolischen Gestalten gibt es nach Ansicht des Originalgenies offenbar nur eine adäquate Reaktion: den spontanen Totschlag. Selten ist das Ressentiment des Schriftstellers gegenüber der Kritik aggressiver vorgetragen worden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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