Kurt Martis Gedicht „vorzug von parlamentswahlen“

KURT MARTI

vorzug von parlamentswahlen

viele               einer
für einen          für viele

aaaaaaalle
aaaaafür viele
aaaaaaviele
aaaaafür alle

nicht            noch
alle für einen      einer für alle

1959

aus: Kurt Marti: Namenszug mit Mond. Nagel & Kimche Verlag, München 1996

 

Konnotation

Der Gedanke der repräsentativen Demokratie, dass politische Entscheidungen nicht direkt durch die Bevölkerung, sondern durch gewählte „Volksvertreter“ bzw. Abgeordnete getroffen werden, wird hier von dem Schweizer Lyriker und politischen Epigrammatiker Kurt Marti (geb. 1921) in einer prägnanten lyrischen Miniatur glossiert. Der „vorzug von parlamentswahlen“ – so scheint es zunächst – wird nicht gleich polemisch delegitimiert, – sondern in ein logisches Denk- und visuelles Sprachspiel eingebunden.
Marti kritisiert den Gedanken der demokratischen Stellvertretung durch die bloße Entgegensetzung der unterschiedlichen Quantitäten „einer – viele – alle “. Denn in jedem der genannten Repräsentationsverhältnisse (z.B. „einer / für viele“) offenbart sich eine Inkongruenz. Der Schlussteil zeigt dann die ganze Schärfe von Martis Parlamentarismus-Kritik. Denn die unverbrüchliche Bruderschaft zwischen den „Vielen“ und ihren Repräsentanten, wie sie im Motto der von Alexandre Dumas erfundenen „drei Musketiere“ anklingt („alle für einen – einer für alle“). wird verworfen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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