EMILY
Während die ehrgeizige Charlotte, die noch, als sie
in Bridlington zum ersten Mal das Meer sah,
die Fassung verlor, in Tränen ausbrach, auf der
gemeinsamen Kanal-Überfahrt nach Ostende
unter Deck in der Kabine – ihr ist übel – steif in ihrem
gestärkten Nachthemd liegend, wünscht,
sie hätte diese vermaledeite Reise nach Brüssel
nie angetreten – sie versucht in der Koje verzweifelt,
den Gang der unbarmherzigen Wellen auszugleichen,
steht sie an Oberdeck, eine sehnige Hand auf der Reling,
die andre am Fall, die Beine breit gestiefelt, verspielt
sich in den Hüften wiegend, mit dem Meer im Tanz,
grad so wie ihr Gondal-Alter-Ego William Parry,
Rear-Admiral, mit vereistem Gesicht auf dem Weg zum
Nordpol, zur Nordwestpassage, trotzend den Stürmen,
den Blick voraus, die Augen gegen den Wind, der ihr
in dieser wilden Gestalt aus Moor und Heide bereits
so lang vertraut ist, gegen die abreißende Gischt,
den klabauterhaft urnherwirbelnden, beißenden
Rauch verengt, und sehr tief atmend mit heftiger Brust.
Das Meer geht tief in die hinein, die sich verweigern.
Grimmige Begeisterung liegt in ihrem Blick, auch sie
brach auf zu einem Ausbruch aus der so furchtbar
begrenzten, armseligen Welt.
Die vom Friedhofsgestank erfüllten, eisigen Mauern
des Pfarrhauses hinter sich lassend, jauchzt sie
diesem Meer entgegen, das jung ist wie sie.
Es ist so unendlich und noch viel wilder als ihre
unheimlich heimatliche Heide, mit der die Moore
zu Hause erst braun, dann lila überzogen sind.
Der Moment scheint mir günstig, ich trete zu ihr,
sie blickt mich an, als wachte sie auf, ich lächle, sie
lächelt zurück, blickt wieder hinaus.
Ich muss meine Stimme erheben, damit sie mich hört.
Ich erzähle von meiner Heide zu Hause, vom Grasmoor,
von meiner Begrenztheit und meiner Leidenschaft,
von meiner Verweigerung und meinen Ausbrüchen.
Dann erzähl ich ihr von meinem Meer. Und sie,
sie sieht mich an und tastet nach meiner kalten Hand.
zeichnet das Porträt des Dichters als das eines Reisenden und lyrischen Landvermessers. Das Konzept lautet schlicht und überzeugend: Notate an Orten! Orte, die immer auch eine literatur- oder kunstgeschichtliche Tiefendimension besitzen. Das Instrument Gedicht dient diesem feinsinnigen und lebenslustigen Entdecker als Kompass und Wünschelrute zugleich. Begangene Orte werden überprüft auf ihre Lebens- und Liebestauglichkeit. Es handelt sich um die ebenso einladende wie inspirierende Verbindung von bio- und topografischer Lyrik.
Quintus Verlag, Ankündigung
Timo Brandt: Zu Mathias Jeschke: Nehrung, Lapidarium
lyristix auf instagram, 19.4.2023
Mathias Jeschke liest sein Gedicht „Gedenktag“ beim Internationalen Gipfeltreffen der Poesie am 23.10.2012 im Literaturhaus München.
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