Jürgen Theobaldys Gedicht „Ins Winterbild“

JÜRGEN THEOBALDY

Ins Winterbild

tritt das Reh hinein,
aus dem Wald dort drüben am Hang,

ein stillerer Abschnitt
dieses Jahrhunderts,

wenn im ersten Schnee,
fast aus sich selbst heraus

die Zärtlichkeit der Tannen schimmert

und ich am Fenster lausche
der summenden Frau hinter mir,

ehe die Kinder lachend und kreischend
den Schlitten lenken über die Spur:

Sie wollen immer wieder alles,
alles besser machen als wir.

vor 2000

aus: Jürgen Theobaldy: Immer wieder alles. Gedichte. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2000

 

Konnotation

Fast könnte man wieder an eine Unversehrtheit der Natur glauben, wenn man mit dem lyrischen Ich des Dichters Jürgen Theobaldy (geb. 1944) auf dieses stille, fast idyllische „Winterbild“ blickt. Den Traum- und Symboltieren seines Gedichtbandes Immer wieder alles (2000) widmet sich der Autor in einer „Sprache der Anmut“, die sich ganz in die Betrachtung des Kleinen und Unscheinbaren versenkt. Entgegen den Traditionen der Tierfabeln haben diese Tiere nichts Parabelhaftes, sondern erscheinen als liebenswerte Verbündete des Menschen, als letzte Statthalter der verloren gegangenen Transzendenz.
Der Blick des Ich in die friedliche, von einem Reh besiedelte Schneelandschaft, in der den Tannen gar „Zärtlichkeit“ attestiert wird, scheint ganz in einem glückhaften Gewahrwerden der eigenen Gegenwart zu ruhen. Die ausgelassen spielenden Kinder verweisen den Beobachter zugleich in eine Zukunft, in der sich die Verhältnisse zwischen Alten und Jungen verschieben werden. Das in der Gegenwart uneingeschränkt souveräne Ich wird dann von den utopischen Energien der Nachgeborenen in Frage gestellt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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