Peter Demetz: Zu Walter Hasenclevers Gedicht „Die Lagerfeuer an der Küste“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walter Hasenclevers Gedicht „Die Lagerfeuer an der Küste“ aus Walter Hasenclever: Sämtliche Werke. Band I: Lyrik. –

 

 

 

 

WALTER HASENCLEVER

Die Lagerfeuer an der Küste

Die Lagerfeuer an der Küste rauchen.
Ich muß mich niederwerfen tief in Not.
Leoparden wittern mein Gesicht und fauchen.
Du bist mir nahe, Bruder, Tod.
Verworren zuckt Europa noch im Winde
Von Schiffen auf dem fabelhaften Meer;
Durch die ungeheure Angst bricht her
Schrei einer Mutter nach dem kleinen Kinde.
Es starb mein Pferd heut Nacht in meiner Hand.
Wie hast Du mich verlassen, Kreatur!
Aus dem Kadaver steigt das fremde Land
Hinauf zu einer andern Sonnenuhr.

 

Ein Abenteurer auf der Flucht

Den Namen Walter Hasenclever hörte ich in unserer Wohnung, ehe ich noch lesen konnte, denn mein Vater, der Dramaturg, inszenierte Hasenclevers Drama Der Sohn als erster auf der Bühne des Prager Landestheaters, mitten im Ersten Weltkriege. Das freute ihn sein Leben lang (denn Hasenclever hatte ihm einen langen Brief geschrieben, wie die Hauptfiguren aufzufassen wären), und die Literaturgeschichten rühmten das Stück dann als Revolutionssignal des Expressionismus. Wenn ich später, alle zehn Jahre einmal, in den Anthologien blätterte und nostalgisch auf eines von Hasenclevers Gedichten stieß, war es mir immer, als hätte ich einen sprühend elektrischen Draht berührt. Achtung, Hochspannung!
„Die Lagerfeuer an der Küste“, das im Mai 1914 entstandene erste Gedicht seiner Sammlung Tod und Auferstehung, hat auf den ersten Blick nichts Expressionistisches, weder Rufzeichen, Schrei noch Gemeinschaft. Der junge Hasenclever verehrte Goethe, und die Prägung des traditionellen Gedichtes, drei Strophen zu vier Zeilen, die regelmäßige Anordnung seiner Reime (alternierend, umarmend und wieder alternierend) sind, mitsamt den fünffüßigen Jamben, nicht schwer zu entziffern. Das Besondere dieses und der meisten seiner anderen Gedichte ist das dramatische, ja sprunghafte Moment einer Um- und Wiederkehr, ein entscheidender Atemzug, der das Selbst aus Zerstreuung und Not in Welt und Gesellschaft zu sich selber zurückbringt und das Gedicht, wie einen Monolog, in einem unaufhaltsamen Elan vorantreibt.
Der flüchtende Abenteurer ist eine der Gestalten des Sohnes Hasenclever, der seinem strengen Vater in die Boulevards, Freudenhäuser und in den Lärm der Börsen entweichen will, und ich stelle mir die Szene dieses Gedichtes so vor – eine Rotte von Glücksrittern, Eindringlingen, Soldateska, gelandet am Gestade eines neuen Kontinents, wie des Cortez’ Leute in der Brecht-Ballade oder die Söldner im Film Aguirre von Werner Herzog und Klaus Kinski, aber einer hat sich von ihnen gelöst, von den „Lagerfeuern“ und den „Schiffen“, als einziger von dem anderen und den anderen. Er fühlt die unmittelbare Drohung des neuen Ortes schutzlos und unmittelbar: das Fauchen im Dschungel, den Bruder Tod.
Frühere Leser des Gedichts wären versucht gewesen, von einer Grenzsituation zu sprechen, jüngere eher von einem Bewußtsein „sur l’abîme“, über einem Abgrund, in dem plötzlich die Entfernung von Europa nur noch in den Winden zuckend, die Erinnerung an eine Frau und ihr Kind durch die „ungeheure Angst“ des Einsamen sichtbar wird. Die letzte Kreatur, die ihn noch mit anderen Kreaturen verknüpfte, ist tot, aber aus ihrem „Kadaver“ steigt der Entschluß, das Abenteuer selbst und ganz allein zu wagen, in einem Landstrich fremder Gebirge und ganz anderer Zeiten.
Ich wünschte mir nur, die Abenteuer der Poesie und die der realen Geschichte wären nicht so unversöhnlich voneinander getrennt. Im Juni 1940 befand sich Hasenclever im südfranzösischen Internierungslager Les Milles, die Spanienkämpfer im Lager bereiteten einen gemeinsamen Ausbruchsversuch vor, komme, was da wolle, und legten Hasenclever nahe, sich an ihrem Unternehmen zu beteiligen. Er war ohne Hoffnung, „ein trauriger Mischling“ (wie er in einem späten Briefe schrieb), nicht einmal ein ganzer Jude, wollte nicht mitmachen und nahm die Dosis Veronal, die er für den letzten Augenblick aufgespart hatte.

Peter Demetzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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