RICHARD PIETRASS
Antwerper Sonntag
Die Autos standen wie Blei.
Die Füße lernten zu gehen.
Die Augen lernten zu sehen.
Die Ohren drehten bei.
Die Füße waren wie Blei.
Die Augen lernten zu gehen.
Die Ohren lernten verstehen.
Die Autos hatten frei.
Die Lider hingen wie Blei.
Die Ohren lernten zu sehen.
Die Füße bekamen Zehen.
Die Daumen drehten bei.
Die Ohren verloren ihr Blei.
Die Füße gingen auf Zehen.
Den Augen kam Hören und Sehen.
Die Schiffe drehten bei.
nach 2000
aus: Richard Pietraß: freigang. Faber & Faber Verlag, Leipzig 2006
Ein „Freigänger“, sofern man den Begriff im juristischen Sinne versteht, kann seine Freiheit nur befristet genießen und weiß um seine Gefangenschaft, die nur vorübergehend aufhebbar ist. Der „Freigänger“ des sächsischen Dichters Richard Pietraß (geb. 1946) ist ein Mann der ironischen Ambivalenzen. Vorbehaltloser Jubel angesichts der Schönheiten der Welt ist ihm ebenso wenig möglich wie prinzipieller Skeptizismus. So doppelbödig wie die Titel seiner Gedichtbände ist auch sein Spiel mit der Tradition. Virtuos wie kaum ein anderer Autor inszeniert Pietraß mit seinem humorbereiten „Schalkschädel“ eine nach wie vor frisch wirkende Reim-Artistik.
Der „Antwerper Sonntag“, in den das lyrische Subjekt des Gedichts hier hineingerät, ist zunächst gleichbedeutend mit der Erfahrung eines absoluten Stillstands. In der Form eines sehr freien Rondos zeigt Pietraß die Auswege, die aus der Ödnis einer überfüllten Autobahn und einer universellen Erschöpfung möglich sind. Nach dem Stillstands-Befund der ersten Gedichtzeile werden Möglichkeiten dynamischer Selbstbefreiung durchgespielt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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