ROBERT WALSER
Will eine feine Frau man sein
Will eine feine Frau man sein,
so darf man nicht ermatten,
Mitleid zu haben mit dem Gatten,
man muß ihn schätzen, einerlei,
ob Sonnenschein sein Wesen sei, ob Schatten.
Will man ein artig Männlein sein,
so muß man seine Gattin loben,
und sei sie noch so sehr verschroben.
Gleichviel, ob Mann, ob Frau man heißt,
wer, was ihm nahsteht, runterreißt,
dem fehlt’s im Oberstübchen oben.
nach 1925
aus: Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1925. Band 2: Gedichte und dramatische Szenen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1985
Das lyrische Spätwerk des Schriftstellers Robert Walser (1878–1956), der mit seinen Romanen und „Prosastückli“ als bedeutendster Schweizer Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann, hat seine Exegeten und Bewunderer sehr verwirrt. Vielerorts wollten die Leser der späten Walser-Gedichte nur literarische Naivität und Unbeholfenheit am Werk sehen. Als „in sich ruh’nde Laus“ hat Walser jedoch die lyrischen Konventionen subtil ausgehebelt und sich gerne diverser Rollen und Maskeraden bedient.
Das nach 1925 entstandene Gedicht spricht aus der Perspektive eines betulichen Eheratgebers, der orientierungshungrigen Eheleuten sehr zweifelhafte Verhaltenstipps liefert. Das Lob um jeden Preis, das man dem Ehepartner zu spenden hat, soll sich mit einem Bravheits-Ethos und einer Empfindung verbinden, die sich tödlich auf jede vitale Liebesbeziehung auswirken dürfte: „Mitleid“. Die Überbetonung einer Ehemoral, in der jede Abweichung vom Lob des Ehegatten als Verrücktheit gebrandmarkt wird, kann man aber auch als ironisches Maskenspiel des Autors lesen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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