BERICHT VOM 27. SEPTEMBER
das standrecht ist ausgerufen, so
wird der wald erschossen, letzte
zigarette für die geraden, stämmigen.
der himmel streckt feuer her,
ein zug durch die wipfel.
der sanfte nachmittag
fällt um. lange
schlagen die schatten
hin, noch.
– Eine Anmerkung zu Rolf Bossert. –
VERLETZTES LIED
Mein Aug blieb weg, so
Gabs keinen Schlag. Wer
Rührte mich an: Der
Mitternachtstag. Die Knie
Ein Scharnier sind
Sauber geölt. Ich
Stürze aufs Pflaster und
Fall auf die Welt. Die Kälte
Schneidet den Kiefer
Entzwei. Jetzt
Wohnt mir im Mund
Ein singender Brei. Das Auge1
Ich werde den Druck seiner Hand nicht vergessen. Den Druck seiner Hand, die er mir gab, als wir uns kennenlernten und den unbedingten Blick, mit dem er mich ansah.
Ein Händedruck, ein Blick, die für mich an die, die ihm begegneten, die Frage stellten: Was bist du für einer, kann ich dir trauen? Kann ich mich auf dich verlassen? Ein Händedruck aus einer anderen, mir damals unbekannten Welt. Was wußte ich über die Verhältnisse in Rumänien? Rumänien war ein Land hinter dem Eisernen Vorhang. Ceausescu und sein Geheimdienst Securitate waren damals an der Regierung, ein brutales Regime, das sich nur schwer mit den Koordinaten Diktatur und sowjetischer Einflussbereich verorten ließ. Verhöre, Zensur und Überwachung standen auf der Tagesordnung.
Ich bin Rolf Bossert nur dreimal, im Winter 1985, nachdem er als sogenannter Spätaussiedler aus Rumänien nach Westberlin gekommen war, begegnet. Vorgestellt wurde er mir von Gerhardt Csejka und Ernest Wichner, die sich nach seiner Ankunft in Westberlin um ihn kümmerten. Bei einer zweiten Begegnung traf ich ihn zufällig, wenige Tage später, alleine auf dem Ku’damm, wo er mir von ersten Eindrücken erzählte, die ihn in Westberlin erreicht hatten.
Eine dritte, letzte Begegnung, kam dann bei einer Veranstaltung im Literarischen Colloquium im Februar 1986 zustande: Die Uneinigkeit der Einzelgänger, eine Veranstaltung, zu der damals viele AutorInnen gekommen waren, bei der es Werkstattgespräche und Lesungen gab. Es waren kurze Begegnungen, die aber einen bleibenden Eindruck in mir hinterlassen haben.
Am 17.2.1986, wenige Tage nach der Veranstaltung, stirbt Rolf Bossert in Frankfurt. Sein Tod bleibt geheimnisvoll. Was mag in ihm vorgegangen sein, als er morgens gegen 6 Uhr sterbend auf dem Pflaster unter einem offenen Fenster lag? Ist ihm alles zu viel geworden? Hat er gemerkt, dass er in seiner neuen Heimat, der Bundesrepublik, nicht würde ankommen können? War es eine spontane Entscheidung, aus dem Fenster zu springen? Hat, auch das wurde nach seinem Tod spekuliert, jemand nachgeholfen? Ob er ohne Fremdeinwirkung aus dem Fenster gesprungen ist, oder ob dabei nachgeholfen wurde, ließ sich damals nicht ermitteln. Gerade das hat natürlich Spekulationen Raum gegeben. Die Krakenarme der Securitate reichten bis nach Westberlin, bis nach Frankfurt, das ist erwiesen. Die Ursachen und Gründe für seinen Tod werden unaufklärbar bleiben, so viel ist sicher.
Ich gab damals, gemeinsam mit Ronald Glomb und Lothar Reese, ein Jahrbuch für junge Lyrik heraus. Rolf Bossert ist in zwei Jahrgängen vertreten, das „Verletzte Lied“ war das erste Gedicht, das wir von ihm erhalten und ausgewählt haben. Dieses Gedicht ist bis heute wichtig für mich.
Ich sehe die Manuskripte noch vor mir, die uns damals, Anfang bis Mitte der Achtziger Jahre erreichten: Schnell gedunkeltes Durchschlagpapier, auf dem die Stanzen der manuellen Schreibmaschinen sichtbar waren, notdürftig hier und da mit Bleistift oder Kuli verbessert, wo es sein musste. Mehrere Ordner voll mit solchen Manuskripten haben wir, die Herausgeber, damals gesichtet und versucht, daraus eine in sich stimmige, möglichst repräsentative Auswahl zu treffen, die die rumäniendeutsche Literatur ebenso zu berücksichtigen trachtete wie die aus Westdeutschland, Österreich, aus der Schweiz, aus Luxemburg, aus Dresden oder Ostberlin.
Rolf Bossert gehörte zu einer Gruppe, die sich Aktionsgruppe Banat genannt hatte. Schulfreunde, die die gemeinsame Lust an der Literatur zusammengebracht hatte, hatten diese Gruppe gegründet. Rolf Bossert, Gerhard Ortinau, Richard Wagner, Johann Lippet, Werner Kremm, Anton Sterbling, William Totok und Ernest Wichner gehörten dazu. Herta Müller stand der Gruppe nahe. Oskar Pastior war, als die Gruppe im Sommer 1971 gegründet wurde, bereits in Deutschland.
Was wir von ihm noch haben, sind „Verletzte Lieder“, die gleichzeitig die Lieder eines von den Verhältnissen, unter denen er leben musste, zu Tode Verletzten sind.
Angerührt vom „Mitternachtstag“, einer grundlegenden Metapher für die Zeitzustände nicht nur in seinem Herkunftsland Rumänien, stürzt er aufs Pflaster und fällt auf die Welt. Der Kiefer entzwei geschnitten, im Mund ein singender Brei.
1981 wurden Bossert und sein Freund Klaus Hensel auf offener Straße zusammengeschlagen, so dass Bossert einen doppelten Kieferbruch davontrug. Noch Wochen später war er unfähig, normal zu essen, zu trinken und zu sprechen. Dass diese Tat von Securitate-Mitgliedern verübt wurde, ist wahrscheinlich, aber konnte damals offiziell nicht nachgewiesen werden.
Die Grundmetapher, das Auge, das am Anfang und am Schluss, wie in einem sich schließenden Kreis auftaucht, bleibt isoliert zurück, steht für eine in sich mehrfach gebrochene Wahrnehmung, die auf nichts außer sich hoffend verweisen kann. Das, was in diesem Gedicht auch harmonischer Endreim hätte sein können, ist zum Binnenreim zurückgedrängt, so dass die Zeilenenden flattern, kein wohlklingendes Lied, in einfachen, sich reimenden Strophen, mehr ergeben können.
In meiner Vorstellung gut möglich, dass es diese Zeilen waren, die ihm durch den Kopf gingen, als er sterbend in Frankfurt auf dem Pflaster lag. Die Metaphern, im Schreibvollzug noch offen gesetzt, gehen den eigenen Erlebnissen nach und kündigen zudem an, dem Stürzenden selbst möglicherweise nicht voll einsichtig, dass er selbst es ist und sein wird, der ihre Setzung erfüllen muss. Ach, könnten die Metaphern doch im symbolischen Raum verbleiben, mahnend gemeint sein und nichts weiter, so dass es nicht die Körper sein müssen, die unter dem Klang des Geschrieben-sein-müssens zerbrechen! Dieses offene Ende, in dem uneinsichtig bleibt, was denn mit diesem für sich stehenden Auge weiterhin ist, wohin es stürzt, blickt, was mit ihm geschieht, ein jähes uneinholbares Ende, das den Text mit seinem Anfang verbindet…
Schon an seinen frühen Gedichten mag ich die harten Kanten seiner Formulierungen, die Alltagswahrnehmungen, die sich zu einem umfassenderen Bild verdichten, zu einer Seelenlage, die auch heute noch Einblick gibt in eine inzwischen versunkene Welt, die zu formulieren und durchzustehen, das spürt der Leser, viel Kraft gekostet hat. Harte Kanten, die sich zum Ende hin bis zur Verzweiflung steigern und diesen Gedichten einen sehr eigenen Ton verleihen. Leider hat Rolf Bossert den Mitternachtstag nicht mehr in Richtung einer möglichen Morgenröte verlassen können.
Was mir gefällt ist auch die bissige Selbstironie, zu der der Autor fähig war. Viele Zeilen gewinnen durch ihre Widerborstigkeit, die durch einen eher harten Sprachrhythmus getragen werden, an Substanz.
So begegnet mir der Dichter in seinen Gedichten heute noch einmal. In meiner Bibliothek finde ich die damals bei Rotbuch veröffentlichte Ausgabe Auf der Milchstraße wieder kein Licht, die seine erste Veröffentlichung im Westen war. Inzwischen hat der Verlag Schöffling & Co eine schön edierte Ausgabe seiner Gedichte Ich steh auf den Treppen des Winds, (2006) herausgegeben von Gerhardt Csejka, veröffentlicht. Zudem ist der Band Um den Preis einer Vorsilbe, eine Auswahl, herausgegeben von Ernest Wichner, (2009) im Hochroth Verlag erschienen.
Geblieben ist in meiner Erinnerung dieser sehr besondere Händedruck, das Unbedingte seines Blickes und die Gedichte, die wir zum Glück von ihm haben. Sie transportieren ein Leben und eine Zeit in einem durch die lange Herrschaft des Diktators Ceausescu damals verwüsteten Land. Inzwischen, seit dem 1. Januar 2007, ist Rumänien Mitglied der EU. Vom 1. Januar bis 30. Juni 2019 hat es zum ersten Mal den Vorsitz des Rates der EU inne.
Rumänien gilt neben Polen und Ungarn als der dritte Problemstaat innerhalb der EU, was die rechtsstaatliche Entwicklung angeht. Die amtierende sozialdemokratische Regierung, (der PSD), die als „Sammelbecken der ehemaligen Nomenklatura, der Verwaltungsbeamten und Leiter staatlicher Wirtschaftsunternehmen“ (Süddeutsche) gilt, will das Korruptionsstafrecht lockern, so dass wegen Korruption verurteilte Politiker und andere, die durch Vetternwirtschaft und Vorteilnahme die Macht in Händen hielten, durch eine weitgehende Amnestie, vor Strafe geschützt würden. Die EU denkt in diesem Falle, ähnlich wie gegenüber Polen, über ein Rechtsstaatsverfahren nach.
Schon das hat das Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU, das im Mai in Sibiu stattfand (Herrmannstadt, dem früheren Hauptort Siebenbürgens) auf Einladung des rumänischen Präsidenten Klaus Johannis, der dort 14 Jahre lang Bürgermeister war und sich bisher geweigert hat, ein dementsprechendes Gesetz zu unterzeichnen, zu einer heiklen Mission werden lassen. Denn seine Weigerung steht für umfassendere Bedenken.
Ein Großteil der Bevölkerung hofft auf die EU, auf ihre Werteordnung, ihre Rahmenbedingungen, ihre Zusagen und Versprechen – die Mitgliedschaft in der EU wird hier als Teil einer zukunftsträchtigen Lösung begriffen, das sollte trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht vergessen werden. Rolf Bossert und die anderen rumäniendeutschen Autoren haben einen wichtigen Beitrag zu den damaligen Veränderungen, hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, geleistet. Auch hieran sei erinnert, wenn wir Rolfs Gedichte heute wieder lesen. Rolf Bossert ist und bleibt ein Dichter, den es wiederzuentdecken, den es zu entdecken gilt. Er ist ein wichtiger Dichter meiner Generation.
Thomas Krause: „Ach meine Jungfernreise um den Preis einer Vorsilbe.“ Reschitza, Bukarest, Frankfurt am Main Rolf Bosserts Gedichte der Zerrissenheit.
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag des Autors.
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung (online) zum 35. Todestag des Autors.
Auf den Treppen des Windes: Eine lyrisch-musikalische Hommage auf Rolf Bossert. Aufführung am 14.10.2021 im Deutschen Staatstheater Temeswar.
Schreibe einen Kommentar