KERSTIN HENSEL
Märchen-Land
Jetzt da es wohnlich wird in unserm Haus,
Die dürre Hexe durch den Schornstein geht
Und süßer Kuchen an den Fenstern klebt,
Da laden wir gemächlich Bilder aus
Der alten Kutsche die sich leichter lenkt
Wenn unbelastet sie durchs Tor geführt.
Am Kreuzweg sind die Pappeln festgeschnürt.
Das Brot im Moor, worauf wir treten, senkt
Sich tief, bis wir uns vor dem Spiegel sehn
Verwunschen und mit braunem Blut im Haar
Und weil wirs doch nicht sind, erschrecken gar
Vor der Erlösung, der wir nicht entgehn.
Ich sitz im Gold das ich zu Stroh verspinn
Und dreimal darfst du raten wer ich bin.
1988/89
aus: Kerstin Hensel: Schlaraffenzucht. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt a.M. 1990
Manchmal konstituiert sich Poesie als die schöne Kunst, das alte Geschichten-Repertoire der Märchen und Mythen auf den Kopf zu stellen. Die 1961 geborene Kerstin Hensel, die bereits als junge Dichterin in der DDR durch ihren virtuosen Umgang mit klassischen Versformen verblüffte, hat in einem Sonett aus der Wendezeit 1988/89 gleich mehrere Märchen-Klassiker zu einem ebenso turbulenten wie kauzigen Poem verwirbelt.
Das Vexierspiel der Märchen-Bilder lässt auch politische Lesarten offen, bis hin zu der kühnen Mutmaßung, dass die hier erfolgende Verkündung einer neuen „Wohnlichkeit“ und des zwangsläufigen Wegs zur „Erlösung“ auf die Turbulenzen der Wiedervereinigung anspielt. Sicher ist jedenfalls, dass zentrale Motive aus den Märchen der Brüder Grimm verdreht und in ihr Gegenteil verkehrt werden – die Geschichte von Hänsel und Gretel und der bösen Hexe ebenso wie die abenteuerliche Erzählung vom „Rumpelstilzchen“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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