SILJA WALTER
Im Regen
Der Tag ist blaß vom Regen.
Man geht und kommt nicht weit.
Ich trage deinetwegen
Viel Traurigkeit.
Ich gehe mit hängenden Händen
Den Rändern nach zum See.
Dort unten muß alles enden,
Leid und Allee.
Wie reiten tief die Vögel!
Sie lassen vom Winde sich drehn.
Der Regen zerschlägt die Segel,
Mich lässt er stehn.
vor 1950
aus: Die Fähre legte sich hin am Strand. Lesebuch. Hrsg. von Klare Obermüller. Arche Verlag. Zürich-Hamburg 1999
Durch das poetische Werk der 1919 geborenen Benediktinernonne und Dichterin Silja Walter verläuft eine markante theologische Grenzlinie. Ihr nach dem Eintritt ins Kloster Fahr entstandenes Werk dient ganz der Verkündung ihrer christlichen Überzeugungen und ruht in klösterlicher Spiritualität. Aber die zwischen 1940 und 1948 geschriebenen Gedichte zeigen eine andere Seite der Autorin – die Suchbewegung eines Ichs, das zerrissen scheint von vielen Traurigkeiten.
Mithilfe der Volksliedstrophe Heinrich Heines intoniert die Dichterin das Sehnsuchtslied eines von Seelenleid zermürbten Ichs. Dieses Ich ist in eine Art Lähmung verfallen, kaum vermag es sich in der vom Regen eingetrübten Landschaft fortzubewegen. Was hier als melancholische Disposition sichtbar wird, hat Silja Walter nach eigenem Verständnis in ihrer späteren Lyrik überwunden – durch den Glauben gelangte sie zu einer neuen Festigkeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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